Das Ende der Welt liegt 10.000 km hinterm Ural im Nordosten Sibiriens am Rande der Halbinsel Tschukotka. In der Sprache der Tschuktschen, eines paläoasiatischen indigenen Volkes von nur 12.000 Seelen, heißt der Ort "Uelen". Hier, am Ende der Welt also, geht am 21. Februar 1947 eine junge Ethnographin aus Leningrad an Land. Sie heißt Anna Odinzowa und hat einen "Dienstreiseauftrag vom Ethnographischen Institut der Akademie der Wissenschaften und der Ost-Fakultät der Leningrader Universität". Deshalb ist die Welt für Anna Odinzowa in Uelen nicht zu Ende. Im Gegenteil: Für sie fängt die Welt hier erst an. Denn sie will die Sitten und Bräuche der nomadisierenden Rentierzüchter, ihre Sprache und Folklore studieren. Aber sie will es besser machen als die amerikanische Ethnologin Margaret Mead, der sie nacheifert:
Ich will sie übertreffen, will mich selbst in das Volk einleben, das ich studiere – ihr ist das nicht gelungen. Ich will weiter gehen als sie, werde das Leben eines Urvolkes von innen her erforschen und beschreiben, nicht von außen.
Für die Tschuktschen ist Anna ist eine Tangitan, eine Fremde, eine Weiße oder Europäerin und kein "wirklicher Mensch". Ihr Ziel kann sie nur erreichen, wenn sie das Vertrauen der Ureinwohner gewinnt. Das gelingt ihr auf Anhieb, indem sie Tanat, einen jungen Tschuktschen, für sich einnimmt und ihn binnen weniger Tage heiratet. Statt ins Lehrerseminar nach Anadyr geht Tanat mit Anna zurück in die Tundra. Bei beiden ist nämlich die "vielfach in Büchern beschriebene seelische Krankheit ausgebrochen, die Liebe heißt". Die Tangitan-Frau mit dem goldenen Haar und Augen "von einem Blau, wie man es nur bei rassigen Polarhunden findet", unterscheidet sich von anderen Tangitan dadurch, dass sie Tschuktschisch gelernt hat und die Ureinwohner keineswegs für rückständig hält:
Wenn ihr in früheren Zeiten nur in Dunkel und Unwissenheit gelebt hättet, wie hättet ihr es da geschafft, bis zum 20. Jahrhundert zu überleben? Warum sollen Balalaika und Harmonika besser zu Tschuktschen und Eskimos passen als eure Schellentrommel? Man müsste nur einen Russen in Wattemantel und Filzstiefeln in die winterliche Taiga schicken – keinen Tag würde er überleben. Ganz zu schweigen davon, dass die Menschheit noch nichts Zuverlässigeres für Fahrten über die Polarweiten erfunden hat als das Hundegespann. Warum muss man mit einem Mal alles abschaffen, was in Jahrhunderten erprobt wurde?
Ja, warum. Auf diese Frage gibt es auch in Russland keine Antwort. Der tschuktschische Autor Juri Rytcheu, 1930 in Uelen geboren und der erste Schriftsteller seines Volkes, zeigt in all seinen Romanen, wie genau d a s geschah, wie die Tangitan all das abschafften, was seinen Vorfahren das Überleben am Rande der Ökumene ermöglicht hatte. An Stelle der uralten Lebenserfahrung rückte der Fortschritt: eine fremde Philosophie, eine fremde Lebensweise:
Hat dieser Fortschritt dem tschuktschischen Volk wirklich viel gebracht? Ja, das Lesen und Schreiben, technische Neuerungen, aber wie viel ist seelisch, sittlich verloren gegangen?
Lässt der Autor seine Heldin fragen. Juri Rytcheu, der schon seit Jahrzehnten in Leningrad/St.Petersburg lebt und in Sowjetzeiten ein gefeierter Autor war, wird heute in Russland nicht mehr gedruckt, weil seine Themen nicht interessieren. Das geht aber nicht nur Rytcheu so, auch bekanntere Autoren haben ihre Leser verloren. Rytcheus Bücher erscheinen heute vor allem in der Schweiz. "Die Reise der Anna Odinzowa" wurde aus dem Manuskript übersetzt. Anna kommt gerade in dem Augenblick nach Tschukotka, in dem die durch den Zweiten Weltkrieg aufgehaltene Kollektivierung der Rentierherden vollendet werden soll. Den Herdenbesitzern werden ihre Herden fortgenommen, sie selbst als "Volksfeinde" in sog. "finstere Häuser" gesperrt. So etwas hat es in der Tundra noch nie gegeben. Aus dem europäischen Landesteil ist der gleiche Vorgang als "Entkulakisierung" bekannt. Anna Odinzowa ist eher unpolitisch. Es ist vor allem ihr neues Leben in der Jaranga, das sie interessiert und das sie als Wissenschaftlerin beobachtet und beschreibt. Schnell erfährt sie, dass ihr Schwiegervater Rinto ein Schamane ist, kein "Tundrazauberer", wie sie zu wissen glaubte, sondern ein Enenylyn, "Ein von Höheren Mächten Beseelter", "Ein über göttliche Kraft Verfügender":
Ein echter tschuktschischer Schamane ist ein Universalgenie, eine Bibliothek, eine Apotheke, ein meteorologischer Dienst, ein Veterinär, ein historisches Archiv und noch vieles, vieles andere in einer Person.
Notiert Anna in ihrem Tagebuch, in dem sie vor allem ihre ethnographischen Beobachtungen festhält. Diese sind e i n e von mehreren Erzählperspektiven und verbürgen gewissermaßen "Authentizität". Erzählt wird aber auch aus der Perspektive von Annas tschuktschischer Familie, die vor den Kollektivierern immer weiter in die Täler des Anadyrer Hochlands zurückweicht:
In dem äußerlich monotonen Leben hier bleibt fast keine freie Zeit, das erklärt die ziemlich großen Lücken in meinem Tagebuch. Man muss eine Jaranga aufstellen, Felle ausklopfen, nähen, das Feuer unterhalten, Mahlzeiten kochen, getrocknete Kleidung walken, neue Einlegesohlen für Fellstiefel fertigen, sie ausbessern. Schreiben – das wäre für meine Umgebung sonderbar und unbegreiflich gewesen. Gegen Abend habe ich nur einen Wunsch – möglichst schnell auf mein Renfell-Lager zu sinken, mich mit dem Kalbfell zuzudecken und in tiefem, traumlosem Schlaf alles zu vergessen. Die Träume von meinem einstigen Leben, von Leningrad, sind völlig verschwunden. Ich träume nur Wirrwarr, der sich längst verflüchtigt hat, sowie ich die Augen aufschlage.
Immer tiefer dringt Anna in das Leben der Nomaden ein, wird selbst eine Tundra-Frau, bekommt eine Tochter, die sie später verliert, akzeptiert aus wissenschaftlicher Neugier die Zweitfrau ihres Mannes, entdeckt das Schamanentum ihres Schwiegervaters und wird von diesem zur Nachfolgerin bestimmt. Nicht den beiden Söhnen übergibt Rinto sein Schamanen-Wissen und seine Schamanen-Gabe, sondern Anna, der Tangitan-Schwiegertochter:
Ich bin gewissermaßen in eine Zeit versetzt, die vor die Erbauung der ägyptischen Pyramiden zurückführt, vor Troja, vor die Reisen des Odysseus, weit vor das Auftreten der ersten christlichen Prediger. Genau genommen leben die Tschuktschen und viele Völker unseres Nordens, zu denen die Revolution gekommen ist, noch in jener Zeit... Das einzige, was mich beunruhigt, ist, dass die Sowjetmacht alles zerstören kann, wenn sie unser Lager in den Kolchos treibt. Die Zerstörung der alten Kultur ist in den Siedlungen am Meeresufer voll im Gange und an ihrer Statt entsteht eine hässliche Hybride.
Aber der äußerste Grenzbezirk der Sowjetunion soll nun einmal, wie es heißt, "ein Bereich durchgängiger Kollektivierung" werden. Natürlich wird das Lager entdeckt. Die Staatsmacht tritt in Gestalt des Eskimos Atata auf, der es zum Hauptmann der Staatssicherheit gebracht hat und "das schlimme fröhlich machende Wasser" liebt, also trinkt. Alle haben Angst vor ihm. Die Strafexpedition gegen Rintos Lager führt Atata um so eifriger durch, als er sich zu Anna Odinzowa hingezogen fühlt. Rinto aber will seine Tiere nicht hergeben. Eine Katastrophe bahnt sich an. Am Ende gelingt Anna die Flucht über die Beringstraße nach Alaska, wo Juri Rytcheu sie viele Jahre später kennenlernt. Der Roman basiert also auf einer wahren Begebenheit. Die Erzählung spielt auf drei Ebenen, einer ethnographischen, einer historischen und einer privaten. Die private Ebene, also die Liebesgeschichte von Anna, Tanat und Atata, wirkt eher trivial. Aber die Darstellung der historischen Entwicklung, der ethnographischen Besonderheiten und der Psychologie der Ureinwohner ist authentisch. Wer heute etwas über die tragische Geschichte der Tschuktschen erfahren will, über die in Russland eine Zeitlang Witze erzählt wurden wie in Deutschland über die Ostfriesen, muss Juri Rytcheu lesen.
Juri Rytcheu: Die Reise der Anna Odinzowa, Unionsverlag, Zürich 2002. Im selben Verlag erschienen ist auch das jüngste Werk Rytcheus: Der letzte Schamane - Die Tschuktschen-Saga, Unionsverlag, Zürich 2002.