Im Mittelpunkt steht Martin. Gesellschaftlich steht allerdings niemand weiter außerhalb des Mittelpunkts als er. Martin hat seine Identität mit der großen weiten Dienstleistungs- und Warenwelt verschmolzen: Sein Lebensziel ist, nützlich zu sein. Egal wem und egal wodurch. Damit lebt er keineswegs eine neu aufgelegte christliche Altruismus-Vorstellung. Denn Martin hat sein Selbst vollkommen veräußert. "Die Empfindung seines Nichts verläßt ihn nie", heißt es in Goethes "Wilhelm Meister". So geht es auch Martin, und daher definiert sich Thomas Jonigks Antiheld allein durch seinen Einsatz für andere. Das geht so weit, daß er willig als Opfer von Vergewaltigungen bereitsteht. Dazu der Autor:
"Es geht ja um Täter und Opfer und um die Überlegung: Was sind Täter und Opfer? Und ich glaube, daß das ein Thema ist, daß durch die Medien gerade im Zusammenhang mit sexueller Gewalt so überstrapaziert und so banalisiert ist, daß ich glaube, daß ich durch eine realistischere im Sinne von gemäßigterer Wiedergabe eigentlich nur in ein Klischee hineingeraten wäre, dem ich gerade versucht habe zu entkommen. Und zwar indem ich eine gewisse Bedingungslosigkeit voraussetze, die sagt: Ganz so heiter und ganz so sozialdramatisch/dramaturgisch aufgelöst, wie es mir immer präsentiert wird, ist das Thema nicht zu behandeln. Täter und Opfer, egal in welchem Bereich jetzt, denken wir an die jüdische Geschichte, also Holocaust, oder sexuelle Gewalt, dann sind das natürlich Bereiche, die mit einem extremen Grauen besetzt sind. Dem habe ich versucht beizukommen, und ich glaube, daß das nicht über Vernunft oder über die ratio, das funktioniert nicht. Und ich glaube, ich mußte so ins Extrem gehen."
Bevor man sich für die verquere Psyche des Ich-Erzählers interessieren kann, hat man sich als Leser mit Jonigks Sprache und Bildern zu arrangieren. Ein Wort kehrt in "Jupiter" immer wieder: Schuld. Denn Martin trägt selbst die Schuld an seinem Opferdasein. Genau wie die Täter in "Jupiter" die ihre nicht anerkennen. Martin hat eine diffuse Angst vor seiner düsteren familiären Vergangenheit, in der er - natürlich - vergewaltigt wurde, und genau so Angst vor seiner nicht gerade vielversprechenden Zukunft. Um diese Angst zu unterdrücken, bleibt Martin auf Distanz zu sich selbst, vor allem zu seinem Körper - und schadet seiner Umwelt, vor allem aber sich selbst. Trotzdem ist dieser Crétin ein Opfer und darf deshalb Hilfe einfordern, meint Thomas Jonigk:
"Ich finde, daß diese Täter- und Opferkategorien extrem durcheinandergeworfen werden in unserer Gesellschaft, und das ist sehr problematisch. Es ist zum Beispiel im Falle des Mißbrauchs so, daß im Falle des Zweifels der Angeklagte, der Täter freigesprochen wird. Also im Falle des Zweifels ist das Opfer schuldig. So kann man es dann eigentlich benennen. Und jeder Täter wird inzwischen entschuldigt, indem man sagt, er war auch mal Opfer. Er ist zum Beispiel als Kind selbst geschädigt worden, hatte eine schwere Kindheit oder was auch immer, er war im Gefängnis oder er ist sozial niedrig angesiedelt, er hat Bildungslücken. Und das wird alles als Entschuldigung genommen. Und ich meine, das kann man alles fürs psychologische Profil benutzen, aber das entlastet einen Täter nicht von dem, was er getan hat. [...] Man muß in einer Gesellschaft das Profil und den Anspruch entwickeln, daß jeder eigenverantwortlich handeln kann. Und insofern muß jemand, selbst wenn er eine grauenhafte Kindheit hatte, für eine Gewalttat, die er vollbracht hat, zur Verantwortung gezogen werden. Und ein Opfer hat immer Anspruch auf Unterstützung, immer, meiner Meinung nach. Und das wird nicht mehr entsprechend vertreten. Das finde ich sehr problematisch."
Die Täter-Opfer-Beziehung hat Thomas Jonigk, bisher vor allem als Dramenautor bekannt, lange beschäftigt. Dabei ist nicht nur sein Debütroman "Jupiter" herausgekommen, sondern auch ein Theaterstück, "Täter", das gerade in Hamburg angelaufen ist [8. Dezember]. Jonigk, zuletzt Chefdramaturg am Wiener Schauspielhaus, hat nach dieser intensiven Beschäftigung mit dem Thema zumindest eine Vermutung zur Frage, warum Opfer es im öffentlichen Bewußtsein so schwer haben:
"Ich würde nur sagen, daß Opfer Angst machen, weil sie auf Schwächen aufmerksam machen, also immer dann auch auf eigene Schwächen. Und weil sie auf Fehlverhalten hindeuten. Und das ist sicher der schwierigere Part als einfach über Dinge hinwegzugehen. Insofern ist es leichter, die Täter zu entschuldigen und damit zu sagen: Wir brauchen uns die dunklen Seiten auch nicht anzusehen."
Martin, der Ich-Erzähler, bekommt seine Chancen, aus dem circulus vitiosus seines Opferdaseins auszubrechen. In einigen Passagen reflektiert Martin über sein Leben und seine Rolle darin. In diesen Phasen läßt Thomas Jonigk ihn lachhafte Phrasen dreschen, den Schutzmantel der spießbürgerlichsten Biederkeit umlegen.
In der Mitte des Romans spaltet sich dann Martins Persönlichkeit, und es gibt fortan Martin und "Ich". Martin entwickelt zaghaft so etwas wie eine eigene Moral. Er beginnt sogar eine Liebesgeschichte und versucht, seinen verkehrten, weil vaterbezogenen, ödipalen Komplex aufzuarbeiten. Aber "Ich" sieht sich weiterhin einzig durch den Spiegel seiner perversen Umgebung. Und der Teil "Ich" behält die Oberhand über den Teil Martin.
Ganz am Ende des Romans bekommt "Ich" noch einmal eine Chance, denn die Geschichte beginnt von vorn. Dieses Motiv der Wiederholung hat Jonigk von seinem literarischen Vorbild. Denn obwohl Thomas Jonigks Werke häufig mit denen Elfriede Jelineks oder Werner Schwabs verglichen werden, sieht er selbst sich eher in der Nachfolge von Gertrude Stein. Und so illustriert Jonigk in "Jupiter" mit wiederkehrenden Wörtern und Passagen die destruktive Borniertheit seines Erzählers. Thomas Jonigk schreibt überhaupt einen äußerst pedantischen Stil, so minutiös konstruiert, daß er mitunter ein wenig selbstverliebt wirkt.
Auf die Frage, wie man sich so lange Zeit mit der äußerst plastischen Beschreibung von Vergewaltigungen befassen könne, ohne Ekel vor dem eigenen Werk zu entwickeln, antwortet Jonigk:
"Der Schreibprozeß an sich hat Spaß gebracht. Es war eher so, daß es nach dem Schreiben, als ich das Buch abgegeben habe, da habe ich gemerkt, wie tief ich doch eingetaucht bin in diese Welt, und es hat mich ein paar Monate gekostet, das wirklich wieder gehen zu lassen. Ich habe wirklich gemerkt über Träume, wie stark das nachgewirkt hat in mir. Das Schreiben an sich hat Spaß gebracht, weil diese krude Phantasie freigesetzt worden ist, die Phantasie der Figur."
"Es geht ja um Täter und Opfer und um die Überlegung: Was sind Täter und Opfer? Und ich glaube, daß das ein Thema ist, daß durch die Medien gerade im Zusammenhang mit sexueller Gewalt so überstrapaziert und so banalisiert ist, daß ich glaube, daß ich durch eine realistischere im Sinne von gemäßigterer Wiedergabe eigentlich nur in ein Klischee hineingeraten wäre, dem ich gerade versucht habe zu entkommen. Und zwar indem ich eine gewisse Bedingungslosigkeit voraussetze, die sagt: Ganz so heiter und ganz so sozialdramatisch/dramaturgisch aufgelöst, wie es mir immer präsentiert wird, ist das Thema nicht zu behandeln. Täter und Opfer, egal in welchem Bereich jetzt, denken wir an die jüdische Geschichte, also Holocaust, oder sexuelle Gewalt, dann sind das natürlich Bereiche, die mit einem extremen Grauen besetzt sind. Dem habe ich versucht beizukommen, und ich glaube, daß das nicht über Vernunft oder über die ratio, das funktioniert nicht. Und ich glaube, ich mußte so ins Extrem gehen."
Bevor man sich für die verquere Psyche des Ich-Erzählers interessieren kann, hat man sich als Leser mit Jonigks Sprache und Bildern zu arrangieren. Ein Wort kehrt in "Jupiter" immer wieder: Schuld. Denn Martin trägt selbst die Schuld an seinem Opferdasein. Genau wie die Täter in "Jupiter" die ihre nicht anerkennen. Martin hat eine diffuse Angst vor seiner düsteren familiären Vergangenheit, in der er - natürlich - vergewaltigt wurde, und genau so Angst vor seiner nicht gerade vielversprechenden Zukunft. Um diese Angst zu unterdrücken, bleibt Martin auf Distanz zu sich selbst, vor allem zu seinem Körper - und schadet seiner Umwelt, vor allem aber sich selbst. Trotzdem ist dieser Crétin ein Opfer und darf deshalb Hilfe einfordern, meint Thomas Jonigk:
"Ich finde, daß diese Täter- und Opferkategorien extrem durcheinandergeworfen werden in unserer Gesellschaft, und das ist sehr problematisch. Es ist zum Beispiel im Falle des Mißbrauchs so, daß im Falle des Zweifels der Angeklagte, der Täter freigesprochen wird. Also im Falle des Zweifels ist das Opfer schuldig. So kann man es dann eigentlich benennen. Und jeder Täter wird inzwischen entschuldigt, indem man sagt, er war auch mal Opfer. Er ist zum Beispiel als Kind selbst geschädigt worden, hatte eine schwere Kindheit oder was auch immer, er war im Gefängnis oder er ist sozial niedrig angesiedelt, er hat Bildungslücken. Und das wird alles als Entschuldigung genommen. Und ich meine, das kann man alles fürs psychologische Profil benutzen, aber das entlastet einen Täter nicht von dem, was er getan hat. [...] Man muß in einer Gesellschaft das Profil und den Anspruch entwickeln, daß jeder eigenverantwortlich handeln kann. Und insofern muß jemand, selbst wenn er eine grauenhafte Kindheit hatte, für eine Gewalttat, die er vollbracht hat, zur Verantwortung gezogen werden. Und ein Opfer hat immer Anspruch auf Unterstützung, immer, meiner Meinung nach. Und das wird nicht mehr entsprechend vertreten. Das finde ich sehr problematisch."
Die Täter-Opfer-Beziehung hat Thomas Jonigk, bisher vor allem als Dramenautor bekannt, lange beschäftigt. Dabei ist nicht nur sein Debütroman "Jupiter" herausgekommen, sondern auch ein Theaterstück, "Täter", das gerade in Hamburg angelaufen ist [8. Dezember]. Jonigk, zuletzt Chefdramaturg am Wiener Schauspielhaus, hat nach dieser intensiven Beschäftigung mit dem Thema zumindest eine Vermutung zur Frage, warum Opfer es im öffentlichen Bewußtsein so schwer haben:
"Ich würde nur sagen, daß Opfer Angst machen, weil sie auf Schwächen aufmerksam machen, also immer dann auch auf eigene Schwächen. Und weil sie auf Fehlverhalten hindeuten. Und das ist sicher der schwierigere Part als einfach über Dinge hinwegzugehen. Insofern ist es leichter, die Täter zu entschuldigen und damit zu sagen: Wir brauchen uns die dunklen Seiten auch nicht anzusehen."
Martin, der Ich-Erzähler, bekommt seine Chancen, aus dem circulus vitiosus seines Opferdaseins auszubrechen. In einigen Passagen reflektiert Martin über sein Leben und seine Rolle darin. In diesen Phasen läßt Thomas Jonigk ihn lachhafte Phrasen dreschen, den Schutzmantel der spießbürgerlichsten Biederkeit umlegen.
In der Mitte des Romans spaltet sich dann Martins Persönlichkeit, und es gibt fortan Martin und "Ich". Martin entwickelt zaghaft so etwas wie eine eigene Moral. Er beginnt sogar eine Liebesgeschichte und versucht, seinen verkehrten, weil vaterbezogenen, ödipalen Komplex aufzuarbeiten. Aber "Ich" sieht sich weiterhin einzig durch den Spiegel seiner perversen Umgebung. Und der Teil "Ich" behält die Oberhand über den Teil Martin.
Ganz am Ende des Romans bekommt "Ich" noch einmal eine Chance, denn die Geschichte beginnt von vorn. Dieses Motiv der Wiederholung hat Jonigk von seinem literarischen Vorbild. Denn obwohl Thomas Jonigks Werke häufig mit denen Elfriede Jelineks oder Werner Schwabs verglichen werden, sieht er selbst sich eher in der Nachfolge von Gertrude Stein. Und so illustriert Jonigk in "Jupiter" mit wiederkehrenden Wörtern und Passagen die destruktive Borniertheit seines Erzählers. Thomas Jonigk schreibt überhaupt einen äußerst pedantischen Stil, so minutiös konstruiert, daß er mitunter ein wenig selbstverliebt wirkt.
Auf die Frage, wie man sich so lange Zeit mit der äußerst plastischen Beschreibung von Vergewaltigungen befassen könne, ohne Ekel vor dem eigenen Werk zu entwickeln, antwortet Jonigk:
"Der Schreibprozeß an sich hat Spaß gebracht. Es war eher so, daß es nach dem Schreiben, als ich das Buch abgegeben habe, da habe ich gemerkt, wie tief ich doch eingetaucht bin in diese Welt, und es hat mich ein paar Monate gekostet, das wirklich wieder gehen zu lassen. Ich habe wirklich gemerkt über Träume, wie stark das nachgewirkt hat in mir. Das Schreiben an sich hat Spaß gebracht, weil diese krude Phantasie freigesetzt worden ist, die Phantasie der Figur."