Jürgen Liminski: Herr Bergmann, zunächst mal eine Frage zum Untertitel: Wer ist wir? Wer soll diesen Jungs Halt geben?
Wolfgang Bergmann: Ja, wir ist eigentlich die ganze Gesellschaft, aber an erster Stelle natürlich Mama und Papa - zumindest so lange die Jungen ganz kleine Jungen sind oder auch mittelgroße Jungen. Mitunter sitzen mir auch Sechzehnjährige gegenüber, so ganze Schränke - oft mit der Vorstrafenliste. Und wenn man ein bisschen tiefer in sie hineinschaut, dann hat man eigentlich einen kleinen Jungen vor sich. Wir heißt aber auch Schule, insgesamt die Bildungsinstitutionen, also: die Kindergärten, die Schulen - vor allem die Kindergärten und die Grundschulen, die die Kinder in hohem Maße prägen und auf die Jungen und ihre Entwicklung teilweise einen äußerst negativen Einfluss nehmen in ihrer gegenwärtigen Verfassung.
Liminski: Ihr Buch wendet sich vorwiegend an Eltern. Eltern werden von Medien und Politik, dem politisch-medialen Establishment ja ständig in die Ecke gestellt. Ist Ihr Buch also nur eine bessere, verständnisvollere Form des Elternbashing, um die Elternkompetenz zu erhöhen? Wendet es sich nicht auch vorwiegend, oder sollte es sich nicht zunächst auch an die Gesellschaft wenden?
Bergmann: Nein. Es wendet sich nicht zuletzt an die eigene Zunft, die Therapeuten. Da läuft unendlich viel falsch. Kinder- und Jugendpsychotherapie - da herrscht gegenüber den kleinen Jungen, insbesondere eine hochmoralisierende Verständnisarmut. Dasselbe gilt für die Schulen noch in sehr viel intensiverem Maße. Die kleinen Jungen sind in der Schule überfordert. Unsere Kinder sind alle überfordert. Aber die Jungen nochmal in besonderer Weise. Und es wendet sich an alle, die Betreuer sind. Da denke ich auch, altmodisch wie ich bin, an die Pfarrer. Aber diese Botschaft der Erlösung, das Mystische, das Phantastische, das die kleinen Jungen auch vibrieren lässt vor Abenteuerlust und vor unendlicher Phantasie, fehlt alles, bleibt alles aus. Also, wir zwingen die Jungen in eine viel zu erstarrte, häufig rivalisiernde, von Leistungsängsten durchzogene und letztlich phantasiearme Welt. Und daran scheitern sie dann. Das kann uns eigentlich gar nicht wundern.
Liminski: Sie befassen sich seit Jahren mit diesen Fragen. Warum werden gerade Jungs zu Problemfällen, weniger die Mädchen? Oder ist das nicht doch nur eine Frage der medialen Wahrnehmung?
Bergmann: Die Jungen sind immer schon in der kinder- und jugendpsychiatrischen Sprache immer schon vulnerabler gewesen, also verletzlicher, kränkbarer. Sie hatten immer schon eine innigere, abhängigere - vor allem abhängigere - Beziehung zur Mama. Dieses Mama-Sohn-Problem ist etwas, das begleitet uns seit Generationen. Und nun kommt ein Zweites dazu, sie treffen eine Bildungslandschaft schon in den Kindergärten, in den Grundschulen, die rein weiblich geprägt ist. Damit meine ich gar nicht so sehr das Biologische, dass da vor allem Frauen herumlaufen - obwohl das für einen Sieben-, Achtjährigen schon eine ziemliche Zumutung ist, wenn er von einer 30jährigen Grundschullehrerin abgekanzelt wird; also, bei einem Mann würde er damit besser klarkommen -, aber es ist nicht nur die Geschlechtszugehörigkeit. Es ist eine Grundverfassung der modernen Pädagogik. Die ist einfach hochgradig moralinsauer. Die hat zu wenig Kraft, die hat zu wenig Power, die hat zu wenig Lebensfreude und Vielfalt. Und wenn so ein Dreijähriger in seinem Kindergarten mal so richtig laut losbrüllt, um der Welt zu verkünden: Ich wandele jetzt hier auf dir, und du, Welt, musst erschüttert sein, - da kommt so eine Kindergärtnerin zu ihm hin (ich weiß, dass das Erzieherin heißt, aber Kindergärtnerin klingt schöner) eine Kindergärtnerin zu ihm gelaufen, und sagt: Wir hatten uns doch geeinigt, dass wir alle ganz still sein wollen. Oder da geht beim Bolzen mal eine Fensterscheibe kaputt - ich gebe ja gerne zu, dass Fensterscheiben auch ein Recht auf ihre Existenz haben - aber nun ist sie kaputt. Was soll sein? Da wird gleich ein Stuhlkreis einberufen. Also, insgesamt diese wabernde und letztlich immer moralisierende, immer auf soziale Norm erpichte Pädagogik geht unseren kleinen Jungen ganz erheblich auf die Nerven und stärkt sie nicht. Sie werden mit ihrer eigenen Männlichkeit nicht vertraut. In der Grundschule wird es dann noch schlimmer, weil dann noch die Leistungsängste dazukommen.
Liminski: Ihre Methode der Erklärung ist die Fallstudie. Sie beschreiben konkrete, wahre Fälle, ohne freilich die Namen zu nennen oder Identitäten preiszugeben. Heißt das, dass man keine allgemeine Methode zur Heilung solcher Probleme hat?
Bergmann: Wir haben in den letzten 40 Jahren so einen Trend, in dem eine Methode nach der anderen hervorgekehrt wird und jede mit einer empirischen Studie daherkommt, die mindestens eine Erfolgsquote von über achtzig Prozent hat. Das ist alles Fake. Das ist einfach nicht wahr. Therapie, Betreuung, wie auch Pädagogik - die Übergänge sind viel fließender. Da gibt es nicht die eine Kompetenz und die andere Kompetenz. Alles hat eine Basiskompetenz, und diese Basiskompetenz, die lautet: Ich schaue einen Jungen an, und wenn der meinen Blick beantwortet, wenn er mir Vertrauen zuwendet, dann kann ich anfangen, ihn aus irgendeiner Sackgasse, in die er sich verrannt hat, herauszuholen. Es ist letztlich eine Beziehungskunst. Man kann es auch pathetischer sagen: Pädagogik, Therapie, sowie auch Erziehung der Eltern, das ist eine Liebeskunst. Das kann auch nicht jeder. Da begegnen sich zwei Menschen. Der eine ist ein bisschen älter, der andere ein bisschen kleiner. Und was die miteinander aushandeln, das verändert den Jungen zum Negativen oder zum Positiven. Verändern tut es ihn immer.
Liminski: Sie beschreiben, wie Sie sagen, Figuren aus dem Arsenal des Kleinbürgertums, die Verankerungen im Sozialen, die normative Welt und die früher engen Weltbilder, die Sicherheit vermittelten und Autorität in gewissem Sinn leicht machten. Ist die Auflösung sozialer Milieus mit ihren Wertmaßstäben eine, wenn nicht die Ursache für die Schwierigkeiten von Erziehung und Schule?
Bergmann: Natürlich ist es so, dass vor allem den kleinen Jungen, mehr als den Mädchen oder anders als den Mädchen bestimmte stabile Identitätsmerkmale, Identitätszuschreibungen, die man über die Welt der Erwachsenen erwirbt, die stehen ihnen nicht mehr zur Verfügung. Ich habe da immer das Gegenbild von meinem Großvater. Der war Schuhmachermeister. Der machte noch richtig Schuhe, die dann auch die Leute im Dorf trugen. Und als Sieben- oder Achtjähriger stand ich bewundernd in seiner Schuhmacherwerkstatt. Ich habe heute noch den Geruch von Leder und diese hagere, gebeugte Gestalt des Großvaters vor Augen, wie er da mit großer Sorgfalt das Leder spannte oder die Nägel eintrieb. Dieser Großvater, der hatte zum einen eine ganz starke Bindung an seine Arbeit. Das war die Freude daran; ich kann das. Der machte Schuhe, in denen man noch warme Füße hatte - da können Sie heute lange suchen. Aber gleichzeitig hatte er auch ein soziales Verantwortungsgefühl. Das gab er mir auch weiter: Die Leute in meinem Dorf die sollen warme Füße haben; dafür bin ich verantwortlich. - Und das Ganze, dieses bis in die Körpergestaltung hinein integrierte handwerkliche Ethos wurde dann noch einmal überhöht von diesem protestantischen Gott, von dem mein Großvater zwar keine rechte Vorstellung hatte, aber der trotzdem tröstete und bewahrte. Dies, diese Verlässlichkeit, diese Bindungsintensität bis in die Gestaltung der Körpervorbilder, der Väter oder Onkel oder anderer Vorbilder, das fehlt den kleinen Jungen. Ich will nicht zurück in diese Zeit - aber wir können uns an dieser Zeit deutlich machen, was wir verloren haben. Wenn wir heute von Treue reden, da fangen die Leute an zu lachen. Wenn wir heute von Bindung an einen Betrieb, an eine Arbeit, an etwas, was ich tue, reden, dann erntet man zynische Kommentare. Und ein 40jähriger Vater, der heute sagen würde: An dieser Arbeitsstelle bleibe ich, und da habe ich ein Treuegefühl - der würde als Loser eingeschätzt. Wir haben eine bindungsverarmte, eine sich auflösende, in alle Richtungen zersplitternde soziale Realität. Damit kommen unsere kleinen Jungen, die immer auf der Suche sind nach einer Bindung, einem Halt - nicht nur einem Vorbild, sondern einem Sehnsuchtsbild des Erwachsenen: So will ich auch sein -, das fehlt ihnen heute. Das finden sie in dieser Realität nicht. Und das macht in der Tat den größten Teil ihrer Probleme aus.
Liminski: Haben Sie denn eine bündige Antwort, also mediengerecht in 30 Sekunden, auf die Frage: Was brauchen die kleinen Jungs?
Bergmann: Ja, das ist nicht meine Begabung. Ich weiß. Die kleinen Jungen brauchen nicht nur Vorbilder. Die brauchen männliche Sehnsuchtsbilder, in dem sie das Gefühl entwickeln: So will ich auch sein. So will ich mich entwickeln. Da ist etwas, das geht mir in mein Körpergefühl. Das geht in meine Phantasien hinein. Das geht in meine Ich-Idealisierung. Ich bin ein toller Typ. Und das kann man sehen an diesem Sehnsuchtsbild: Wenn der Kleine klein ist, ist das Papa. Wenn er ein bisschen größer ist, können das auch andere sein. Das fehlt den Jungen. Statt dessen bekommen sie eine einerseits weichliche, weibliche Pädagogik angeboten, die aber durchzogen ist von einem sehr harten Leistungsdenken und immer damit droht: Du wirst ausgegrenzt; du kommst auf die Hauptschule; du kommst auf die Förderschule. Das heißt, die kleinen Jungen treffen eine Realität vor, mit der sie überhaupt nicht zurechtkommen. Sie brauchen starke Erwachsene, insbesondere starke Männer. Stark heißt nicht, auf den Tisch hauen. Stark sein heißt, ich trete dir gegenüber. Ich bin ein bisschen ein Fels in der Brandung deiner Existenz. Komm' mein Großer, wachse an mir!
Wolfgang Bergmann: Kleine Jungs - große Not. Wie wir ihnen Halt geben. Beltz Verlag, Weinheim, 179 Seiten, Euro 12,90
Wolfgang Bergmann: Ja, wir ist eigentlich die ganze Gesellschaft, aber an erster Stelle natürlich Mama und Papa - zumindest so lange die Jungen ganz kleine Jungen sind oder auch mittelgroße Jungen. Mitunter sitzen mir auch Sechzehnjährige gegenüber, so ganze Schränke - oft mit der Vorstrafenliste. Und wenn man ein bisschen tiefer in sie hineinschaut, dann hat man eigentlich einen kleinen Jungen vor sich. Wir heißt aber auch Schule, insgesamt die Bildungsinstitutionen, also: die Kindergärten, die Schulen - vor allem die Kindergärten und die Grundschulen, die die Kinder in hohem Maße prägen und auf die Jungen und ihre Entwicklung teilweise einen äußerst negativen Einfluss nehmen in ihrer gegenwärtigen Verfassung.
Liminski: Ihr Buch wendet sich vorwiegend an Eltern. Eltern werden von Medien und Politik, dem politisch-medialen Establishment ja ständig in die Ecke gestellt. Ist Ihr Buch also nur eine bessere, verständnisvollere Form des Elternbashing, um die Elternkompetenz zu erhöhen? Wendet es sich nicht auch vorwiegend, oder sollte es sich nicht zunächst auch an die Gesellschaft wenden?
Bergmann: Nein. Es wendet sich nicht zuletzt an die eigene Zunft, die Therapeuten. Da läuft unendlich viel falsch. Kinder- und Jugendpsychotherapie - da herrscht gegenüber den kleinen Jungen, insbesondere eine hochmoralisierende Verständnisarmut. Dasselbe gilt für die Schulen noch in sehr viel intensiverem Maße. Die kleinen Jungen sind in der Schule überfordert. Unsere Kinder sind alle überfordert. Aber die Jungen nochmal in besonderer Weise. Und es wendet sich an alle, die Betreuer sind. Da denke ich auch, altmodisch wie ich bin, an die Pfarrer. Aber diese Botschaft der Erlösung, das Mystische, das Phantastische, das die kleinen Jungen auch vibrieren lässt vor Abenteuerlust und vor unendlicher Phantasie, fehlt alles, bleibt alles aus. Also, wir zwingen die Jungen in eine viel zu erstarrte, häufig rivalisiernde, von Leistungsängsten durchzogene und letztlich phantasiearme Welt. Und daran scheitern sie dann. Das kann uns eigentlich gar nicht wundern.
Liminski: Sie befassen sich seit Jahren mit diesen Fragen. Warum werden gerade Jungs zu Problemfällen, weniger die Mädchen? Oder ist das nicht doch nur eine Frage der medialen Wahrnehmung?
Bergmann: Die Jungen sind immer schon in der kinder- und jugendpsychiatrischen Sprache immer schon vulnerabler gewesen, also verletzlicher, kränkbarer. Sie hatten immer schon eine innigere, abhängigere - vor allem abhängigere - Beziehung zur Mama. Dieses Mama-Sohn-Problem ist etwas, das begleitet uns seit Generationen. Und nun kommt ein Zweites dazu, sie treffen eine Bildungslandschaft schon in den Kindergärten, in den Grundschulen, die rein weiblich geprägt ist. Damit meine ich gar nicht so sehr das Biologische, dass da vor allem Frauen herumlaufen - obwohl das für einen Sieben-, Achtjährigen schon eine ziemliche Zumutung ist, wenn er von einer 30jährigen Grundschullehrerin abgekanzelt wird; also, bei einem Mann würde er damit besser klarkommen -, aber es ist nicht nur die Geschlechtszugehörigkeit. Es ist eine Grundverfassung der modernen Pädagogik. Die ist einfach hochgradig moralinsauer. Die hat zu wenig Kraft, die hat zu wenig Power, die hat zu wenig Lebensfreude und Vielfalt. Und wenn so ein Dreijähriger in seinem Kindergarten mal so richtig laut losbrüllt, um der Welt zu verkünden: Ich wandele jetzt hier auf dir, und du, Welt, musst erschüttert sein, - da kommt so eine Kindergärtnerin zu ihm hin (ich weiß, dass das Erzieherin heißt, aber Kindergärtnerin klingt schöner) eine Kindergärtnerin zu ihm gelaufen, und sagt: Wir hatten uns doch geeinigt, dass wir alle ganz still sein wollen. Oder da geht beim Bolzen mal eine Fensterscheibe kaputt - ich gebe ja gerne zu, dass Fensterscheiben auch ein Recht auf ihre Existenz haben - aber nun ist sie kaputt. Was soll sein? Da wird gleich ein Stuhlkreis einberufen. Also, insgesamt diese wabernde und letztlich immer moralisierende, immer auf soziale Norm erpichte Pädagogik geht unseren kleinen Jungen ganz erheblich auf die Nerven und stärkt sie nicht. Sie werden mit ihrer eigenen Männlichkeit nicht vertraut. In der Grundschule wird es dann noch schlimmer, weil dann noch die Leistungsängste dazukommen.
Liminski: Ihre Methode der Erklärung ist die Fallstudie. Sie beschreiben konkrete, wahre Fälle, ohne freilich die Namen zu nennen oder Identitäten preiszugeben. Heißt das, dass man keine allgemeine Methode zur Heilung solcher Probleme hat?
Bergmann: Wir haben in den letzten 40 Jahren so einen Trend, in dem eine Methode nach der anderen hervorgekehrt wird und jede mit einer empirischen Studie daherkommt, die mindestens eine Erfolgsquote von über achtzig Prozent hat. Das ist alles Fake. Das ist einfach nicht wahr. Therapie, Betreuung, wie auch Pädagogik - die Übergänge sind viel fließender. Da gibt es nicht die eine Kompetenz und die andere Kompetenz. Alles hat eine Basiskompetenz, und diese Basiskompetenz, die lautet: Ich schaue einen Jungen an, und wenn der meinen Blick beantwortet, wenn er mir Vertrauen zuwendet, dann kann ich anfangen, ihn aus irgendeiner Sackgasse, in die er sich verrannt hat, herauszuholen. Es ist letztlich eine Beziehungskunst. Man kann es auch pathetischer sagen: Pädagogik, Therapie, sowie auch Erziehung der Eltern, das ist eine Liebeskunst. Das kann auch nicht jeder. Da begegnen sich zwei Menschen. Der eine ist ein bisschen älter, der andere ein bisschen kleiner. Und was die miteinander aushandeln, das verändert den Jungen zum Negativen oder zum Positiven. Verändern tut es ihn immer.
Liminski: Sie beschreiben, wie Sie sagen, Figuren aus dem Arsenal des Kleinbürgertums, die Verankerungen im Sozialen, die normative Welt und die früher engen Weltbilder, die Sicherheit vermittelten und Autorität in gewissem Sinn leicht machten. Ist die Auflösung sozialer Milieus mit ihren Wertmaßstäben eine, wenn nicht die Ursache für die Schwierigkeiten von Erziehung und Schule?
Bergmann: Natürlich ist es so, dass vor allem den kleinen Jungen, mehr als den Mädchen oder anders als den Mädchen bestimmte stabile Identitätsmerkmale, Identitätszuschreibungen, die man über die Welt der Erwachsenen erwirbt, die stehen ihnen nicht mehr zur Verfügung. Ich habe da immer das Gegenbild von meinem Großvater. Der war Schuhmachermeister. Der machte noch richtig Schuhe, die dann auch die Leute im Dorf trugen. Und als Sieben- oder Achtjähriger stand ich bewundernd in seiner Schuhmacherwerkstatt. Ich habe heute noch den Geruch von Leder und diese hagere, gebeugte Gestalt des Großvaters vor Augen, wie er da mit großer Sorgfalt das Leder spannte oder die Nägel eintrieb. Dieser Großvater, der hatte zum einen eine ganz starke Bindung an seine Arbeit. Das war die Freude daran; ich kann das. Der machte Schuhe, in denen man noch warme Füße hatte - da können Sie heute lange suchen. Aber gleichzeitig hatte er auch ein soziales Verantwortungsgefühl. Das gab er mir auch weiter: Die Leute in meinem Dorf die sollen warme Füße haben; dafür bin ich verantwortlich. - Und das Ganze, dieses bis in die Körpergestaltung hinein integrierte handwerkliche Ethos wurde dann noch einmal überhöht von diesem protestantischen Gott, von dem mein Großvater zwar keine rechte Vorstellung hatte, aber der trotzdem tröstete und bewahrte. Dies, diese Verlässlichkeit, diese Bindungsintensität bis in die Gestaltung der Körpervorbilder, der Väter oder Onkel oder anderer Vorbilder, das fehlt den kleinen Jungen. Ich will nicht zurück in diese Zeit - aber wir können uns an dieser Zeit deutlich machen, was wir verloren haben. Wenn wir heute von Treue reden, da fangen die Leute an zu lachen. Wenn wir heute von Bindung an einen Betrieb, an eine Arbeit, an etwas, was ich tue, reden, dann erntet man zynische Kommentare. Und ein 40jähriger Vater, der heute sagen würde: An dieser Arbeitsstelle bleibe ich, und da habe ich ein Treuegefühl - der würde als Loser eingeschätzt. Wir haben eine bindungsverarmte, eine sich auflösende, in alle Richtungen zersplitternde soziale Realität. Damit kommen unsere kleinen Jungen, die immer auf der Suche sind nach einer Bindung, einem Halt - nicht nur einem Vorbild, sondern einem Sehnsuchtsbild des Erwachsenen: So will ich auch sein -, das fehlt ihnen heute. Das finden sie in dieser Realität nicht. Und das macht in der Tat den größten Teil ihrer Probleme aus.
Liminski: Haben Sie denn eine bündige Antwort, also mediengerecht in 30 Sekunden, auf die Frage: Was brauchen die kleinen Jungs?
Bergmann: Ja, das ist nicht meine Begabung. Ich weiß. Die kleinen Jungen brauchen nicht nur Vorbilder. Die brauchen männliche Sehnsuchtsbilder, in dem sie das Gefühl entwickeln: So will ich auch sein. So will ich mich entwickeln. Da ist etwas, das geht mir in mein Körpergefühl. Das geht in meine Phantasien hinein. Das geht in meine Ich-Idealisierung. Ich bin ein toller Typ. Und das kann man sehen an diesem Sehnsuchtsbild: Wenn der Kleine klein ist, ist das Papa. Wenn er ein bisschen größer ist, können das auch andere sein. Das fehlt den Jungen. Statt dessen bekommen sie eine einerseits weichliche, weibliche Pädagogik angeboten, die aber durchzogen ist von einem sehr harten Leistungsdenken und immer damit droht: Du wirst ausgegrenzt; du kommst auf die Hauptschule; du kommst auf die Förderschule. Das heißt, die kleinen Jungen treffen eine Realität vor, mit der sie überhaupt nicht zurechtkommen. Sie brauchen starke Erwachsene, insbesondere starke Männer. Stark heißt nicht, auf den Tisch hauen. Stark sein heißt, ich trete dir gegenüber. Ich bin ein bisschen ein Fels in der Brandung deiner Existenz. Komm' mein Großer, wachse an mir!
Wolfgang Bergmann: Kleine Jungs - große Not. Wie wir ihnen Halt geben. Beltz Verlag, Weinheim, 179 Seiten, Euro 12,90