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Jugendgewalt weltweit

Die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen nimmt weltweit zu: Mordserien unter Jugendlichen in London, Krawalle in Pariser Vorstädten und Drogenkriminalität in Rio de Janeiro. Gibt es etwas Gemeinsames in all diesen Gewaltformen? Liegt es an Armut, Bildungsnotstand oder an Computerspielen? Das waren Fragen, denen auf einer Konferenz der Evangelischen Akademie Loccum nachgegangen wurde.

Von Michael Niehaus |
    Knapp unter drei Prozent liegt der Anteil Brasiliens an der Weltbevölkerung. 11 Prozent allerdings beträgt der Anteil Brasiliens bei den weltweit durch Waffengewalt Getöteten.

    "Es ist sehr leicht eine Waffe zu bekommen, kleine Waffen sind billig, sie sind überall und daher zum Beispiel in den Favelas wirklich ganz einfach, zu bekommen; und natürlich fördert das die Gewalt."

    Für die Juristin Clarissa Huguet aus Rio de Janereiro ist daher die Entwaffnung der Jugendlichen ein ganz wesentlicher erster Schritt, der in Brasilien auch Erfolge hat. Sie rechnet vor: Seit dem Jahr 2003 wurden mehr als 450.000 Waffen eingesammelt, was die Mordrate um 8 Prozent gesenkt hat: Konkreter: mehr als 3000 Tote weniger pro Jahr.
    Die gezielte Einsammlung von Waffen in den Favelas beseitigt allerdings nicht die Ursachen der Gewalt.

    "Armut ist ein Faktor, aber ganz und gar nicht der wichtigste. Ich spreche hauptsächlich über Rio de Janeiro. Und da ist es so, dass Kinder die in gewalttätigen Gruppen leben, an Gewalt gewöhnt sind; nicht weil sie grundsätzlich gewalttätige Menschen sind, sondern weil Gewalt überall ist. Sie denken also, dass man mit Gewalt Konflikte lösen kann; sie denken nicht an eine friedliche Lösung. Gewalt ist ihre Sprache.
    Ganz wichtig ist die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, das Gefühl dazuzugehören, wenn sie also etwa zu einer Drogenbande gehören, dann haben sie Macht, weil sie eine Waffe haben."

    Clarissa Huguet hat ein Projekt ins Leben gerufen, das auf lokaler politischer Ebene Konzepte entwickeln will, um Kindern und Jugendlichen , die in organisierten bewaffneten Banden leben, eine Perspektiven bieten können; Perspektiven, die nicht heißen Gefängnis oder Tod. Es gibt in Brasilien jenseits des herkömmlichen Gefängnisses Einrichtungen für zwölf bis 18 jährige, in denen sie, wenn sie ein Verbrechen begangen haben, auch psychologisch und pädagogisch betreut werden. Diese Einrichtungen sind nicht so restriktiv wie die Gefängnisse.

    "Wenn sie also ein Verbrechen begangenen haben, müssen sie da hinein. Aber das Wichtige ist, dass sie dort wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden können, das heißt Wiedereingliederung ist ein falscher Ausdruck, sie waren ja nie eingegliedet. Wenn sie also ein Verbrechen begangen haben, müssen sie die - nennen wir es ruhig so - Strafe absitzen. Warum? Wenn sie aus den armen Favelas kommen, haben sie nie Ihre Grundbedürfnisse befriedigen können; und hier in diesen Jugendeinrichtungen haben sie erstmals Zugang zu Bildung und Sport. Sie erleben hier eine totale Umkehr der Werte."

    "Gangs bleiben, was immer wir auch tun", so das Fazit einer Studie von Prof. Dr. John Hagedorn, Der Wissenschaftler an der Universität Illinois in Chicago verweist auf eine Schätzung der Vereinten Nationen, wonach im Jahr 2020 die Hälfte der städtischen Bevölkerungen in Armut leben wird. Das Phänomen Jugendgangs wird also zunehmen.

    "Und für die Jugendlichen in Staaten ohne ein Erziehungssystem, ohne Jobs, sind Gangs eine Option, ein Angebot. Wie wir in Chicago sagen: Gangs brauchen immer Leute."

    In vielen Großstädten gibt es keine realistische Hoffnung auf sozialen Wandel, Nihilismus - so John Hagedorn - macht sich auf den Straßen breit. Die Stärke von Jugendgangs liegt in ihrer Fähigkeit, der Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit entgegenzutreten.

    Hip-Hop ist die aktuelle weltweite Jugendsprache. John Hagedorn hat den Zusammenhang zwischen den häufig gewalttätig auftretenden Rappern und der Gewaltbereitschaft jugendlicher Gangs untersucht. Ist Hip-Hop also mitverantwortlich für die zunehmende Gewalt von Jugendgangs?

    "Gansta Rap betont all die falschen Dinge. Er proklamiert Werte, die für junge Menschen sehr gefährlich sind, aber im Hip-Hop selber gibt es Bewegungen, die sich dagegen wehren, die Gemeinschaftswerte betonen, Respekt vor Frauen. Diese Elemente im Hip-Hop müssen gestärkt werden. Es ist nicht hilfreich, wenn man mit grobem Pinsel das Bild von Hip-Hop zeichnet, so als gäbe es nur den Gansta Rap. Es hat also keinen Sinn, den ganzen Hip-Hop zu verdammen, Und denken Sie nur an unsere Jugendzeit als der Rock` n´-Roll aufkam, das war das doch irgendwie das Gleiche Es gibt so viele sinnvolle und hilfreiche Aktivitäten in der Hip-hop-Bewegung. Kinder und Jugendliche können durch den Hip-Hop etwas lernen. Sie können daraus das Falsche, aber auch das Richtige lernen."

    Jugendgewalt zeigt sich in unterschiedlichen Formen. Ob bewaffnete Drogengangs in Rio und Chicago, Krawalle in den Vorstädten von Paris, Angriffe auf Ausländer in deutschen Städten oder auch Jugendbanden in Staaten, in denen bis vor kurzem Krieg oder Bürgerkrieg geherrscht hat - es gibt eine gemeinsame Ursache: Ausgrenzung und fehlende Zukunftsperspektiven

    "so dass es für die Jugendlichen nur die Perspektive gibt: Ich bin in ein paar Jahren tot, also versuche ich jetzt, das zu erreichen ,was ich erreichen will an Statussymbolen, an materiellem Wohlstand, an Macht, weil irgendwann ist es sowieso vorbei, und über die Zeit hinaus habe ich keine Perspektive, das sind natürlich die allerschwierigsten Situationen ."

    Dr. Sabine Kurtenbach. Die zahlreichen lokalen Jugendhilfeprojekte - so die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg Essen - sind zwar hilfreich

    " aber wenn das nicht eingebettet ist in Strategien gesellschaftlichen Wandels, um Jugendlichen eine Perspektive zu geben zur politischen Beteiligung, zur Beteilung in der Wirtschaft, eine zivile Überlebensperspektive auch in der Ökonomie zu geben, dann werden solche kleinen Projekte nicht nutzlos sein, aber über ihren jeweiligen Geltungsbereich kaum Veränderungsmacht und - dynamik entfalten können."