Samstag, 27. April 2024

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Kaddish 1-X

Das ist sicher eine der ungewöhnlichsten Buchveröffentlichungen der letzten Jahre: Paulus Böhmers Langgedicht Kaddish 1-X . Ungewöhnlich auch die Tatsache, dass sich, in Zeiten härtester Kalkulationen, ein Verlag dazu bereit gefunden hat, diesen endlosen Wortstrom, dieses Füllhorn der Bilder, Vorstellungen und Sprachspiele auf einen Markt zu bringen, der Sperriges immer weniger zu honorieren weiß. Aber - dies sei vorweg gesagt - selbst wenn es sich nicht gleich auszahlen sollte, Böhmers lyrisches Epos wird bestehen bleiben, zu eigenartig steht es in der literarischen Landschaft unserer Dekade. Schlägt man das Buch auf, fällt sofort das Textlayout ins Auge, die Zeilenfiguren nämlich sind stets zentriert, also grafisch um die Mittelachse gruppiert, wie man es von Arno Holz, dem Dichter des umfangschweren Langgedichts "Phantasus", kennt. Weitergehende Bezüge zum Begründer des Naturalismus negiert Böhmer allerdings, sondern macht rein textinhärente Gründe für diese Anordnung geltend:

Enno Stahl | 05.05.2003
    Ich kann gar nicht mehr genau sagen, wie ich darauf kam. In jedem Fall scheint es mir inzwischen ganz natürlich zu sein, das Blatt wird auf angenehme Art und Weise, grafisch gesehen, bedeckt, und außerdem - und das ist ja noch viel wichtiger - spiegelt's auch wieder den Rhythmus und das Atem-Geben, Atem-Lassen, und das scheint mir, schon vom Schriftbild her sehr überzeugend zu sein.

    Kaddish , das bezeichnet eine jüdische Gebetsform, die das Gedenken der Toten herauf beschwört - nichts anderes hat auch Böhmers großes Menetekel im Sinn. Ein Klageton durchzieht diese Zeilen; ohne je sentimental zu werden, entfaltet der Dichter ein Panorama des Seins, also des Werdens und Vergehens, richtet den Blick auf die kleinen, wunderbaren Details im Leben ebenso wie auf die unendlichen Grausamkeiten gerade auch des letzten Jahrhunderts. Böhmer zielt dabei weniger auf eine Erklärung der Hintergründe ab, er will nicht deuten, sondern literarisch abbilden:

    Wenn ich schreibe, schreibe ich über die Welt als Ganzes, also ich versuche eigentlich das enzyklopädische Totalgedicht zu schreiben. Wo also alle Elemente der Welt, die konkreten Elemente der Welt zusammen fallen, also aus Naturwissenschaft oder Geisteswissenschaft, aus Sex, Politik, aus Mord, aus Totschlag, aus Liebe, alles möchte ich eigentlich zusammen fassen in meinen Gedichten.

    Jorge Luis Borges berichtet in seiner Geschichte Das Aleph von einem magischen Punkt, in dem der gesamte Kosmos, die Unendlichkeit des Erdgeschehens auf minimalen Raum zusammen läuft. Um nicht viel weniger geht es Paulus Böhmer, nämlich darum, schlichtweg alles, was existiert, literarisch zu verorten und zu katalogisieren. Natürlich ist klar, dass ein solches Unternehmen zum Scheitern verurteilt sein muss. Aber die Weite der dichterischen Schau ist beeindruckend, es ist ein poetischer Weltatem, der den Text durchströmt, dessen Sprache sich aus selbst heraus zu bilden scheint, als entwickele das Gedicht ein Eigenleben, von seinem Schöpfer weg. Es kultiviert eine pantheistische Perspektive, in der alles ineinander verflochten wird. Solange ein Bewusstsein registriert, meint man, wird dieser Sprachfluss sich weiter fortbewegen, in einem suggestiven Duktus, dem man fast so atemlos folgt wie einer spannenden Prosa.

    Böhmer, den Christoph Meckel als den deutschen Dichter mit dem größten Wortschatz bezeichnet, formt scheinbar mühelos seine 40-, 50-seitigen Gesänge, ohne stilistische Wiederholungen, ohne thematische Ermüdungen. Da erhebt sich natürlich die Frage nach seiner Werkstatt, lässt sich eine solche Fülle aus dem Bauch heraus erzeugen oder ist es eben schlicht viel Arbeit, Resultat des Sammeins und des Auflistens von Worten?

    Natürlich habe ich Wortlisten. Aber ich habe auch noch was ganz anderes, nennen wir sie mal "Sudelbücher", wie es Lichtenberg getan hat, wo ich eigentlich sammele. Ich sammele seit vielen Jahrzehnten, ich sammele Ausschnitte, ich sammele Worte, Wörter, ich sammele einzelne Verse, ich sammele alles, was mir einfällt, auch meine Einfälle, meine Rohtexte stehen dort alle drin, ich habe also eine riesige [wie soll ich sagen] Vor-Sammlung, ein riesiges Archiv auch, wenn man will. Denn meine Methode ist natürlich auch, unter anderem, die der Montage und der Collage, klar.

    Böhmer arbeitet seit Jahrzehnten am Kaddish , den man getrost als sein opus magnum bezeichnen kann. Einzelne Parts daraus waren bereits in den 90er Jahren veröffentlicht worden, nun sind sie in überarbeiteter Form eingepasst in die Struktur des zehnteiligen, vorläufigen Endresultats. Vorläufig deshalb, weil das Buch zwar zunächst beendet ist, es sich aber - wie Böhmer bemerkt - der Intention nach um einen Text handelt, der eigentlich nicht enden kann. Quasi programmatisch heißt es bei ihm "Der Begriff des Lebens als Begriff einer zu erklärenden Sprache ist nicht selbst zu erklären." Und weil das so ist, müssen diese Langdichtungen sich immer weiter um das Unerklärliche herum ranken, um wenigstens einen Abglanz dessen zu vermitteln, was es sein könnte - das Leben:

    Was lernen wir daraus? Das Leben ist ein kurzer Moment, zu kurz vielleicht, um ihn mit selbstquälerischem Forschen zu vertun, aber die Zeit, die bleibt, sollte man offenen Auges erleben, wahrnehmen und durch dieses Unerklärliche hindurch gehen: "Ihr Brüder, ach, ihr Schwestern:/ Heute ist schon gestern,/ Morgen geht schon aus./ Gestern ist noch heute./ Und die großen und die kleinen Leute/ gehen darin ein./ Und aus." Mit diesen Worten, ausnahmsweise gereimt, geht der große Kaddish Böhmers zuende: Zeit hat keine Bedeutung, der Moment ist ewig, die Dauer ein Augenblick, machen Sie was draus!