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Juri Andruchowytsch: Das letzte Territorium

Ein die Phantasie und Kreativität anregendes Kraftfeld ganz besonderer Art war von jeher die mittelosteuropäische Region beiderseits des heutigen ukrainisch-polnischen Grenzzauns. Bald schon, ab dem 1. Mai, wird dort die EU-Außengrenze verlaufen. Die Folge: Angst und Besorgnis - übrigens auf beiden Seiten - wachsen. Werden die Mauern einer "Festung Europa" für viele Ukrainer und noch weiter östlich lebende Menschen wieder hochgezogen? - Der West-Ukrainer Juri Andruchowytsch macht sich dazu so seine Gedanken und hat als Ergebnis für die Edition Suhrkamp ein schmales Essay-Bändchen verfasst - Titel: "Das letzte Territorium".

Von Peter Josef Bock | 08.03.2004
    Ich lebe in einer ewig beargwöhnten und benachteiligten Weltgegend. Sie heißt Galizien...(Völlig zu Recht lässt sich behaupten, dass Galizien nur eine hundertfünfzig Jahre alte Erfindung einiger österreichischer Minister sei...)

    Eine Stimme aus einer fernen Region, jedenfalls abgelegen für uns Alt-Europäer, wenn wir auf den Rand der erweiterten EU blicken: Juri Andruchowytsch, Jahrgang 1960, Dichter, Romancier und Essayist, lebt in der West-Ukraine in der Provinzstadt Iwano-Frankiwsk, die während der k.u.k-Herrschaft Stanislau hieß. Der Autor will sich nicht damit abfinden, dass die Ukraine von EU-Europa abgeschrieben worden sein soll, dass die alte-neue Nomenklatura in Kiew alles tut, um den zweitgrößten europäischen Territorial-Staat wie eine Bananenrepublik zu beherrschen. So hat Andruchowytsch (zu seiner eigenen Überraschung, wie er im Nachwort feststellt) ein vor allem politisches Buch geschrieben, wenngleich seine Essays literarische Arbeiten sind, immer brillant und fesselnd geschrieben, ohne Brüche von Alois Woldan hervorragend aus dem Ukrainischen ins Deutsche übersetzt.
    Der Autor beschwört Geschichte und erzählt Geschichten, zitiert Gedichte, weiht uns in Mythen ein, beschreibt das Entsetzen der Tschernobyl-Flüchtlinge, schildert hinreißend die Historie der westukrainischen Metropole Lviv, also des einstigen Lemberg, zeigt wie auf dem Röntgenschirm den Alltag der nachsowjetischen Ukraine:

    Die Proletarisierung der Ukraine besteht nicht nur aus dem Bahnhof-Markt, grauen Gesichtern, kahlgeschorenen Köpfen und Trainingshosen. Sie besteht auch in einer primitiven Russifizierung, einer Sprache aus zweihundert Wörtern, einem "pidgin-russian". Das ist schließlich die Sprache jener, die unsere Gesellschaft am meisten schätzt, - Obermafiosi, Pop-Stars, Sportler und Neureiche. Diese Leute haben für ihre Spitzenpositionen in der Gesellschaft kein Ukrainisch gebraucht, konstatiert der Durchschnittsukrainer. Wozu brauchen wir es dann?

    Andruchowytsch ist kein vor Empörung bebender ukrainischer Nationalist, aber er warnt vor einer weiteren Russifizierung des Landes, die nach der Unabhängigkeit 1991 noch zugenommen habe. (Vor allem wettert er gegen die billige russische Pop-Musik, die allgegenwärtig aus Lautsprechern und Fernsehern in der Ukraine tönt.) Gleichberechtigt werde ukrainisch und russisch nur noch in der West-Ukraine gesprochen, während in der bevölkerungsreichen Ost-Ukraine, im Kohlerevier des Donbas und rund um Charkiv, die russische Sprache dominiere. Deshalb sollten sich nationalistisch gesinnte West-Ukrainer aber nicht von der Kiewer Machtzentrale lossagen, sondern man müsse vielmehr überlegen...:

    ...wie die Ukraine... den Donbas loswerden könnte. So viele Probleme wären mit einem Mal gelöst! Das kommunistische Wählerpotential würde sich um Millionen verringern, der extrem defizitäre Kohleabbau würde die ohnehin schwache Volkswirtschaft nicht noch weiter belasten, es gäbe weniger Arbeitslose, weniger Kriminelle,... weniger Russisch...Aber wie soll man nur dort alle überreden, sich abzuspalten?

    "Loswerden" - das hieße, "an Russland loswerden." Das aber wäre politisch inkorrektes Wunschdenken. Also - Spott ausgießen über die schwierige Identitätsfindung der Ukrainer, die neben ihrem großen russischen Bruder leben müssen:

    "Dynamo"-Kiew gewinnt gegen "Spartak"-Moskau, und der Patriotismus nimmt zu, auch der Gebrauch der ukrainischen Sprache. Schnaps oder Benzin wird teurer - und die patriotischen Gefühle verstummen...

    Der bekennende Ukrainer Juri Andruchowytsch verklärt, wie nicht wenige intellektuelle Nachfahren anderer Völker aus dem untergegangenen Habsburger Imperium, nostalgisch die Herrschaft...:

    ...des seligen Österreich...dank der unendlichen sprachlichen und ethnischen Vielfalt dieser Welt das ukrainische Element überdauern konnte. Mag es auch gegen seinen Willen geschehen sein - ohne das alte Österreich gäbe es uns heute nicht...Kaum zu glauben, dass es Zeiten gab, da meine Stadt Teil eines staatlichen Organismus war, zu dem nicht Tambov und Taschkent, sondern Venedig und Wien gehörten! Die Toskana und die Lombardei befanden sich innerhalb derselben Grenzen wie Galizien...

    Ein Zeitzeuge der k.u.k-Herrschaft, der in Galizien geborene und aufgewachsene österreichisch-jüdische Schriftsteller Karl Emil Franzos zeichnete dagegen im 19. Jahrhundert ein wenig schmeichelhaftes Bild der damaligen Grenzregion. Er gab seinen Beschreibungen aus Galizien den Titel "Halb-Asien". Und der ebenfalls aus Galizien stammende Joseph Roth schildert in seinen Romanen, wie rauh und nicht selten archaisch es im Grenzland zum Zarenreich zuging.

    Wenn auch Andruchowytsch selbstironisch vom "Kult um den Österreich-Donau-Mythos" spricht, so spiegelt er die Geschichte seiner Heimat vor allem im Licht des sowjetischen Regimes, das alle angestammte, vor allem die bürgerlich-europäische Kultur vernichtet habe.
    Der Überfall der Wehrmacht, Zerstörung,Terror und Völkermord der Nazis verblassen in seiner Darstellung eher dagegen. Eine mögliche Erklärung dafür: Vielleicht wollte der Autor, als ehemaliger Bürger der Sowjetunion, keine antifaschistischen Pflichtübungen mehr ableisten.
    Ambivalent ist sein Verhältnis zur polnischen Herrschaft über Galizien vor allem in der sogenannten "Zwischenkriegszeit" zwischen 1918 und 1939. Das neue, postkommunistische Polen betrachtet Andruchowytsch dagegen als die letzte Brücke der Ukraine nach Europa. Nicht aber um das in Warschau oder in Prag bereits bestehende Heer der ukrainischen Billigst-Arbeiter und Prostituierten noch zu vergrößern. Er befürchtet ganz einfach eine neue Abschottung Galiziens, der Ukraine, denn es sei eine neue, sozusagen "real existierende Grenze" entstanden. Und...:

    ...diese verläuft an der westlichen Staatsgrenze der Ukraine, die millimetergenau den Verlauf der alten Grenze der UdSSR wiederholt und das Sein damit in Europa und etwas anderes teilt...

    "Ich mag keine Bücher, die in der Ukraine spielen", sagte Harald Schmidt, Fernseh-Spötter im einstweiligen Ruhestand, bei seinem Auftritt in Elke Heidenreichs TV-Bücherschau.
    "Russland, Weißrussland und die Ukraine...sind nie Bestandteile des historischen Europa gewesen", argumentiert der angesehene Historiker Hans-Ulrich Wehler.
    Wer sich mit derlei Eindeutigem allerdings nicht begnügen will, der sollte sich Juri Andruchowytsch anvertrauen. Als Pfadfinder, als ganz und gar nicht-provinzieller Heimaterzähler nimmt der Galizier Ignoranten, Besserwisser und Neugierige fest an die Hand. Er führt sie durch den ukrainischen Dschungel, der, ob es uns gefällt oder nicht, eben doch in Europa liegt.

    Jurij Andruchowytsch: "Das letzte Territorium. Essays", erschienen in der Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main. 150 Seiten zum Preis von 10 Euro.