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Kaddisch
Gott loben im schrecklichsten Moment

Das jüdische Totengebet ist tieftraurig und hymnisch zugleich. Dichter und Musiker hat es inspiriert, oft zu einer Anklage Gottes. Leonard Bernstein und Leonard Cohen, Imre Kertész' und Allen Ginsberg haben aus dem Kaddisch Kunst gemacht.

Von Gerald Beyrodt | 15.11.2017
    Gedenksteine auf einem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof Weißensee, aufgenommen am 22.07.2014.
    Wie kann man Gott loben angesichts des Todes? (picture alliance / dpa / Matthias Tödt)
    "Sein großer Name werde erhoben und geheiligt ..." - "Amén" - "... in der Welt, die er nach seinem Willen geschaffen hat."
    Wenn ein naher Verwandter stirbt, der Vater, die Mutter, sollen Juden ein Jahr lang in der Synagoge das Kaddisch sprechen, ebenso in späteren Jahren am Todestag. Dass Juden das Kaddisch als Totengebet verwenden hat Dichter, Schriftsteller und Musiker immer wieder inspiriert.
    "Gelobt und gepriesen, verherrlicht und erhoben, erhöht und gefeiert, hoch erhoben und gerühmt sei der Name des Heiligen, gelobt sei Er ..."
    Wenn die Eltern sterben, beten ihre Kinder das Kaddisch: traditionell nur die Söhne, heutzutage immer öfter auch die Töchter. Selbst in der Orthodoxie, wo im Gottesdienst keine Gleichberechtigung herrscht, können Frauen das manchmal durchsetzen. Auch die Söhne und Töchter, die sich vom Judentum entfernt haben, sprechen das Kaddisch. Der Journalist Leon Wieseltier beschreibt seine Annäherung an die Religion der Kindheit.
    "'Erhoben und geheiligt ...' Die Laute ergossen sich in die Grube und schlugen krachend auf den Sarg meines Vaters. Ich sah zu, wie die Worte auf der Holzoberfläche zersprangen, genau wie die Erdklumpen, die darauf fielen. Ich sah die Buchstaben und ihre Schatten. Schließlich verschwanden sie in der Erde. Sie wurden mit ihm begraben."
    Wieseltiers Buch über sein Trauerjahr nach dem Tod seines Vaters ist 555 Seiten lang. Obwohl das Kaddisch als Totengebet fungiert, kommt das Wort "Tod" in dem aramäischen Text nicht vor.
    "Erhaben über allem Lob und Gesang, Preisung und Trostwollen, die in der Welt gesprochen werden, und sprechet: Amén."
    Gott hat den Regenbogen weggenommen
    Das Kaddisch ist ein Gotteslob. Für Trauernde heißt das: Ausgerechnet im schwierigsten Moment sollen sie Gott loben. Für Dichter, Autoren und Komponisten immer wieder eine Provokation - und ein Anstoß. Wie kann man Gott loben angesichts des Todes?
    Und da das Kaddisch auch ein Totengebet zur Schoah geworden ist, stellt sich auch die Frage: Wie kann man Gott loben angesichts der Gräuel von Auschwitz? Leonard Bernsteins Dritte Symphonie beginnt mit der Ankündigung eines Sprechers, er werde jetzt "sein eigenes Kaddisch" vortragen. Das gerät zur Anklage Gottes:
    "A Lord of hosts, I call you to account. You let this happen, Lord of hosts. You with your manner, your pillow of fire. You ask for faith. Where is your own? Why have you taken away your rainbow, that tiny bow tied around your finger? To remind you never to forget your promise."
    Ein Regenbogen, ausgestreckte Hände greifen danach
    Der Regenbogen - im Judentum das Symbol für den Bund zwischen Gott und dem Volk Israel (picture alliance/dpa/Foto: Patrick Seeger)
    Wenn Gott seinen Regenbogen wegnimmt, heißt das: Er hat den Bund aufgekündigt - oder er hat den Bund schlicht vergessen, wie Bernsteins Text suggeriert.
    Keine Trauer ohne Freude - keine Freude ohne Trauer
    In der Synagoge oder im Lehrhaus wird das Kaddisch unterschiedlich eingesetzt: als Gebet nach gemeinsamen Textdiskussionen, die Juden kurz und knapp als "Tora lernen" bezeichnen, und auch als Zäsur im jüdischen Gottesdienst. Wann genau man welches Kaddisch verwendet, ist, wie vieles im Judentum, streng geregelt. Dazu Rabbiner Nils Ederberg aus Berlin:
    "Wir haben, mindestens im aschkenasischen Gottesdienst, sechs Varianten."
    Aschkenasim sind Juden mit Wurzeln in Deutschland und Osteuropa.
    "Das war das Gebet, das traditionell am Ende von jedem Gottesdienst stand. Jeder jüdische Gottesdienst hat gegen Ende ein ganzes Kaddisch, dann gibt es das sogenannte halbe Kaddisch, Chazi Kaddisch, und das ist eine Art Komma zwischen einzelnen Gottesdienstteilen. So dass man sagen kann: Wir haben Komma, halbes Kaddisch, und Punkt, das ganze Kaddisch."
    Zwischen den einzelnen Themenblöcken des jüdischen Gottesdienstes steht jeweils ein gesungenes Kaddisch, in einer kurzen Version. Es nennt sich halbes Kaddisch oder Chazi Kaddisch. Ein solches halbes Kaddisch hat der Nicht-Jude Maurice Ravel vertont.
    Nicht jedes Kaddisch klingt so ernst und getragen wie dieses. Aber Ravel hat sich an den Melodiemustern der hohen Feiertage orientiert, wenn ernste Töne in der Synagoge dominieren. Schließlich ist von Gottes Gericht die Rede. Gott entscheidet nach jüdischer Vorstellung am Neujahrsfest Rosch ha-Schana und am Versöhnungstag Jom Kippur, wer im kommenden Jahr leben wird.
    Doch das Kaddisch kann auch völlig anders klingen: fröhlich und lebensbejahend. Das Kaddisch ist nie nur traurig oder fröhlich. Das Kaddisch ist immer beides. Überhaupt gibt es im Judentum kein Freudenfest ohne ein bisschen Trauer und keinen Trauertag ohne einen Funken Freude oder Optimismus. Ein Gebet wie zartbittere Schokolade. Diese Ambivalenz macht ganz sicher einen großen Teil der Faszination und der Provokation des Kaddisch aus.
    "Wenn ich an meine eigene Erfahrung denke, ist da sehr viel, was mit mir passiert ist. Da ist zum einen das Bedürfnis, mit meiner Trauer Formen zu finden, und das Glück, im Judentum Formen zu finden, die hilfreich sind."
    Rabbiner Nils Ederberg ist im Trauerjahr für seine Mutter. Schon vor längerer Zeit ist auch sein Vater gestorben.
    "Es ist jetzt nicht so, dass meine Eltern von mir gewollt hätten, dass ich Kaddisch sage, oder dazu irgendeine innere Verbindung gehabt hätten, sondern es ist meine Art, mit ihrem Tod umzugehen."
    Der Wunsch nach einer besseren Welt
    Das Kaddisch ist in einer Sprache geschrieben, die früher jeder Jude verstanden hat und heute kaum mehr einer, nämlich Aramäisch. Aramäisch sprechen Juden im Gegensatz zu Hebräisch heutzutage nicht mehr. Das Kaddisch stammt wahrscheinlich aus der frühen rabbinischen Zeit, also aus den ersten Jahrhunderten nach Beginn der jüdischen Zeitrechnung. Mancher Jude spricht das Kaddisch fast mechanisch, ohne sich zu fragen, was denn drinsteht. Nils Ederberg sagt:
    "Zusammengefasst ist es ganz einfach: Gott ist groß und Gott soll uns Frieden, Erlösung, Errettung schicken, schnell. Es ist im jüdischen Kontext ganz klar: Diese Art von Erlösung bedeutet endzeitliche Erlösung, dass es kein Böses, kein Leiden, keinen Tod mehr auf der Welt gibt."
    Gelobt, gepriesen, verherrlicht, erhoben, erhöht und gefeiert: Unendlich viele Adjektive dienen dem Lob und der Ehre Gottes. Die Worte überbieten sich gegenseitig und sollen vor allem eines deutlich machen: Gottes Herrlichkeit ist so groß, dass ihm kein Wort die gebührende Ehre erweisen kann.
    "Also 'hochgehoben', 'gerühmt', 'geheiligt': Das macht keinen großen Sinn, sich genau lexikalisch zu überlegen, was bedeutet welches Wort, sondern man sucht alle Worte zusammen um zu sagen, Gott ist groß, Gott ist heilig."
    In zahlreichen jüdischen Texten verbinden die Betenden das Lob mit der Bitte. Zum Beispiel mit der Bitte um materielles Wohlergehen. Wer lobt und vielleicht sogar schmeichelt, der will auch etwas. Diese Alltagsweisheit trifft auf wichtige jüdische Gebete zu. Im Kaddisch wünschen sich Juden eine bessere Welt - nicht nur, aber auch im politischen Sinn. Nils Ederberg sagt:
    "Es wird, und das ist typisch jüdisch, das Lob Gottes, die Anrede Gottes, verbunden mit der Bitte an Gott auf eine Änderung in dieser Welt zum besseren. Das wäre eine endzeitliche, eine messianische Bitte, wobei das schwierig ist in den Bildern. Was bedeutet Endzeit? Das bedeutet nicht, dass die Körperlichkeit aufhört, die Idee ist ja sogar, dass am Ende der Tage alle Verstorbenen wieder ihre Körperlichkeit zurückgewinnen, das Bild aus dem Propheten Ezechiel, dass die Gebeine wieder Fleisch auf die Rippen bekommen und wieder lebendig werden, drückt das ganz gut aus. Aber die Tendenz ist eigentlich, dass Gott diese Welt so ändert, dass innerhalb dieser Welt alles ganz anders wird, es ist keine andere Welt."
    "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind"
    "'Nein!', sagte ich augenblicklich, sofort und ohne zu zögern, gewissermaßen instinktiv, weil es inzwischen ganz normal ist, dass unsere Instinkte gegen unsere Instinkte arbeiten, dass quasi unsere Gegeninstinkte statt unserer Instinkte arbeiten, ja mehr noch - so geistreichelte ich, falls das geistreich genannt werden kann, das heißt: falls die nackte jämmerliche Wahrheit geistreich genannt werden kann ..."
    So beginnt Imre Kertész' Roman "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind" von 1990. Der erste Satz ist aber noch längst nicht zu Ende:
    "... so erzählte ich also dem Philosophen, der mir entgegengekommen war, nachdem er, als ich in dem verkümmernden und vor Krankheit, vielleicht vor Schwindsucht, fast hörbar keuchenden Buchenwald eingehalten hatten, diesem Buchenhain oder wie ich es nennen soll, ich gestehe was schwach und unwissend, was Bäume angeht, ich erkenne nur die Fichte an ihren Nadeln, dazu die Platane, weil ich die Platane liebe, und was ich liebe, das erkenne ich sogar noch heute, selbst mit meinen Gegeninstinkten erkenne ich es, wenn auch nicht mit jener würgenden, den Magen zur Faust ballenden, sprungbereiten, elektrisierenden Erkenntnis, mit der ich das erkenne, was ich hasse."
    Erst nach einigen Seiten erfahren wir, welche Frage der Erzähler mit dem anfänglichen Nein beantwortet. Nämlich die Frage, ob er Kinder habe. Eine harmlos gemeinte Gesprächseröffnung für so etwas wie einen Smalltalk. Der Ich-Erzähler hat die Konzentrationslager überlebt und keine Kinder in die Welt setzen wollen. "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind": Das ist ein Kaddisch für ein Kind, das der Erzähler wegen seines Traumas nicht bekommen konnte, nicht bekommen wollte. Manchmal spricht er dieses Kind, das es nicht gibt, in seinem Text sogar mit Du an. Und es ist wohl kein Zufall, dass er sich mit dem Philosophen ausgerechnet in einem Buchenwald unterhält.
    Der Schriftsteller Imre Kertesz
    Imre Kertész vereint in seinem Buch die Stille Paul Celans und den Wortschwall Thomas Bernhards (imago stock&people)
    Trotz des bitterernsten Themas muss man beim Lesen lächeln, über diese weitschweifigen Sätze, die nicht enden wollen. Vielleicht liegt in dieser Weitschweifigkeit eine gewisse Nähe zum Kaddisch, denn auch das ist um Wortwiederholungen nicht verlegen. Doch ganz sicher stammt diese Methode des Wortschwalls, der endlos wiederholenden Varianten von einem literarischen Gewährsmann, den Kertész ausdrücklich mehrmals nennt: von dem Österreicher Thomas Bernhard. In dessen Romanen schimpft ein erzählerisches Ich oft seitenlang zum Beispiel über die verdrängte Nazivergangenheit in Österreich.
    Über Kertész' Roman steht als Motto ein Zitat aus Paul Celans "Todesfuge". Immer wieder zitiert Kertész auch im Text das Gedicht, kommt aber auch auf die Themen seines Textes zurück wie in einer Fuge. Bernhard und Celan: eine skurrile Mischung. Denn während Bernhards literarische Methode der Wortschwall ist, ist es bei Celan das Schweigen. Wortschwall und Schweigen haben bei Kertész viel miteinander zu tun. An einer Stelle erklärt der Erzähler, warum er die Unterhaltung mit dem Philosophen, Doktor Oblath, nicht abbricht.
    "(...) bis zuletzt blieb ich verzaubert aufgrund meines schlechten Gewissens (meines Ekels), das oder den ich, wer weiß warum, aber zweifellos wegen der Leere empfand, die ich mit meinem Redezwang zu verdecken suchte, bei ihm, um nichts zu sehen, zu hören, oder sprechen zu müssen, worüber ich sprechen müssen, und wer weiß, womöglich auch hätte schreiben müssen."
    Der Wortschwall deckt die innere Leere zu. Der Roman "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind" ist auch die Geschichte einer gescheiterten Liebesbeziehung. Denn der Erzähler verweigert seiner Frau, ein gemeinsames Kind zu bekommen. Sie kommt in dem kurzen Roman nur als "meine Frau" vor, ist auch Jüdin, war aber nicht in Auschwitz. Ihr Name wird nicht genannt. Am Ende muss der Erzähler ernüchtert sehen, wie ihn seine frühere Frau mit zwei Kindern begrüßt, die sie mit ihrem neuen Mann hat. Die Kinder werden gebeten, "dem Onkel" doch guten Tag zu sagen.
    Kertész zitiert kein Kaddisch. Und doch hat sein kurzer Roman viel mit dem jüdischen liturgischen Text zu tun. Denn der Roman kehrt die Generationenfolge um: Normalerweise sprechen Söhne für ihre verstorbenen Eltern das Kaddisch. Hier gilt das Kaddisch dem ungeborenen und ungewollten Kind. Der Erzähler betont, wie wenig er mit dem Judentum zu tun hat. Die Nazis machten ihn zum Juden. Für das Judentum ist eine intakte Generationenfolge zentral. Die Kinder sollen sich im Judentum so zuhause fühlen, dass sie sich wenigstens ein Kaddisch für die verstorbenen Eltern abringen können. All das kann in diesem Holocaust-Roman nicht mehr funktionieren.
    Der Tod als Heilmittel
    Es ist beinahe gleichgültig, wie viel ein Jude von seiner Religion hält, ob er sie ablehnt oder täglich studiert: Das Kaddisch kennen alle. Auch der amerikanische Pop-Lyriker Allen Ginsberg, der sich sonst eher fernöstlicher Meditation, Marihuana und vor allem Sex widmete, hat ein Kaddisch-Gedicht geschrieben und im Jahr 1961 veröffentlicht - ein sehr anrührendes, langes Gedicht über seine Mutter Naomi Ginsberg. Die ganze Nacht hat er gebetet und dazu Platten des Jazz- und Blues-Sängers Ray Charles gehört, jetzt geht er durch Manhattan spazieren. Eine Originalaufnahme:
    "Strange now to think of you, gone without corsets & eyes, while I walk on the sunny pavement of Greenich Village. / Downtown Manhattan, clear winter noon, and I've been up all night, / talking, talking, reading the Kaddish aloud, listening to Ray Charles / blues shout blind on the phonograph the rhythm the rhythm"
    Blues, blind auf den Plattenteller geschrien. Dann vermischen sich der Rhythmus des Kaddisch und der Rhythmus des blinden Sängers Ray Charles.
    "And your memory in my head three years after / And read Adonais triumphant stanzas aloud wept realising how we suffer."
    Das Kaddisch als "Adonais triumphale Stanzen". Adonai ist eine jüdische Bezeichnung für Gott, am ehesten übersetzbar als "der Herr", und Stanzen sind ein italienisches Versmaß aus der Renaissance. Zwar ist das Kaddisch nicht in Stanzen geschrieben, aber triumphal ist es allemal. Anrührend das Bild vom lyrischen Ich, das weinen muss über das menschliche Leid.
    Der US-amerikanische Schriftsteller und Lyriker Allen Ginsberg, ein älterer Herr mit Stirnglatze und Brille.
    "Blessed be He in Paranoia!" - Allen Ginsberg hat für seine Mutter ein ganz eigenes Kaddisch geschrieben (picture-alliance / dpa)
    Und ganz nebenbei erklärt uns Allen Ginsberg - oder sein lyrisches Ich -, wozu Dichtung und Religion gut sind. Alle Dichter, so behauptet Ginsberg - oder sein lyrisches Ich -, träumen vom Tod als Heilmittel, als Medikament.
    "And how death is that remedy all singers dream of, sing, remember, prophecy as in the Hebrew Anthem or the Buddhist book of answers - and my own imagination of a withered leaf at dawn."
    Wichtig ist vor allem: Das lyrische Ich empfindet den Tod der Mutter als Heilmittel - nach einem Leben, das so ganz und gar nicht heil war, wie er gleich schildern wird.
    Allen Ginsberg erinnert sich, wie seine Mutter Naomi 50 Jahre vorher in Manhattan angekommen war, aus Russland kommend: an ihre Heirat, ihre Schizophrenie, die Nervenheilanstalten, an ihre Angst vor Hitler, die viele Jahre später immer wieder hochkommt, an ihren Tod. Und natürlich spielt Ginsbergs eigenes Lebensthema eine Rolle: seine Homosexualität.
    "Blessed, praised, magnified, lauded, exalted the name of the Holy, blessed is He! In the house in Newark blessed is He! In the madhouse blessed is He! In the house of death blessed is He! Blessed be He in Homosexuality! Blessed be He in Paranoia! Blessed be He in the city! Blessed be He in the Book!"
    Ginsberg verknüpft das eigene Leben mit dem seiner Mutter und mit den Lobpreisungen des Kaddisch. Sein Gedicht ist Totenklage und Gotteslob zugleich und damit dem Kaddisch ganz nah.
    "Wir töten das Licht"
    Leonard Cohen hat auf seiner letzten CD vor seinem Tod einen Song geschrieben, in dem das Kaddisch vorkommt. "You want it darker", Du willst es dunkler - eine Abrechnung mit Gott, der Massaker und Holocaust zulässt. Und Cohens lyrisches Ich bekennt: Hier bin ich, ich bin bereit, Herr. "Hineini", hier bin ich, sagen in der Bibel Abraham, Isaak und Jakob, wenn Gott sie ruft.
    "Hineini, Hineini - I'm ready my lord."
    "Ich bin bereit, Herr". Für diesen Song hat Cohen den Kantor und den Chor einer Synagoge aus Toronto engagiert. Es ist die Synagoge seiner Kindheit. Weiter heißt es: Gelobt, gepriesen sei Dein heiliger Name. Verunglimpft, gekreuzigt in der menschlichen Gestalt. Leonard Cohen vermischt Bilder aus verschiedenen Religionen. Viele Motive stammen aus dem Christentum - wie hier die Kreuzigung.
    "Magnified, sanctified, be thy holy name. Vilified, crucified in the human frame. A million candles burning for the love that never came. You want it darker - we kill the flame."
    Eine Million Kerzen brennt für die Liebe, die niemals kam. Du willst es dunkler. Wir töten das Licht.
    Soweit der Song. Die Toten stehen nach jüdischer Vorstellung vor Gericht - entweder gleich nach dem Tod oder wenn der Messias kommt - da sind die jüdischen Vorstellungen recht unpräzise. Doch hier denken nicht nur Leonard Cohen oder sein lyrisches Ich angesichts des Todes an das Gericht. Auch Gott wird angeklagt - und im selben Atemzug gelobt. Wie auch immer die Dichter und Musiker das Kaddisch aufgreifen, eines ist sicher: Wer eine jüdische Erziehung gehabt hat, dem steckt das Kaddisch in den Knochen.