Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Jugendliche aus zwei verschiedenen Welten

Indische Immigranten der zweiten Generation, die über ihre Pendel-Existenz zwischen östlicher und westlicher Kultur schreiben, sorgen schon etwas länger für Furore in der englischen Literatur. Nachdem die halb in Großbritannien aufgewachsene Kiran Desai erst 2006 den renommierten Booker Prize gewann, ist mit Aravind Adiga auch in diesem Jahr ein junger Schriftsteller indischer Herkunft der Booker-Prize-Gewinner, der in Australien und den USA groß geworden ist.

Von Gisa Funck | 13.01.2009
    Die 1967 geborene Schriftstellerin Jhumpa Lahiri kann man nun ebenfalls in diese Riege junger, indisch-stämmiger Erfolgsautoren einordnen, die das Heimatland ihrer Eltern oft nur noch von Ferien-Aufenthalten her kennen. Denn auch Lahiri hat nie lange in Indien gelebt. Sie wurde in London geboren. Ging danach in Rhode Island/USA zur Schule und studierte in Boston Literatur, bevor sie gleich mit ihrem allerersten Erzählband Melancholie der Ankunft im Jahr 2000 den Pulitzer Preis errang. Ab da galt die damals 33jährige Autorin als literarisches Wunderkind. Und: als Stimme der indischen Einwanderer in den USA. Dabei nutzt Lahiri - ähnlich wie ihre Schreibkollegen Desai und Adiga - den Zusammenprall der Kulturen eigentlich nur noch als Aufhänger, um über das generelle Gefühl existenzieller Unbehaustheit zu erzählen.

    Und das erklärt wohl auch Lahiris Erfolg. Man kann sich mit ihren Helden auch ohne Multikulti-Hintergrund gut identifizieren, weil die letztlich weniger an einer kulturell bedingten als an einer postmodernen Fremdheit leiden. Das gilt nun ebenfalls für Lahiris neuen Roman Einmal im Leben, der eine tragische Liebesgeschichte erzählt, deren fatales Ende sich früh, nämlich schon im dreiteiligen Triptychon-Aufbau andeutet. Dabei wirkt am Anfang alles eigentlich ganz hoffnungsvoll. Hier verliebt sich die dreizehnjährige Hema, aus deren Sicht der erste Teil des Romans erzählt wird, Hals über Kopf in den drei Jahre älteren Kaushik, das einzige Kind eines mit Hemas Eltern befreundeten Professoren-Ehepaars. Man schreibt den Januar 1981. Und Kaushik und seine Eltern sind gerade aus Bombay nach Massachusetts übergesiedelt, wo sie übergangsweise bei Hemas Familie zu wohnen, um sich in Ruhe ein neues Zuhause suchen zu können. Rückblickend erinnert sich Hema, wie kränkend wenig Notiz Kaushik von ihr als Dreizehnjähriger nahm:

    Ich war nicht darauf gefasst gewesen, dass ich dich auch nur im Geringsten anziehend finden könnte. Ich wusste nicht, was ich von dir halten sollte. Du hattest in Indien gelebt. Dennoch warst du anders als meine Cousins aus Kalkutta, die bei meinen Besuchen so unwissend und brav wirkten und mir Fragen über mein Leben in Amerika stellten, als läge das auf dem Mond. Du wolltest überhaupt nichts von mir wissen. Einmal fand ich dich an meinem Klavier, wo du mit dem Zeigefinger aufs Geratewohl Tasten anschlugst. "Findest du es hier furchtbar?", habe ich dich gefragt. "Ich habe gern in Indien gelebt," hast du geantwortet. Ich habe dir nicht verraten, dass mir die Reisen nach Indien langweilig vorkamen, dass ich es nicht mochte, wenn abends Geckos an den Wänden hingen. "Bombay ist nicht mit Kalkutta zu vergleichen," hast du gesagt, als hättest du meine Gedanken gelesen.
    "Ist das in der Nähe des Tadsch Mahal?"
    "Nein." Du hast mich eingehend betrachtet, als nähmst du mich zum ersten Mal richtig wahr. "Hast du noch nie auf eine Landkarte geguckt?", hast du mich verächtlich gefragt.


    Mit Hema und Kaushik stehen sich zwei Jugendliche aus zwei verschiedenen Welten gegenüber. Während Hema in den USA geboren und aufgewachsen ist, hat Kaushik seine Kindheitsjahre in Bombay verbracht. Das Einleben in Amerika fällt ihm entsprechend schwer. Und wird zusätzlich dadurch für Kaushik erschwert, dass seine geliebte Mutter krebskrank ist. Zwei Jahre später stirbt die Mutter. Und Kaushik, der im zweiten Teil des Romans zu Wort kommt, fühlt sich nun erst recht heimatlos. Doch, als sein Vater schließlich wieder eine neue, arrangierte Ehe mit einer Inderin eingeht - und die neue Frau mit ihren zwei Töchtern in die USA herüberholt, gibt ausgerechnet der zunächst so Amerika-kritische Kaushik auf einmal den überzeugten Westler. Er lässt nun plötzlich keine Gelegenheit aus, seiner indischen Stiefmutter und seinen zwei Stiefschwestern zu demonstrieren, wie kulturell überlegen er sich ihnen gegenüber fühlt:

    "So", sagte ich zu meinen beiden Stiefschwestern Rupa und Piu, "jetzt habt ihr auf den Fotos mit eigenen Augen gesehen, wie schön meine Mutter war. Viel hübscher und kultivierter als eure. Gegen sie ist eure Mutter ein Nichts. Nur ein Dienstmädchen, das meinem Vater die Wäsche wäscht und das Essen kocht. Nur deshalb ist eure Mutter hier. Nur deshalb seid ihr beiden hier."

    Wie schon in Lahiris Erzählungsband Melancholie der Ankunft und im Vorgängerroman Der Namensvetter dient auch in Einmal im Leben der Kulturkonflikt zwischen westlichem Lifestyle und östlich-indischer Tradition nur noch als Folie, um darauf die generelle Frage nach dem, was Heimat heute noch bedeuten kann, genauer auszuleuchten. Denn nicht nur Kaushik, der später ein ständig herumreisender Krisenfotograf wird - und auch privat jede feste Bindung scheut - bleibt im Roman ein Nie-Angekommener. Auch Hema, die als Altphilologin Karriere an der Universität macht - und somit auf den ersten Blick besser integriert als Kaushik wirkt - stellt sich bei näherem Hinsehen als Halt- und Heimatlose heraus. Nachdem Hema zehn Jahre lang eine aussichtslose Affäre mit einem verheirateten Kollegen hat, willigt ausgerechnet sie - eine hoch gebildete und emanzipierte Wissenschaftlerin - mit 37 Jahren in eine arrangierte Ehe mit einem Inder ein. Ihre letzten Wochen vor der Hochzeit in Delhi verbringt Hema dann alleine in Rom, wo der dritte Teil des Romans spielt. Und hier begegnet sie zufällig Kaushik wieder. Und mit ihm eigentlich ihrer großen Liebe, die allerdings schon daran scheitern muss, dass Kaushik und Hema sich für genau gegensätzliche Strategien entschieden haben, um ihr inneres Gefühl des Fremdseins zu bekämpfen. Während sich der umtriebige Kaushik allzu sehr ins westliche Wunschbild grenzenloser Freiheit verrennt, sucht Hema exakt umgekehrt die Sicherheit in der Rückkehr zur indischen Tradition. Damit aber müssen sich beide verfehlen, wie schon bei ihrer allerersten Verabredung in Rom deutlich wird:

    "Warum willst du diesen Inder heiraten?", fragte Kaushik. Hema sagte ihm die Wahrheit, eine Wahrheit, die sie bisher noch niemandem erzählt hatte. "Ich dachte, dann wäre alles geregelt."

    Tatsächlich liest sich Einmal im Leben weniger wie die Tragödie eines kulturellen als eines sehr zeittypischen Missverständnisses. Denn bei etwas näherer Betrachtung leiden sowohl Hema als auch Kaushik an einer typisch postmodernen Lähmung. Jener Lähmung nämlich, sich im beliebig wirkenden Kosmos des heutigen Anything Goes vor lauter Lebensalternativen nicht zu einer eigenen Entscheidung durchringen zu können. Stattdessen treten beide lieber die Flucht an: Kaushik die Flucht in die Unverbindlichkeit, und Hema die Flucht in die traditionelle Fremdbestimmung. Lahiri schildert dieses Drama eines tragischen Sich-Verpassens aus Lebensangst nüchtern und gut beobachtet in seiner Unausweichlichkeit. Da verzeiht man ihr am Ende auch den pathetischen Aussetzer, wonach Kaushik völlig unnötig in Thailand bei der Tsunami-Katastrophe 2006 ums Leben kommt. Lahiris Liebesgeschichte liest sich auch ohne den spektakulären Tsunami-Tod des Geliebten todtraurig und spektakulär genug.

    Jhumpa Lahiri: "Einmal im Leben". Eine Liebesgeschichte. Aus dem Englischen übersetzt von Gertraude Krueger. Rowohlt Verlag, Reinbeck 2008, 176 Seiten, 16.90 Euro.