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Kadriyes Tod:

Der 17. Dezember 2004. Über vier Jahrzehnte haben die Türken auf diesen Tag gewartet. Immer wieder vertröstet und hingehalten, blickt das Land mit einem überraschenden Optimismus auf dieses Datum. Am 17. Dezember entscheidet die Europäische Union über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Möglicherweise sind die Würfel ja längst gefallen. Jedenfalls will niemand mehr ausschließen, dass die Türkei in 10 bis 15 Jahren Mitglied der Europäischen Union ist. Das sorgt für Diskussionen. Und die Liste der Argumente dafür und dagegen ist lang. Immer offener werden die Vorbehalte artikuliert: Der angepeilte Beitritt folge nur wirtschaftlichen Interessen. Die Geschichte sei zu gegensätzlich, die Kultur zu unterschiedlich, das Wertesystem zu weit auseinander. Die Türken in Europa – diese Vorstellung löst Ängste aus. Eine diffuse Angst vor dem Fremden.

Von Gunnar Köhne |
    Ganz anders die Stimmung in der Türkei. Allein die Aussicht auf eine Mitgliedschaft im Brüsseler Club hat in den letzten zwei Jahren Berge versetzt: Die zunehmende Achtung der Menschenrechte, die Durchsetzung politischer Reformen, die Transparenz, die plötzlich eine offene Diskussion über alte Tabus erlaubt - all das sorgt für Aufbruchstimmung: Weiter so, wir schaffen das! - so die Botschaft nach Brüssel. Und eine zweite gleich hinten dran: Ohne Europa, ohne Beitrittsperspektive geht es nicht weiter, sondern höchstens zurück. Noch aber ist viel zu tun - politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich: Noch gibt es Zwangsverheiratungen, gibt es Gewalt in der Ehe bis hin zum Ehrenmord.

    Kadriye Demirel - ein Name, ein Schicksal, ein Synonym für die Unterdrückung der Frauen in der Türkei. Nach einer Vergewaltigung durch ihren Cousin war die 15-Jährige im fünften Monat schwanger. Ihr mutiger Entschluss, ihren Peiniger anzuzeigen, blieb völlig folgenlos. Am Ende brachte ihr eigener Bruder sie um. Ein Besuch bei Kadriyes Familie gut ein Jahr danach.

    Saime Demirel wiegt ihren Körper hin und her, redet und schaut auf ein Foto in ihrer Hand. Es ist dunkel in der Hütte, die Demirels konnten die letzte Stromrechnung nicht bezahlen. Im Kerzenschein ist ihr Sohn Ahmet auf dem Foto zu erkennen, ernst und aufrecht blickt er in die Kamera. Ein anderes Bild zeigt den 19-Jährigen lächelnd mit seinem jüngsten Bruder auf dem Schoss: Besuchszeit im Gefängnis von Diyarbakir. Saime Demirel lenkt ihren tränenerfüllten Blick gen Zimmerdecke:

    Mein Sohn unterschied sich von den anderen wie Tag und Nacht. Ein großartiges Kind. Er hat sich immer bemüht. Aber Allah hat ihn mir nicht gelassen.

    Das Haus der Demirels in der völlig heruntergekommenen Altstadt von Diyarbakir besteht aus einem einzigen Zimmer für acht Personen. Die zusammengerollten Matratzen stapeln sich in der Ecke, nachts hängen die Eltern einen Vorhang vor ihr Lager. Vor dem Fenster klebt Pappe, der Putz rieselt von den Wänden, die Luft ist klamm. Ein Verschlag dient als Küche, der Abtritt ist auf dem Hof. Hier passte Kadriye jeden Tag auf ihren jüngsten Bruder auf, während die Mutter für ungerechnet 80 Euro im Monat putzen ging – das einzige Einkommen der Familie.

    Saime Demirel schlägt immer wieder die Hände über dem Kopftuch zusammen, während sie das Schicksal ihres Sohnes Ahmet beklagt. Ahmet sitzt im Gefängnis, weil er seine Schwester Kadriye getötet hat. Mit einem Hackmesser hat er sie auf offener Strasse niedergemetzelt. Für die Demirels gab es nur eine Alternative zum Tod der Tochter, sagt die Mutter heute: Die Heirat mit ihrem Vergewaltiger.

    Dreimal haben wir der Familie eine Heirat vorgeschlagen. Aber die haben nur gesagt: ‹Wir sind zum Tod bereit, aber eure Tochter wollen wir nicht. ›Ich sagte: Euer Sohn soll kommen und meiner Tochter von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen. Vielleicht kommt dabei etwas heraus. Aber sie haben abgelehnt.

    Der Vater ist Alkoholiker, er hockt schwankend auf einem Kissen und bringt über das Geschehene keinen verständlichen Satz zu Stande. Der sechsjährige Sohn liegt apathisch vor sich hinstarrend in der Ecke – vor kurzem ist er von einem Auto angefahren worden. Einen Arztbesuch können sich die Demirels nicht leisten. Lesen und schreiben kann niemand von ihnen, auch Kadriye durfte nie eine Schule besuchen. Die Demirels leben ganz unten in einer Region die zu den ärmsten des Landes zählt. Sie haben nichts – außer ihrer Vorstellung von Ehre.

    Ahmet kam nach Hause und sagte: ‹Ich will mit der Schwester sprechen. 'Na gut, sagte ich, wenn du sprechen willst, sprich.’ Er nahm sie hinaus in den Hof. Dort setzten sie sich, und ich habe sie noch eine Weile vom Fenster aus gesehen. Dann bin ich eingeschlafen und erst wieder aufgewacht, als die Polizei kam.

    Schweigend an einer Zigarette ziehend sitzt der älteste Bruder Ahmets im Schneidersitz auf dem fleckigen Teppich. Seit seiner Rückkehr vom Militärdienst ist er arbeitslos. Auch er behauptet, er habe geschlafen, als seine Schwester starb, und zuckt heute mit den Achseln:

    Das hätte nicht geschehen sollen, aber passiert ist passiert.

    In den Gassen der Altstadt steht die schwere Luft von Essensdünsten, Frauen huschen stumm durch die Hoftüren. In dem finsteren Durchgang gleich gegenüber einer Moschee, in dem Ahmet seine Schwester stellte, spielen Kinder mit zerzausten Haaren. Sie sind ärmlich gekleidet und tragen zu große Gummilatschen. Der Täter habe sich mit Drogen aufgeputscht, sagen einige. Andere meinen, die ständigen Bemerkungen seiner Freunde über die befleckte Ehre seiner Familie hätten ausgereicht, ihn zum Äußersten zu treiben.

    (Frau) "Diese Strafe hat das Mädchen nicht verdient. Sie ist ja vergewaltigt worden. Die wusste ja außerdem nicht, was recht und unrecht ist. Wenn wir einen Fehler machen, dann sagen unseren Eltern: Macht einen solchen Fehler nicht noch mal. Das manche den Tod trotzdem verdient haben, kann natürlich sein."
    (Junger Mann) "Anfangs lebte sie noch. Ich habe sie aufgehoben und mit einem Taxi zum Krankenhaus gebracht. Der Bruder ging ganz ruhig davon. Der Ahmet ist eigentlich ein ganz friedlicher Mensch. Aber ich hätte meine Schwester auch schon einmal umbringen können. Damit ich nicht in die Lage komme, passe ich auf, dass sie nicht zuviel auf die Strasse geht.


    Kadriyes Beerdigung geriet zu einer machtvollen Demonstration. Tausende von Frauen trugen den Sarg des Mädchens durch die Strassen von Diyarbakir und forderten ein Ende des Mordens. Ahmet Demirel erhielt die nach Jugendstrafrecht mögliche Höchststrafe: 11 Jahre Gefängnis. Damit haben die Demirels nicht gerechnet. Sie können es nicht glauben. Dem Vater ist das Kinn auf die Brust gefallen. Der Bruder zupft Flusen aus dem Teppich. Seine Mutter fuchtelt mit ihren Händen müde in der Luft herum:

    Der wirklich Schuldige läuft frei herum und kann sich über uns lustig machen. Wenn es einen Staat gäbe, dann wäre der hinter Gittern und nicht mein Sohn. Demnächst vergewaltigt er vielleicht eine andere. Aber wir stehen als Schuldige da, uns wird das Genick gebrochen.

    Dann erinnert sich die Mutter doch noch an ihre Tochter. Sie steht auf, zerrt aus einem Kleiderstapel eine Plastiktüte hervor und entfaltet ein blütenweißes Kleid.

    Das sollte sie zu ihrer Hochzeit anziehen.

    Das Los der Frauen in der patriarchalischen Gesellschaft der Türkei: Das ist das Thema der türkischen Schriftstellerin Aysel Özakin. Sie wurde 1942 in Urfa geboren, einer konservativ geprägten Ein-Millionenstadt in Südanatolien. In vielen ihrer Romane und Erzählungen beschreibt Özakin den Kampf junger Frauen gegen die türkische Männergesellschaft. Ihre Erzählung Die kalten Nächte der Kleinstadt schildert die Verheiratung einer jungen Frau in der Provinz - Ali heißt der Bräutigam, seine Angetraute bleibt namenlos.

    Die Braut aus den Bergen, dort, wo die Winter streng und bitterkalt waren, stand jetzt neben einem leeren Sessel. Ihre traurigen Augen waren wie gefrorene Tropfen. Um in den heiligen Stand der Ehe treten zu können, musste sie an der Seite der anderen mit einem schweigsamen Gesicht , in dem alle Freude erstarrt war, eine lange Prozedur überstehen, sie durfte sich nicht bewegen, sich nie ins Gespräch einmischen. In dem kleinen holzgezimmerten Raum war es heiß. Die Frauen saßen dicht aneinander gedrängt, mit über der Brust verschränkten Armen auf einem Diwan, über den ein neuer Kelim gebreitet worden war. Mit gedämpfter Stimme unterhielten sie sich. Junge Mädchen mit handgefärbten, von jeglichem Sonnenstrahl noch unberührten Kopftüchern, liefen geschäftig hin und her, wobei sie es als ehrenvolle Pflicht betrachteten, an solch einem Tag alle Arbeit im Haus zu verrichten und die Anwesenden zu bedienen.

    Die Hände der Braut, die über ihrer Brust verschränkt lagen, waren rissig und knochig und von dunkler Hautfarbe. Auch wenn sich das Zimmer ganz mit Lachen füllen würde, so musste sie ihre Lippen, wie mit einer eisernen Klammer zusammengepresst, stets geschlossen halten. Jede der im Raum anwesenden älteren Frauen war eine Hüterin der alten Sitten. Die Stadt wuchs und breitete sich aus, sie veränderte sich. Neue Straßen und Häuser brachten fremde Menschen mit sich, deren Verhalten neu und ungewohnt war. Die Frauen, die ihre Zeit meist im Haus verbrachten, empfanden Furcht und Scheu vor der Veränderung, die in der Stadt und in ihren Männern vorging. Sie sahen, dass Risse entstanden im alten soliden Bollwerk der Tradition... Sitten und Gebräuche schufen Gemeinsamkeit und Nähe und waren zugleich ein Zufluchtsort, der sie gegen alles Fremde abschirmte. Die Frauen hielten zäh am Alten fest. Den Töchtern und Schwiegertöchtern gegenüber waren sie streng und ohne jede Nachsicht.