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Jugend im Verborgenen

Biologie. - Zwei tiefe Buchten im Südwesten von Tokio bergen einen zoologischen Schatz. Hier leben – in rund 100 Metern Tiefe – Seelilien. Sonst findet man diese im Boden verankerten Tiere nur unterhalb von 400 Metern Wassertiefe. Wegen dieser der "Welt entzogenen" Lebensweise hat die Wissenschaft bislang noch nie ihre Jugendstadien gesehen. Japanischen Forschern konnten jetzt zum ersten Mal die Jugendstadien der Seelilie im Labor züchten und beobachten. Wie sich die "Seelilien-Babys" entwickeln und was sich daraus für die Evolution von uns Wirbeltieren ablesen lässt, damit beschäftigt sich in dieser Woche die Zeitschrift "Nature".

    Von Dagmar Röhrlich

    Die graziösen Seelilien mit ihren biegsamen Stengeln und dem blütenförmigen Tentakeln, gehören zu den ältesten Lebewesen auf der Erde. Sie bringen es auf mehr als 500 Millionen Jahre. Aber weder fossil noch bei lebenden Tieren im Meer ist es bislang gelungen, etwas über die Kindheit dieser Echinodermen, dieser Stachelhäuter, zu erfahren. Wie das Leben der Seelilien beginnt war unbekannt, während es bei anderen Stachelhäutern wie Seesternen, Seeigeln oder Seegurken sehr gut erforscht ist. Aber gerade das Larvenstadium der Seelilien interessiert die Forscher, denn sie sind die primitivsten Vertreter dieser Gruppe. Was die japanischen Forscher von der Universität von Tokio in ihrem Labor gesehen haben, das beschreibt Thurston Lacalli, von der Universität Victoria im kanadischen British Columbia:

    Die japanischen Forscher fanden heraus, dass die Embryonen und Larven der Seelilien sich wie die anderer Stachelhäuter entwickeln. Genau wie bei den anderen Stachelhäutern haben die Larven der Seelilien zunächst Wimpernbänder, die wie ein Ohr geformt sind. Anders als bei dieser Larvenphase von Seesternen oder Seegurken fressen die Seelilien-Larven in diesem Stadium nicht. Da aber die Morphologie dieser Larven genau gleich ist, vermuten wir, dass die Seelilien früher einmal auch ein fressendes erstes Larvenstadium gehabt haben, dass also ihre "spartanische" Lebensweise eine sekundäre Entwicklung ist. Das heißt, dass die Form der fressenden Larve weit zurückreicht in die Evolution der Stachelhäuter.

    Nach sechs bis zehn Tagen macht die junge Seelilie – ebenso wie ihre millimeterkleinen Cousinen der anderen Stachelhäuterarten – eine erstaunliche Veränderung durch. Die bis dahin ohrförmig angeordneten Wimpernbänder brechen auf und gruppieren sich innerhalb kurzer Zeit zu Ringen um. Auch diese Form ist typisch für alle jungen Stachelhäuter. In dieser Entwicklungsphase können die Tiere dann vergleichsweise schnell schwimmen. Es ist die Zeit, in der sich die "ortsbeständigen" Arten einen Platz zu suchen, um ihre sesshafte Lebensweise zu beginnen. Die Seelilien als primitivste Vertreter teilen also ihre Larvenformen mit allen anderen Stachelhäutern – und das liefert einen Einblick in die Arbeit der Evolution. Lacalli:

    Das ist schön für die Stachelhäuter, könnte man sagen, aber was bedeutet das für mich? Die besondere Bedeutung liegt darin, dass die Stachelhäuter unter den Wirbellosen die engsten Verwandten der Wirbeltiere sind. Schon vor mehr als 500 Millionen Jahren scheinen sich die Ahnen der Seelilien von denen der sogenannten Chordaten, zu denen auch die Wirbeltiere gehören, getrennt zu haben. Von molekularen und morphologischen Untersuchungen her weiß man, dass die Embryonalstadien sowohl von Stachelhäutern als auch von Chordaten gemeinsame Eigenschaften aufweisen. Vom evolutionären Standpunkt aus ist es also sehr interessant zu wissen, wie die frühesten Larvenstadien bei der ältesten und primitivsten Form der Stachelhäuter aussehen.

    Zwar gleichen sich die ausgewachsenen Tiere von Seelilie und beispielsweise den Fischen überhaupt nicht. Aber in ihrer Entwicklung haben sie Gemeinsamkeiten, die sie vom Rest der Tierwelt unterscheiden: Die Wimpernbänder der Stachelhäuterlarven sollen der Ausgangspunkt gewesen sein für die Entwicklung des Rückenmarks bei den sogenannten Chordaten, zu denen auch die Wirbeltiere gehören. Diese Wimpernbänder werden von Nerven "betrieben", und daraus sollen die Nervenstränge des Rückenmarks entstanden sein. Das ist zwar eine umstrittene Hypothese, und es gibt kaum Beweise dafür – aber man hat andererseits auch keine Alternative. Keine anderen bekannten Wirbellosen haben geeignete Strukturen, um als Ausgangspunkt für die Chordaten zu dienen. So könnten wir mit den Larven der Seelilien einen Blick weit zurück in die Entwicklungsgeschichte des Lebens unserer Tage bekommen.