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Jüttner: Krise der SPD durch Kurswechsel Schröders

Müller: Die SPD also am Scheideweg: zurück zu einer traditionellen arbeitnehmerfreundlichen Verteilungs- und Umverteilungspolitik, oder ein Festhalten, eine Weiterentwicklung der Reformagenda 2010, verbunden mit den bekannten schmerzlichen finanziellen Einschnitten auch gerade für diejenigen mit geringem Einkommen? Eine Frage, die die Führungsspitze der Sozialdemokraten nach den jüngsten Wahlschlappen mehr denn je beschäftigt. Gestern hat Parteichef Franz Müntefering die Antwort darauf in etwa so formuliert: "Weiter so mit dem Reformkurs, aber doch nicht so ganz."

    Am Telefon sind wir nun verbunden mit Wolfgang Jüttner, SPD-Landeschef in Niedersachsen. Guten Morgen!

    Jüttner: Guten Morgen Herr Müller.

    Müller: Herr Jüttner, war das gestern die Wiedergeburt der alten SPD?

    Jüttner: Nein. Wiedergeburt war nicht notwendig, weil niemand gestorben ist. Wenn Sie mit Wiedergeburt suggerieren, als seien alle Probleme beseitigt, so stimmt das auch nicht. Wir stecken in einer schwierigen Krise, in 141 Jahren nicht die erste, nicht die letzte, aber in der SPD ist so viel an Ideengut, an Kampfkraft, an Optimismus, dass uns das nicht umhaut. Wir werden schon wieder auf die Füße kommen, schneller als der politische Gegner glaubt.

    Müller: Wissen Sie denn, Herr Jüttner, warum diese Krise auf die SPD zugekommen ist?

    Jüttner: Ich denke das hat mit dem überfälligen Reformbedarf in Deutschland zu tun. Sicher kommt verschärfend hinzu, dass die CDU-Regierung es lange unterlassen hat und auch unter der SPD/Grün-Regierung das die Bevölkerung relativ unvorbereitet traf. Es ist nicht vorbereitet worden und das hat den Eindruck erweckt, als ginge es drunter und drüber in Berlin. Von daher stecken wir in einer Glaubwürdigkeitskrise. Das ist ja erkennbar gewesen am letzten Sonntag. Das wieder wett zu machen, ist ein bisschen komplizierter, als mal eben irgend ein neues Thema zu erfinden.

    Müller: Warum hat der Kanzler die Vorbereitung dieser Reformen nicht gut abgeschlossen beziehungsweise nicht gut vorbereitet?

    Jüttner: Das müssen Sie den Kanzler fragen. Die Partei war in großen Teilen relativ unvorbereitet auf diesen relativ kurzfristigen Kurswechsel, wie er mit der Agenda geschehen ist. Ich will aber gleichzeitig darauf hinweisen, dass in diesem Agenda-Prozess ja nicht nur Umbaumaßnahmen im sozialen Bereich stecken, sondern beispielsweise Zusagen hinsichtlich der Ausbildungspflicht für sämtliche Jugendliche in Deutschland. In der Agenda 2010 steckt ein kommunales Investitionsprogramm. Die Verkürzungen auf die sozialen Aspekte sind unangemessen und bringen eine Schieflage rein. Deshalb ist die Alternative heute auch nicht Reformpolitikfortsetzung oder ein Zurück, sondern es geht um die Frage, wie die Reformpolitik, die ohne Alternative ist, ausgestaltet wird. Für wen ist sie da, wie nimmt sie alle gesellschaftlichen Gruppen mit. Da ist glaube ich das Thema, was wir vor uns haben. Dass dort Akzentuierungen und hier und da auch Nachjustierungen notwendig sind, der Meinung bin ich in der Tat.

    Müller: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Jüttner, haben Sie gesagt, dass Gerhard Schröder bei der Reformpolitik der SPD der Partei geschadet hat?

    Jüttner: Nein, das haben Sie jetzt reingelegt.

    Müller: Wie haben Sie es denn gemeint?

    Jüttner: Gerhard Schröder hat Dinge für notwendig gehalten und dann relativ direkt durchgesetzt und die sind in der Bevölkerung als kurzer, abrupter Politikwechsel begriffen worden und die SPD ist dafür abgestraft worden. Das ist in der Tat richtig.

    Müller: Und die SPD hat das auch nicht so richtig begriffen?

    Jüttner: Die SPD hat zu tun gehabt, sich das anzueignen, und hat allerdings das, was der Bundeskanzler vorgeschlagen hat, auf zwei, drei Parteitagen dann auch abgesegnet.

    Müller: Also Franz Müntefering ist für die SPD der bessere Partner?

    Jüttner: Ich glaube, dass die Konstellation, wie wir sie gegenwärtig haben, gut ist. Franz Müntefering hat die Zeit, hat die Kraft und hat das Auge, der Partei das zu geben was sie braucht, nämlich dass sie hinreichend ernst genommen wird, dass sie beteiligt wird, dass, wie er es auch gestern formuliert hat, offen öffentlich diskutiert wird. Seele streicheln sagen die Journalisten dazu. Eine Partei, die heute regiert und derartig gravierende Veränderungen in einer Gesellschaft organisieren muss, die muss auch so behandelt werden, dass sie ihre Gestaltungskraft behält und dass die Motivation in der Partei vorhanden ist.
    Ich will nur darauf hinweisen: Von den über 600.000 Mitgliedern sind eine Hand voll berufstätig als Politiker. Der Rest macht das ehrenamtlich. Vor dem Hintergrund muss so eine Partei auch entsprechend behandelt werden.

    Müller: Herr Jüttner, wir haben ja gestern bei der Rede von Franz Müntefering häufiger das Wort "Akzentuierung" gehört. Damit ist ja nicht eine Veränderung der Sprachmelodie gemeint, sondern es geht ja im Grunde um neue Politiken sozusagen. Die neue Politik der SPD hat als erstes, was jetzt herausgekommen ist, sich eine Steuererhöhung verschrieben. Ist das sinnvoll?

    Jüttner: Herr Müntefering hat darauf hingewiesen, dass es nicht nur um Vermittlungsprobleme, sondern um Akzeptanzprobleme geht und von daher ein paar Punkte in den Mittelpunkt gestellt. Der Ausgangspunkt, auf den ich hinweisen will, ist, dass er einklagt, dass die bundesstaatliche Ordnung so abgeändert wird, dass mal endlich erkennbar wird, wer wofür verantwortlich ist. Ich will darauf hinweisen, egal ob es Zahnersatz ist im nächsten Jahr oder die Konsequenzen bei Hartz IV, die sich negativ auf die Arbeitslosenhilfeempfänger auswirken, das sind Interventionen des Bundesrates. Wenn man das mal geradezieht ist klar, was verantwortet die Regierungspartei und was die CDU über ihre Mehrheit im Bundesrat.
    Zum Thema Steuern will ich darauf hinweisen, dass eine Mindestbesteuerung von Unternehmen im letzten Jahr im Verfahren war und die CDU, die jetzt aufheult beim Thema Vodafone, über den Bundesrat diese Regelung mit 50% verhindert hat. Zum Thema Erbschaftssteuer gibt es eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts. Hier ist eh Klärungsbedarf und ein Blick über die deutschen Grenzen macht deutlich, dass eine angemessene Erbschaftssteuer in den meisten Ländern Gang und Gebe ist. Die Art und Weise wie eine Steuerdebatte in Deutschland geführt wird finde ich ganz kurios.

    Müller: Die SPD will aber die Steuern erhöhen?

    Jüttner: Nein. Die SPD will eine geordnete Erbschaftssteuer und sie will eine Mindestbesteuerregelung, die ich absolut für angemessen halte.

    Müller: Das ist eine Steuererhöhung?

    Jüttner: Im Kern geht es um die Frage, wie soll ein Gemeinwesen sich repräsentieren. Soll es in der Lage sein, die öffentlichen Güter auch bereitstellen zu können. Darüber müssen wir mal reden. Welche Aufgaben hat der Staat? Er muss sie effizient bearbeiten; das ist keine Frage. Aber wer den Staat auf null bringt - und ich habe den Eindruck, dass aus konservativer Sicht das in der Tat probiert wird -, der muss wissen, dass er den sozialen Kitt in dieser Gesellschaft zerschlägt. Ich halte das für ein riesiges Problem. Insbesondere die schwächeren Teile der Gesellschaft brauchen einen Staat, der handlungsfähig ist: zur Bereitstellung der Infrastruktur, bei Straßen, bei Schulen, im sozialen Sektor. Das sind die Fragen, um die es geht und wo es auch dramatische Alternativen gibt zwischen SPD auf der einen Seite und CDU/FDP auf der anderen Seite.

    Müller: Herr Jüttner, ich muss noch eine Frage zum Schluss los werden. Es geht ja um staatliche Investitionsprogramme. Sie hatten das gerade auch angesprochen. Niemand weiß, wie das finanziert werden soll. Wissen Sie es?

    Jüttner: Nein, das ist ein Problem. Es ist die Frage, wie geht man mit den Maastricht-Kriterien um. Man kann es sich ganz leicht machen wie die frühere Bundesregierung. Die hat immer unterstellt, dass Investitionsprogramme im Zweifel sich selbst tragen, weil sie dann auch Arbeitslosigkeit senken und darüber auch Steuereinnahmen realisiert werden. Das ist in Teilen richtig. Ob das immer aufgeht, ist sicherlich kritisch zu diskutieren.

    Müller: Wolfgang Jüttner war das, SPD-Landeschef von Niedersachsen. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!