Donnerstag, 25. April 2024

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"Jungfrau von Orléans" am Schauspielhaus Hamburg
Tilmann Köhlers Schiller verblüfft und überzeugt

Am Hamburger Schauspielhaus kommt die Heilige Johanna Schillers auf die Bühne. Regisseur Tilmann Köhler wisse, mit Klassikern umzugehen, auch wenn er sich zuweil verrenne, meint unser Kritiker Michael Laages. Mit dieser Jungfrau bekomme man viel Gegenwart.

Von Michael Laages | 01.11.2015
    Regisseur Tilmann Köhler
    Regisseur Tilmann Köhler (imago/Christian Kielmann)
    Zu den unübersehbaren Stärken des Regisseurs Tilmann Köhler gehört der wichtigste Partner, der (fast) immer nur im Doppelpack zu haben mit ihm ist: der Bühnenbildner Karoly Risz. Dessen szenische Entwürfe garantieren Köhlers Inszenierungen stets klare, kraftvolle Ideen fürs Auge und den ersten Blick sowie (was noch wichtiger) ein Maß an Struktur, das in der Folge meistens unausweichlich wird; das heißt: dem Theaterabend Orientierung gibt. In Hamburg sieht das so aus - auf die Rückseite von einer Art Stadion-Halbrund blickt das Publikum, und aus dem "Stadion" heraus klingt Kaiser Wilhelms berüchtigte "Hunnen"-Rede, gehalten in Wilhelmshaven anno 1900 bei der Entsendung deutscher Soldaten nach China, wo sie den "Boxeraufstand" niederschlagen sollten:
    "Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht! Wer Euch entgegentritt, ist Euch verfallen. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter König Etzel sich einen Namen machten werdet Ihr kämpfen ..."
    Dann dreht sich das "Stadion", und wir sehen es von innen - wie die glatt-silberne Innenwand von Topf oder Schüssel sieht es nun aus, und vom oberen Rand (fast unmöglich zu erkletten für das Mädchen, das drinnen hockt) tönen weitere Reden, die zu Schlacht und Kampf aufrufen: von Winston Churchill, George W. Bush und vielen anderen; auch im Stile fremdenfeindlicher Hassprediger von heute.
    Dann kommt des Mädchens Papa in den Saal gerauscht; und agitiert:
    "Liebe Nachbarn - heute noch sind wir Franzosen, freie Bürger noch; und Herren noch des freien Bodens, den unsere Väter pflügten. Wer weiß, wer morgen über uns befiehlt!"
    Ein auf Karriere konditioniertes Mädchen
    Ein keckes Baskenmützchen trägt er, aber was er sagt, verwandelt sich immer deutlicher zu nationalistischem Gelärme; der Schauspieler Josef Ostendorf fügt (damit's auch der und die letzte kapiert) in der Premiere das vermaledeite "Lügenpresse"-Wort hinzu, als er endlich geht. Aber dieser ganze Chor aus Kampf und Schlacht, Feindbild und Hass und Tod, hat - das wird klar- wie die "göttliche Berufung", wie die Erscheinung der Mutter Gottes bei Schiller und im Mythos den Boden bereitet, für das, was jetzt passiert - das Mädchen ist nun konditioniert für die Karriere als Kriegerin; wirft sich in Kampfkluft wie für den Straßenkampf und erklimmt im zweiten Versuch die Höhe der silbernen Steilwand, um oben mit beiden Armen das "Victory"-Zeichen zu zeigen. Sie ist bereit. Sie zieht in die Schlacht.
    Und sie tut nun Wunder - wendet das Kriegsglück des schon in tiefe Depression verfallenen Franzosen-Königs Karl, unterwirft den vom König abgefallenen Herzog von Burgund, metzelt die englischen Invasoren ab wie den jungen Rekruten Montgomery. Der Sieg ist total - nur über sich selber wird Johanna nicht siegen. Erst wollte der König sie zum Lohn günstig verheiraten - aber sie will nicht:
    "Ich bin die Kriegerin des höchsten Gottes, und keinem Manne kann ich Gattin sein!"
    Dann, in der Begegnung mit dem englischen Krieger Lionel, packt sie die Liebe, das Verlangen. Nach der Krönung übergibt sie sich den Engländern - und stirbt im Kampf; nicht (wie in der Wirklichkeit) auf dem Scheiterhaufen.
    Schon bei Schiller wendete sich ja die Bühnen-Fabel en Detail und en Gros gegen die Überlieferung; Tilmann Köhler heute nimmt nichts anderes ins Visier des zeitgenössischen Blicks. Seine Johanna (gespielt von der grandiosen Anne Müller, einer schmalen, zarten Schauspielerin, die über das seltene Talent verfügt, zu "brennen" auf der Bühne, wie im Furor pur!) zieht in die Schlachten von heute, die sich längst wieder aller Vernunft, aller Politik, aller abwägenden Diplomatie zu entziehen beginnen. Und was nicht passt zu dieser Orientierung im Umgang mit dem Klassiker, ist konsequent gestrichen - Schillers "Jungfrau" kommt in Hamburg mit weniger als zwei Stunden aus. Und selbst die könnten zuweilen noch etwas mehr Tempo vertragen ...
    Dieser Schiller verblüfft und überzeugt. Tilmann Köhler weiß mit Klassikern umzugehen; zwar verrennt er sich zuweilen, doch zeigen kann er immer, wohin das Alte heute ganz neu führt. In Hamburg und mit dieser "Jungfrau" sehen wir viel Gegenwart. Und das ist gut so.