Dienstag, 23. April 2024

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Jung, qualifiziert, weiblich

Welches Potential steckt in den verschiedenen Regionen Deutschlands? Eine Studie dazu unter dem Titel "Die demographische Lage der Nation" hat jetzt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung herausgegeben. Nur etwas für ein Soziologen-, Politologen- oder Wirtschaftswissenschaftler also? "Nein", meint Renate Faerber-Husemann, die den Band für uns bespricht:

31.07.2006
    Das ist ein Buch, mit dem Laien und politische Profis etwas anfangen können. Jeder redet ja heute über die "demographische Katastrophe”, über die "vergreisende Gesellschaft” und den ausbleibenden Kindersegen. Da wird der Kollaps der Sozialversicherungen beschworen und über einen angeblich unausweichlichen "Krieg zwischen Alt und Jung” spekuliert.

    Über die Folgen der veränderten Altersstruktur gibt es so viele Meinungen wie Fachleute, die darüber schreiben. Wer heute politisch die Weichen zu stellen hat, damit die für morgen prognostizierte Katastrophe ausbleibt, wird konfrontiert mit Meinungen, die sich zwischen den Extremen bewegen: "Alles nicht so schlimm”, sagen die einen. "Bald macht der letzte Deutsche das Licht aus”, warnen die anderen. Das Buch "Die demographische Lage der Nation”, verfasst von einer jungen Wissenschaftlergruppe unter Leitung von Dr. Reiner Klingholz liefert präzises Datenmaterial zum jetzigen Zustand und fragt darüber hinaus, so auch der Untertitel des Buches, "Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen?”

    Denn das Ruhrgebiet ist nicht mit der Bonn-Kölner Rheinschiene zu vergleichen und Sachsen-Anhalt nicht mit Bayern oder Baden-Württemberg. Da der Chef des Instituts aus dem Wissenschaftsjournalismus kommt, ist das Buch eine spannende Lektüre, verständlich geschrieben, also für jedermann gut lesbar, der sich mit einer der wichtigsten Zukunftsfragen des Landes beschäftigen möchte. Von manchen Ergebnissen wurden die Wissenschaftler beim genauen Blick auf die Bundesländer und Regionen selbst verblüfft. Die meisten Kinder gibt es zum Beispiel...

    ""... im Großraum Cloppenburg-Vechta, im so genannten Oldenburger Münsterland. Warum das so ist, weiß man nicht so genau. Es hat mit Tradition zutun. Es hat mit einer guten Wirtschaftsentwicklung zu tun, mit einer intakten gesellschaftlichen sozialen Struktur. Dort leben die Familien noch relativ gut zusammen, die Jungen ziehen nicht weg, sie haben dann auch die Versorgungsmöglichkeiten durch die Großeltern, durch Freunde, Tanten und Bekannte und so weiter, was in Deutschland häufig sonst nicht mehr so gegeben ist.”"

    Das Gegenteil ist, mit ganz seltenen Ausnahmen, in den neuen Bundesländern zu beobachten. Dort brach nach der Wende die Geburtenrate ein, und zusätzlich begann die große Wanderung nach Westen:

    ""1,5 Millionen Menschen haben bislang seit der Wende die neuen Bundesländer verlassen und darunter vor allem drei Gruppen: Die Jungen, die Qualifizierten und die Frauen – und häufig in der Kombination: jung, qualifiziert, weiblich, so dass in Anführungsstrichen die Besseren eher gehen und die sozial Schwächeren, die weniger Mobilen, die Älteren bleiben. Und es ist ja interessanterweise so, dass nicht etwa die Arbeitslosen sich auf die Wanderung machen, sondern meistens sind es Leute, die eine Arbeit haben, aber anderswo, vor allem im Westen oder Süden Deutschlands, eine bessere Stelle bekommen können.”"

    Die Folgen sind heute schon dramatisch. Der Osten verzeichnet einen Männerüberschuss, die gut ausgebildeten jungen Frauen suchen sich ihre Partner anderswo. Während bisher die Schuldzuweisung klar war - es sind die berufsbezogenen, egoistischen Frauen, die sich nicht reproduzieren wollen, hörte man jahrzehntelang – spricht Reiner Klingholz von einer "Infantilisierung der Männergesellschaft” als einer Ursache für die niedrige Geburtenrate, die inzwischen bei weniger als 1,4 Kindern pro Frau liegt:

    ""Wir wissen aus vielen Studien, dass sich Männer beim Familiengründen deutlich schwerer tun als Frauen. Männern fehlt der Mut, der Wunsch, sich auf Verantwortung einzulassen, und das hängt mit dieser Infantilisierung zusammen. Männer hängen deutlich länger am Elternhaus als Frauen das tun, und das ist ein Zeichen dafür, dass sie sich weigern, selbständig zu werden, dass sie eben noch im Hotel Mama versorgt werden wollen. Und interessanterweise ist es auch europaweit so, dass in den Ländern, wo die Männer vergleichsweise früh ausziehen aus dem Elternhaus, dass dort die Kinderzahlen am höchsten sind, und die Länder, in denen sie am längsten zu Hause wohnen, das ist Spanien, Italien, Griechenland, wo die Kinderzahlen noch niedriger sind als bei uns.”"

    Die Schlüsse der Wissenschaftler gehen weit über die klassische Familienpolitik hinaus: Mehr Förderung der Jungen schon in der Schule, damit sie später auf gleicher Augenhöhe mit den Frauen leben. Gezielte Arbeitsplatzangebote für Frauen, damit sie ihre Heimatregionen nicht auf der Suche nach attraktiven Arbeitsplätzen verlassen müssen. Ein Ende der finanziellen Benachteiligung von Familien gegenüber Kinderlosen. Familienfreundliche Unternehmen, die flexible Arbeitszeiten anbieten. Mehr Anstrengungen, um schrumpfende Städte familienfreundlich zu machen.

    Regionen, in denen eine Erholung hoffnungslos scheint, nicht weiter an den Subventionstropf hängen, sondern sie zu Naturschutzgebieten umbauen. Der verbleibenden Bevölkerung mit Kreativität und niedrigen Kosten ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, etwa durch Zwergschulen, Ruftaxen statt leerer Busse, durch rollende Bankfilialen und Arztpraxen. "Handeln statt jammern” ist das erste Kapitel des Buches überschrieben. Jedem Bundesland ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in vielen Landkreisen und Städten werden an praktischen Beispielen Probleme und Chancen detailliert benannt, gelungene Anpassungen an die veränderten Verhältnisse beschrieben.

    Jeder Leser kann sich informieren über die Zukunftsprognosen für seine eigene Region. Und doch ist Reiner Klingholz unzufrieden, beklagt die katastrophale Datenlage in Deutschland, die jede genaue Planung unmöglich mache.

    ""Wir sind das einzige europäische Land, das seit nahezu 20 Jahren keine Volkszählung mehr hatte. Wir haben entsprechend eine extrem schlechte Datenlage. Sehr viele Drittweltländer haben vermutlich inzwischen bessere demographische Daten als wir das haben. Wir wissen vor allem durch die ganzen Veränderungen in den neuen Bundesländern überhaupt nicht mehr, wer dort wo und in welcher Altersklasse überhaupt lebt. Wir brauchen dringend eine Volkszählung, um hohe Kosten zu vermeiden, die durch Fehlplanung entstehen, um uns einen genauen Überblick zu verschaffen, wo Probleme mit Migranten entstehen, wo wir die Integration verbessern müssen, wo wir die Bildungslage verbessern müssen und sollen, wo wir die Familienpolitik verändern sollen. Wir wissen ja noch nicht einmal, wer in diesem Lande und warum Kinder hat.”"

    Zum Schluss noch eine schockierende Zahl aus dem angenehm sachlichen, in unaufgeregtem Ton geschriebenen Buch: Deutschland hat heute nur noch halb so viele Kinder wie vor 40 Jahren, obwohl die Einwohnerzahl seither um 6,5 Millionen gestiegen ist.