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Juristische Pioniertat

Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gegen die Führung des nationalsozialistischen Deutschlands waren ein Novum in der internationalen Rechtsgeschichte mit hohem Aufklärungswert. Erst durch die Prozesse erfuhr eine breite Öffentlichkeit von den Gräueltaten, die in deutschem Namen begangen worden waren. Vor 60 Jahren wurden die Urteile gegen die Hauptkriegsverbrecher verkündet.

Von Peter Hölzle | 30.09.2006
    "Angeklagter Hermann Wilhelm Göring! Gemäß den Punkten der Anklageschrift, unter denen Sie für schuldig befunden wurden, verurteilt Sie das Internationale Militärgericht zum Tode durch den Strang."

    Eine Momentaufnahme aus dem Nürnberger Justizpalast, in dem am 30. September 1946 im Hauptkriegsverbrecherprozess die Urteile gefällt wurden. In einer Live-Schaltung aus dem Gerichtssaal schildert ein Rundfunkreporter den Hörern die Reaktion des Angeklagten, des vordem zweitmächtigsten Mannes im nationalsozialistischen Deutschland, den Hitler einst zu seinem Nachfolger bestimmt hatte:

    "Er hat dieses Urteil in lässiger Haltung sitzend mitangehört. Seine einzige Reaktion war, dass er Heß mit dem Ellbogen angestoßen hat, so als wollte er sagen: 'Was sagst Du dazu?'"

    Der mitangeklagte Rudolf Heß, ehemals Stellvertreter des Parteiführers Hitler und die Nummer drei in der NS-Hierarie, hatte nichts mehr zu sagen. Ihm hatte der Prozess längst die Sprache verschlagen, obwohl ihn eine nicht ganz so strenge Strafe erwartete:

    "Angeklagter Rudolf Heß! Gemäß den Punkten der Anklageschrift, unter denen Sie für schuldig befunden wurden, verurteilt Sie das Internationale Militärgericht zu lebenslänglichem Gefängnis."

    Neben Göring und Heß fand auch die übrige Staats- und Parteiprominenz, soweit die Siegermächte sie zu fassen bekommen hatten, ihre Richter. Todesurteile wurden über Reichsaußenminister von Ribbentrop, den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Willhelm Keitel, den Chefideologen und späteren Minister für die besetzten Ostgebiete, Alfred Rosenberg, den Reichsinnenminister und nachmaligen Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, Willhelm Frick, wie über sieben weitere hohe Funktionsträger der braunen Diktatur verhängt. Mit Haftstrafen zwischen zehn Jahren und lebenslänglich kamen außer Heß sieben Angeklagte davon; unter ihnen Hitlers Rüstungsminister und Lieblingsarchitekt Albert Speer, Reichsjugendführer Baldur von Schirach sowie die Admirale Erich Raeder und Karl Dönitz. Freisprüche gab es für Hitlers "Steigbügelhalter" und kurzzeitigen Vizekanzler, Franz von Papen, für den Bankier und Kriegswirtschaftsbevollmächtigten Hjalmar Schacht wie für des Führers Lautsprecher im Rundfunk, den Chefkommentator Hans Fritzsche.

    Nur wenige der Angeklagten, unter ihnen Speer, von Schirach und Fritzsche, zeigten im Prozess Reue, was sich positiv auf die Urteile gegen sie auswirkte. Die meisten anderen Angeklagten hingegen beharrten auf ihrer Unschuld, obwohl die Beweislast erdrückend war.

    "33 von der Anklagebehörde benannte Zeugen haben mündlich gegen die einzelnen Angeklagten ausgesagt, und 61 Zeugen sagten für die Verteidigung aus. Weitere 143 Zeugen machten ihre Aussagen für die Verteidigung in Form schriftlicher Antworten. Ein großer Teil der dem Gerichtshof vorgelegten Beweisstücke bestand in Dokumenten, die von den alliierten Armeen in deutschen Armeehauptquartieren, Regierungsgebäuden und sonstwo aufgefunden worden waren. So ruht also die Anklage gegen die Beschuldigten in weitem Maße auf von ihnen selbst stammenden Dokumenten, deren Echtheit außer in ein oder zwei Fällen nicht angefochten worden ist."

    Das gewaltige Anklagematerial, das das Gericht an jenem 30. September 1946 nochmals auflistete, war auf vier Schwerpunkte konzentriert: Planung und Führung eines Angriffskrieges, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. Da die meisten Angeklagten entweder in allen oder in mehreren Punkten für schuldig befunden wurden, verhängte das Nürnberger Tribunal überwiegend Todesstrafen, die am 15. und 16. Oktober vollstreckt wurden. Nur Göring entzog sich der Hinrichtung durch Selbstmord.

    Die Nürnberger Prozesse wurden hauptsächlich von deutscher Seite als Siegerjustiz kritisiert, weil rückwirkend Strafnormen angewandt und Kriegsverbrechen der Alliierten nicht geahndet wurden. Darüber wurde ihre eigentliche Bedeutung gern übersehen. Erstmals erfuhr eine breite Öffentlichkeit im In- und Ausland vom ungeheuren Ausmaß der Verbrechen, die im Namen des deutschen Volkes im Zweiten Weltkrieg begangen worden waren. Und erstmals wurden Regierende, die für diese Schandtaten verantwortlich waren, von einem Gericht zur Rechenschaft gezogen. Insofern schrieben die Nürnberger Richter Rechtsgeschichte, die bis heute lebendig ist. Der Haager Internationale Gerichtshof, der den in den letzten Balkankriegen begangenen Untaten nachgeht, wäre ohne das Nürnberger Tribunal nicht denkbar.