Donnerstag, 16. Mai 2024

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Juliane Braun (Hrgs.): Ein Teil Heimat seid Ihr für mich. Rundbriefe einer Mädchenklasse 1944-2000

Der Austausch von persönlichen Nachrichten per handgeschriebenem Brief ist heutzutage etwas aus der Mode gekommen. Immerhin schicken sich manche Menschen per Computer noch Emails, im schlimmsten Fall ist die schriftliche Nachricht zur sprachverkrüppelten SMS auf dem Mobiltelephon geschrumpft. Eine Breslauer Mädchenklasse, die 1944 ihr Abitur am Lyzeum gemacht hatte, hat die alte Tradition des Rundbriefes tatsächlich über nahezu 60 Jahre aufrechterhalten. 1300 Briefe sind erhalten, aus denen Juliane Braun, Tochter einer der Briefeschreiberinnen, im Aufbau Verlag einen repräsentativen Querschnitt veröffentlicht hat.

Kristine von Soden | 03.03.2003
    Breslau, im Februar 1944. Der letzte Schultag am Oberlyzeum von Zawadzky – einer Privatschule für Töchter aus gutem Hause. Die 18 Mädchen der Abiturklasse haben es geschafft: Sie bekommen ihr Abschlusszeugnis. Die Reifeprüfung ist bestanden! Doch Grund zum Jubeln gibt es nicht. Denn sofort werden sie zum Reichsarbeitsdienst (RAD) eingezogen. Ein halbes Jahr ist nach den NS-Gesetzen Pflicht für angehende Studentinnen. Und an die Universität wollen die Mädchen alle. Irgendwann. Wenn der Krieg vorbei ist.

    Nun habe ich also genau wie viele andere von uns meinen "bürgerlichen Menschen" abgelegt und trage die Einheitskleidung der treudeutschen, braven Arbeitsmaid. Schade, dass Ihr nicht hier seid, Euch an meinem Anblick zu ergötzen! Als man mir meine "Arbeitsstrümpfe" heraussuchte, musste ich erst meinen entsetzten Geist sammeln, um zu kapieren, dass ich diese schlauchartigen, graugestrickten Ungetüme fortan über meine zarten Beinchen zu streifen habe. Die Ferse dieser aparten Beinbekleidung sitzt bei mir auf der Mitte der Fußsohle, und der ganze "graue Damenstrumpf" reicht bis knapp übers Knie. Die anderen, bereits eingesessenen Arbeitsmaiden erklärten mir, dass sei immer so beim RAD.

    Diese Zeilen schrieb Gerta Simon, eine jener Breslauer Abiturientinnen, am 12. März 1944 an ihre einstigen Mitschülerinnen. Denn so war am letzten Schultag beschlossen worden: Über einen Rundbrief, der in einer bestimmten Reihenfolge weitergeschickt und von keinem der Mädchen länger als drei Tage behalten werden sollte, wollte die Klasse miteinander in Verbindung bleiben. Das Vorhaben klappte, und das nicht nur für eine kurze Weile: Bis heute hält der Briefwechsel zwischen den mittlerweile 77-jährigen Frauen an! Eine historische Fundgrube an authentischen Alltagserfahrungen, die nun als Buch vorliegt - herausgegeben und mit einem zeitkritischen Kommentar von der Germanistin Juliane Braun versehen. Sie, die 1959 geboren wurde, ist eine der Töchter der Briefeschreiberinnen. Das heißt: Auch ihre Mutter, Ingeborg Raabe, machte 1944 am Breslauer Oberlyzeum von Zawadzky Abitur. Im heutigen Tschechien absolvierte sie ihren Arbeitsdienst und anschließenden Kriegshilfsdienst. Als sich abzeichnete, dass der Krieg verloren gehen würde, flüchtete Ingeborg Raabe mit ihrer Mutter und dem jüngeren Bruder nach Wittenberg, wo sie ab April 1945 in einer Apotheke eine Lehre begann. Kurz darauf starben ihre Mutter und ihre Großmutter im Bombenhagel. Die 19-jährige, nun Vormund ihres kleineren Bruders, floh vor der anrückenden russischen Armee auf die andere Elbseite, kehrte jedoch 1947 nach Wittenberg zurück, um ihre Ausbildung als Apotheken-Assistentin zu beenden. Ein Jahr später nahm sie eine Stelle am Niederrhein an. Ihr Wunsch, Pharmazie oder Chemie zu studieren, scheiterte – wie bei vielen Frauen ihrer Generation – an den finanziellen Mitteln. 1953 heiratete sie einen Journalisten und gründete mit ihm eine Familie. Gemeinsam zogen sie nach Essen, später nach Düsseldorf. Es folgten Auslandsaufenthalte in Wien und Paris. Ingeborg Raabe brachte drei Kinder zur Welt, darunter eben Tochter Juliane, die Buchherausgeberin.

    Der Rundbrief der Breslauer Abiturientinnen (vorwiegend handgeschriebene Kladden, dazu eingeklebte Fotos und Zeichnungen) umfasst 33 Bände mit insgesamt 1.300 Briefen. Für die Veröffentlichung im Berliner Aufbau-Verlag wählte Juliane Braun einen repräsentativen Querschnitt mit der Intention aus zu illustrieren, dass es in erster Linie die Sehnsucht nach emotionaler Nähe und einem "Teil Heimat" war, der die Frauen dazu brachte, sich kontinuierlich zu schreiben. Denn nachdem Breslau 1945 nahezu völlig zerstört und polnischer Miliz unterstellt worden war, erlitten die Mädchen wie so viele Millionen anderer Menschen auch in diesen Zeiten dramatische Flüchtlingsschicksale. Eine Rückkehr nach Breslau, in ihre schlesischen Heimatdörfer, auf ihre Güter und Höfe, war undenkbar. Für immer schien ihnen der Boden unter den Füßen entzogen, hatten sie das Gefühl, entwurzelt zu sein – ohne Beziehung zu ihren neuen Wohnorten. Trotzdem: Revanchismus oder gar alte Besitzansprüche standen nie zur Diskussion. Auch nicht, als später in der Bundesrepublik zahlreiche Vertriebenenverbände dumpf-aggressiv auf sich aufmerksam machten, um die sozialliberale Entspannungspolitik zu unterminieren. Erst 1985 trat die erste der längst in Westdeutschland lebenden Breslauer Frauen eine Reise in die Vergangenheit an – Elisabeth von Schaubert:

    Ihr Lieben! ... Ich stehe am Ziel eines 40-jährigen Traumes. Am Ortsrand von Obernigk. Unser Ältester, Joachim, begleitet mich. Im Bus viele alte Bekannte aus dieser Zeit. Es ist herrlich warm, die Bäume blühen, es ist so vieles vertraut, das alte Pflaster, das Pfarrhaus, die Kirche, inzwischen von Katholiken übernommen... Den ganzen Tag laufen wir durchs Dorf, über die Felder, durch den Wald. Sitzen und schauen ... und ich fühle mich zu Hause...

    Was bei der Lektüre der Briefe schon nach den ersten Seiten auffällt, ist eine vollkommen unpolitische Haltung der Frauen, ihr Blick für das eher "Beschauliche" und für alles, was Ehe, Kinder, Haushalt anbelangt. Kaum eine fällt mit unbequemen Meinungen aus dem Rahmen oder wagt sich auf Wege abseits der damals typischen Rollenklischees. Zugleich aber wirken die Frauen resolut und couragiert, was in dem Umstand begründet sein mag, dass sie – ausgestattet mit den alten preußischen Tugenden Ordnung, Fleiß und Pflichtbewusstsein – im privaten, häuslichen Bereich absolute Respektspersonen waren. Aus heutiger Sicht scheint es undenkbar, wie die meisten von ihnen ohne Wenn und Aber die eigenen beruflichen Interessen zurücksteckten und auf erträumte akademische Karrieren verzichteten. Doch für Frauen aus der bürgerlichen Schicht, zumal der oberen, war das eben selbstverständlich. Kein Wunder, dass die Briefe in den Jahren, als die meisten Breslauer Frauen ihre Kinder, oft waren es drei oder sogar vier, zur Welt brachten, ziemlich ermüdend zu lesen sind. In jeder Zeile wiederholt sich der immergleiche Trott, "schicksalsergeben", "tapfer" und "frohgemut" sind häufige Stichworte. Nur eine der Frauen, die spätere FAZ-Redakteurin Maria Frisé, stieß sich daran und fragte ihre "liebe Rundbriefgemeinde" in einem Brief ganz direkt:

    Ist dieser Klassenbrief nicht ein etwas monotoner Singsang: wieder ein Kind mehr, wieder eine weite Reise, eine neue Wohnung und einen Schritt höher zum Wohlstandsideal?

    Obwohl Mutter dreier Söhne, hatte sich Maria Frisé bereits 1956 scheiden lassen, was in der erzkonservativen Ära Adenauer enormen Mut bedeutete. Besaßen doch Frauen in der Ehe kaum Rechte; und eine "Geschiedene" war noch bis weit in die 60er Jahre hinein gesellschaftlich geächtet, bei Freunden und Bekannten in der Regel "unterdurch". Viele Briefe Maria Frisés haben vor diesem Hintergrund einen zeitdokumentarischen Charakter, der mehr als jede soziologische Studie das damalige Frauenleben erhellt. Letzteres gilt auch für die folgenden Jahre, in denen sich die "Klassenschwestern" in ihren Briefen zum erstenmal offen der Frage stellen: "Wie konnte es geschehen, dass Hitler an die Macht kam? Was hätten wir wissen können, was haben wir damals verdrängt...?" Hilflos verhalten klingen die Stellungnahmen und – passend dazu - erschreckend ignorant die Reaktionen der Frauen auf ihre eigenen Kinder, die inzwischen zu Jugendlichen herangewachsen waren: dass diese "in ohrenbetäubender Lautstärke" Beatles und Stones hörten, regt sie auf, und dass sie ihre Zimmer nie aufräumten. Kein Wort verlieren sie zu den 68er Protesten – als ob diese gar nicht existierten. Aber auch das trägt zeitdokumentarischen Charakter, ist ein Spiegelbild bundesdeutscher Wirklichkeit – zumindest innerhalb jener weiblichen Bevölkerung, die nach Währungsreform, "Wirtschaftswunder" und Warten auf den Ruhestand eigentlich keine neuen Ziele mehr anstrebte. Das Leben war gelebt, die Energien verausgabt und oft waren sie ähnlich "wunschlos unglücklich", wie es Peter Handke 1972 in der gleichnamigen Erzählung über seine Mutter formulierte. Nachdenklich klappt man das Buch am Ende zu und wird noch lange nicht die Bilder jener emsigen, nie klagenden, immer präsenten Mütter und Ehefrauen los, die mitunter bis zur Erschöpfung zwischen Familie und Halbtagsjob pendelten, scheinbar grenzenloses Improvisationstalent entwickelten und in den Briefen kein einziges Mal von Liebe, geschweige denn erotischen Abenteuern berichteten. Bemerkenswert ist auch der Sprachstil nahezu aller Rundbriefe-Frauen: nämlich voller Selbstironie, auch Witz und Spott. Zeichen von leisem Widerstand? Oder innerer Distanz?

    Bis heute veranstalten die Breslauer Frauen regelmäßig Klassentreffen. Auch in diesem Sommer ist es wieder soweit. Ihnen ist bewusst, die letzten jener "leisen Generation von Frauen" zu sein, erklärt Juliane Braun in ihrem Nachwort, jener Generation von Frauen vor allem, die ihre Verdienste nie einklagten.

    Kristine von Soden besprach: "Ein Teil Heimat seid Ihr für mich. Rundbriefe einer Mädchenklasse 1944 bis 2000", herausgegeben von Juliane Braun, erschienen im Aufbau Verlag. 302 Seiten kosten 20 Euro.