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Kafkas Glück, Kafkas Unglück

Die Romane des 1961 geborenen Schriftstellers Michael Kumpfmüller lehnen sich häufig an reale Geschichten und Begebenheiten. In seinem neuen Werk begibt er sich in die historische Realität, in die Biografie des Schriftstellers Franz Kafka.

Eine Besprechung von Ursula März | 12.09.2011
    Kein anderer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts verkörpert den Zusammenhang von Leiden und Kunst, von Vitalitätsdefizit und Reichtum an Kreativität so stark wie Franz Kafka. Ob sein Leben eine Parabel seiner Literatur ist, oder umgekehrt, diese eine düstere Parabel seiner tragischen Biografie - das ist kaum zu unterscheiden.

    "Der Kampf um Kafkas Überleben begann am 11. April 1924."

    Mit diesem so schlichten wie erschütternden Satz leitet Reiner Stach, der Verfasser einer stupenden Franz-Kafka-Biografie, den Bericht über die letzten Lebensmonate des Dichters ein. Der Kampf ums Überleben betrifft einen 40-jährigen Mann, der seit Jahren an Tuberkulose leidet, weniger als 50 Kilo wiegt, kaum mehr essen, trinken, sprechen kann, da die Krankheit auch seinen Kehlkopf ergriffen hat und der von unmenschlichen Schmerzen gequält wird. Einen Mann, der auf materielle Zuwendungen seine Freunde angewiesen ist, sich bei aller Schwäche der Übergriffe seiner in Prag lebenden Familie zu erwehren sucht, von einem österreichischen Lungensanatorium zum nächsten hin- und hergereicht wird und keinen Platz zum Leben, besser gesagt zum Sterben findet.

    Ein Obdachloser wäre kaum schlechter bestellt als der Dichter Franz Kafka im Jahr 1924. Er ist am Nullpunkt seiner Existenz. Und ist zugleich, wie durch ein paradoxes Wunder, am Ziel eines längst aufgegeben Traums. Denn ein Wunder darf man es nennen, dass Franz Kafka, dessen Verlobungsversuche und desaströse Heiratsprojekte eine Legende für sich sind, in diesen letzten Lebensmonaten zum ersten Mal mit einer Frau zusammen lebt, ohne Scheu vor Nähe und Verbindlichkeit; ja sogar, was Jahre und Jahrzehnte für den ewigen Junggesellen unvorstellbar war, Bett und Tisch teilt. Das Wunder hat einen Namen: Dora Diamant. Sie ist, was keine vor ihr: Franz Kafkas Lebensgefährtin

    "Sie hat wirklich nicht gewusst, wie es ist; sie ist fünfundzwanzig und hat nicht die geringste Ahnung gehabt. Dora kann sich nur wundern über sich, sie hüpft und lacht, sie war so dumm, bis sie ihn getroffen hat, erst jetzt weiß sie Bescheid".

    Diese im Präsenz, erzähltechnisch nah an der inneren Rede verfassten Sätze entstammen keiner Kafka-Biografie, sondern einem Roman, dem neuen Roman des deutschen Schriftstellers Michael Kumpfmüller, der hier ein wagemutiges Unternehmen vorlegt: Die fiktive Erzählung der Liebe von Dora Diamant und Franz Kafka aus der Binnenperspektive der auktorialen Einfühlung. Das Wagemutige daran liegt auf der Hand: Kumpfmüller versetzt sich in den Kopf eines Riesen der Literaturgeschichte, neben dem zu verzwergen im Handumdrehen geschehen kann.

    Und er nimmt eine Deutung des letzten Lebensabschnitts Franz Kafkas vor, die sich schon im Titel des Romans ausdrückt. Er heißt: "Die Herrlichkeit des Lebens". Das Wort Herrlichkeit in Zusammenhang zu bringen mit Kafkas Leben, ist fast eine Provokation. Er litt unter dem tyrannischen Vater, unter seelischen Ängsten und Schrecknissen, unter der Unfähigkeit, eine bürgerliche Existenz aufzubauen, unter schwerster Schlaflosigkeit, unter einer Reihe von Krankheiten und nicht zuletzt unter seinem gestörten Verhältnis zum weiblichen Geschlecht. Kumpfmüllers Roman stellt diesem nahezu monumentalen Leidensbild ein Glücksbild gegenüber, das Bild eines Franz Kafkas, der als Sterbenskranker kaum glauben mag, dass er als Mann mit sich im Reinen ist.

    "Am meisten überrascht den Doktor, dass er schläft. Er ist dabei, sich in ein neues Leben zu stürzen, er müsste sich fürchten, er müsste zweifeln, aber er schläft, die Gespenster lassen sich nicht blicken, obwohl er sie immerzu erwartet, in seinem Kopf die alten Schlachten. Aber diesmal scheint es keine Schlacht zu geben, es gibt das Wunder, und es gibt den Plan, der aus diesem Wunder folgt. Er denkt nicht viel an sie, er atmet sie ein und wieder aus, an den Nachmittagen in der Küche, wenn sie in Gedanken durch Berlin spazieren, beim Essen, wenn ein Duft von ihr herüberweht. Abends, im Bett, beschäftigt er sich ab und zu mit einem Satz, mit einem Stück Haut, dem Saum ihres Rockes, wie sie beim Essen die Gabel hielt, gestern, als er sie nach ihrem Vater gefragt hat, der ein strenggläubiger Jude ist und mit dem sie seit Langem im Zerwürfnis lebt. In seinen Träumen taucht sie vorläufig nicht auf. Aber er verliert sie nicht im Schlaf, weiß am Morgen sofort, dass sie irgendwo ist, als wäre da zwischen ihm und ihr ein Seil, an dem sie sich langsam zueinander hinziehen. Er hat sie bisher kaum berührt, aber nicht nur am Rande weiß er, der Tag wird kommen, an dem er sie berühren wird, doch er hasst sich nicht dafür, fast als wäre es sein Recht und der Schrecken ein überwundener Aberglaube."

    An diesem Absatz wird das Erzählverhalten des Romans deutlich. Er nimmt keine historische Distanz ein, hält sich ohne Kommentierung oder Bewertung der äußeren Umstände konsequent an die Innensicht der beiden Hauptfiguren, Dora Diamant und Franz Kafka. Der Leser von Kumpfmüllers Roman wird mit Informationen aus dem Außenraum der Handlung nur in dem Maß versorgt, wie es die Plausibilität der Innenhandlung erlaubt.

    Auch hierin steckt ein erhebliches Risiko. Denn die unerhörte Innigkeit des Paares Kafka-Diamant ist ohne historischen Kontext und ohne die biografischen Vorgeschichten der Liebenden, genauer gesagt: Ohne Kafkas Sehnsuchtsverhältnis zum Judentum, vor allem zum Ostjudentum und zu Palästina, kaum zu verstehen. Kurz bevor Franz Kafka im Sommer 1923 Dora Diamant kennenlernte, hatte er den Traum, nach Palästina auszuwandern, begraben. Seine körperliche Verfassung machte den Plan zunichte. Diesem zuliebe hatte Kafka monatelang Hebräischstunden bei einer jungen, von Palästina nach Prag übersiedelten Frau genommen, die für ihn das Ideal der religiös verwurzelten, unassimilierten Jüdin verkörperte.

    Im Juli 1923 reist Kafka zur Erholung in den Ostseebadeort Müritz, wie so oft im Schlepptau einer seiner Schwestern, in diesem Jahr der Schwester Elli und ihrer Kinder. Kafka quartiert sich in Strandnähe in der Pension "Glückauf" ein. Er öffnet das Fenster seines Zimmers und hört den Gesang von Kindern, sie singen hebräische Lieder. In einem, in den Romantext eingearbeiteten Brief schreibt er:

    "50 Schritte von meinem Balkon ist ein Ferienheim des Jüdischen Volksheims in Berlin. Durch die Bäume kann ich die Kinder spielen sehen. Fröhliche, gesunde, leidenschaftliche Kinder. Ostjuden, durch Westjuden vor der Gefahr gerettet."

    Ein paar Tage später stattet er dem Ferienheim einen Besuch ab, steht in der Küche und sieht die Frau, die ihm wie eine Epiphanie seines Idealbildes erscheint. Aber der Traum ist Realität.

    "Dora sitzt am Küchentisch und nimmt gerade Fische für das Abendessen aus. Sie hat seit Tagen an ihn gedacht und plötzlich ist er da."

    Dieser Moment der "amour fou" ist historisch verbürgt, wie alles andere der nur ein Jahr, bis zu Kafkas Tod währenden Liebes- und Krankengeschichte, die Michael Kumpfmüller in seinem Roman erzählt. Anders gesagt: Man erfährt nichts informativ Neues, nichts, das über Reiner Stachs Kafka-Biografie hinausginge. Man erfährt es nur auf andere, auf poetisch-sinnliche Weise. Nicht der Stoff, sondern seine Literarisierung, seine Umsetzung in Erzählton, Erzähltempo, Erzählperspektive ist der Kern dieses Buches.

    Was Michael Kumpfmüller sucht, ist eine Art sprachlicher Osmose von Euphorie und Schrecken, von höchstem Lebensglück und äußerster Todesnähe, kondensiert in der kurzen Lebensstrecke eines einzigen Jahres. Kumpfmüller schreibt drängend, hoch gespannt, konzentriert, jeder Satz, jedes Kapitel scheint einem entscheidenden Moment, einer Katharsis zuzustreben. Auf der narrativen Ebene ist dieser Moment Kafkas Tod im Juni 1924. Auf der symbolischen Ebene ist es der Punkt, an dem Euphorie und Tragödie, die Pole menschlicher Existenz, ineinanderfallen. "Die Herrlichkeit des Lebens" ist ein Vexierbild, man kann den Roman als eine Geschichte des Glücks wie des Unglücks erzählen und beides ist richtig. Für diese Dialektik fand Michael Kumpfmüller eine überzeugende Form, eine Mischung aus Pathos und Protokoll.

    Michael Kumpfmüller: "Die Herrlichkeit des Lebens".
    Roman, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, 258 Seiten, 18,99 Euro