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Kafka-Fragmente

Der in Frankreich lebende griechische Komponist Georges Aperghis ist bereits mit einer ganzen Reihe von Beiträgen zum experimentellen Musiktheater hervorgetreten. "Avis de tempête" ist ein Werk, in dem die musikalische Interpretation mit Videoprojektionen auf zahlreichen Bildschirmen und einer elektronischen Anlage zusammenwirkt. Und auch die Textvorlage von Georges Aperghis und Peter Szendy hat viele Väter: Beide griffen unter anderem auf Fragmente von Werken Herman Melvilles, Franz Kafkas, Charles Baudelaires, William Shakespeares und Victor Hugos zurück. Um geistige Stürme und um innere Orkane geht es dabei. Nach Lille und Paris ist das Stück jetzt an der Belgischen Nationaloper im Kaitheater, im Norden von Brüssel, angekommen.

Von Frieder Reininghaus |
    Ruhig schweben die acht Segel über der Bühne. Sie dürften einerseits für eine gewisse Lenkung der komplexen akustischen Ereignisse hilfreich sein. Andererseits und vor allem dienen sie für Projektionen, die aus einer ganzen Reihe von stationär installierten Kameras gespeist werden. Und von einem mobilen Aufnahmegerät, das die Tänzerin Johanne Saunier in der Hand hält. In die aus der Konserve stammenden Nebelflächen und Wellenbilder mischen sich ruhige Gänge der Sänger. Georges-Elie Octors sorgt für raffinierte Überblendungen, überhaupt für ein durchweg anregendes optisches Geschehen rund um einen Hochstand oder Geräteturm, der aussieht, als wäre er aus der meteorologischen Forschung überkommen.

    Die Segel überdachen auch die zehn Musiker des Ensembles Ictus - zwei Streicher und zwei Keyboarder, den Gitarristen sowie fünf Bläser, deren Klang-Aktionen eigenhändig vom Komponisten noch so manches akustische Material beigemengt wird.

    "Avis de tempête" heißt wörtlich "Sturmwarnung". Man könnte es hier auch interpretieren als "Angesichts des Sturms" oder "Sturm im Verzug", als "Alle Wetter" oder sogar "Sturm im Wasserglas". In der frei durch Texte von Franz Kafka, Herman Melville, Charles Baudelaire, Shakespeare und Victor Hugo schweifenden Vorlage für die Rezitationen und Gesangs-Partikel geht es um den "Sturm in den Gehirnen, in den Texten, in den Musiken zwischen Instrumenten" (nicht anderes als bereits bei der 1996 in Strasbourg uraufgeführten Oper "Tristes tropiques", die Georges Aperghis nach einem Buch von Claude Lévi-Strauss komponierte und in der das Eindringen der Anthropologie in fremde Kulturen, die Probleme von deren Decodierung und Zerstörung durch Kolonialismus reflektiert wurden. Bei "Avis de tempête" liegt eine vergleichbare Grenzüberschreitung vor.) Alles verwirbelt sich: Stimmen, elektronischen Töne, die abwechselnd wie eine große Atmung erscheinen, drohen und verlöschen." Wasserfluten und Feuerschein: von all dem "erzählt" das multimediale Geschehen, diese Kombination von moderatem "Bildersturm" und inwendig dramatischer "Musikstürme": von Störungen und eben vom Auslöschen.

    Auch dieses Projekt begreift sich, wie so manches verwandte, als "eine unaufhörlich neu begonnene Geschichte. Der Körper der Aufführung wird durch innere Unruhen misshandelt." Auch durch unbewegliche Stürme. Eine Art Neuheit unseres Jahrhunderts, wie der Komponist versichert: "Vertikale Stürme - fast ruhig - viel unheimlicher als die Donnerschläge auf dem Land." Und das Ende ist nichts als ein neuer Anfang.