Donnerstag, 28. März 2024

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Kafkas Korrespondenz
Briefe wie Literatur

Der Briefwechsel-Band der Kritischen Kafka-Ausgabe gibt Einblick in die Jahre von 1918 bis 1920. Es ist die Zeit des berühmten "Briefs an den Vater" und der Aufenthalte in Sanatorien. Ein Hauptthema dieser Korrespondenz sei aber die Existenz an sich, sagt Herausgeber Hans-Gerd Koch.

Von Stefan Koldehoff | 06.02.2014
    Husten, Fieber, ein Nervenzusammenbruch. Für Franz Kafka begann das Jahr, das Europa das Ende des Ersten Weltkriegs bringen sollte, alles andere als gut. Die Donaumonarchie war zusammengebrochen, die berufliche Zukunft in der halbstaatlichen "Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt" in Prag dadurch ungewiss geworden. Von Felice Bauer hatte Kafka sich nach zwei Verlobungen und Entlobungen 1917 endgültig getrennt. Am Ende desselben Jahres erfuhr der 34-Jährige zudem, dass er an einer Lungentuberkulose erkrankt war.
    Mit dem Jahr 1918 beginnt der neue Band der Kritischen Ausgabe der Werke Franz Kafkas. Wie schon die vorausgehenden Briefausgaben hat auch diese der Wuppertaler Germanistikprofessor Hans-Gerd Koch bearbeitet. Er ist zurzeit der wohl beste Kenner des Autors und weiß um den literarischen Wert der Korrespondenz:
    "Kafka hat immer Literatur geschrieben, und es gibt bei ihm nicht diese Unterscheidung zwischen Autobiografie auf der einen Seite und Werk auf der anderen. Seine Briefe sind auch Literatur, und sie sind so, dass man auch sagen könnte, dass eine seiner Figuren diese Briefe hätte schreiben können. Die Briefe an Max Brod zum Beispiel oder an Miléna Polak hätte auch Gregor Samsa oder Georg Bendemann schreiben können. Es ist Literatur."
    Und so sind auch die Briefe im neuesten Band der Werkausgabe zu lesen: Kaum als Selbstzeugnisse oder gar Selbstoffenbarungen eines der bedeutendsten Schriftsteller der Moderne. Wer diese literatur-voyeuristische Hoffnung hegt, sollte das Buch lieber gleich wieder zur Seite legen. Sein Inhalt ist, Brief für Brief und Adressat für Adressat, ein anderer:
    "Ein Hauptthema dieser Briefe ist die Existenz an sich, ist das Leben. Wie überhaupt für Kafka das wichtigste Thema das Leben war und es ihm immer ein Bedürfnis war – sowohl in den literarischen Texten als auch in seinen wichtigsten Korrespondenzen, den Korrespondenzen mit Frauen, die er geliebt hat, etwas von dem Leben in Worte zu fassen und etwas wie ein gemeinsames Leben herzustellen. Die meisten dieser Korrespondenzen mussten ja große geografische Distanzen überwinden. Und das versteht er, das macht er, indem er einen gemeinsamen Raum schafft und so etwas wie in schriftlicher Form ein gemeinsames Leben auch."
    Literatur über das Leben also. Die allerdings, so hatte Kafka seinem Freund und Schriftstellerkollegen Max Brod in seinen beiden berühmten testamentarischen Anweisungen aufgegeben, sollte nach seinem Tod verbrannt werden – ganz gleich ob Roman, Kurzgeschichte oder Brief. Schon in den ersten Januartagen 1918 gibt es entsprechende Andeutungen:
    "Lieber Max,
    hier die Manuscripte für Deine Frau. Zeig sie niemandem. ( ... ) Die Romane lege ich nicht bei. Warum die alten Anstrengungen aufrühren? Nur deshalb weil ich sie bisher nicht verbrannt habe? Bis (nein wenn ( ... )) ich nächstens komme geschieht es hoffentlich. Worin liegt der Sinn des Aufhebens solcher 'sogar' künstlerisch mißlungener Arbeiten? Darin, dass man hofft dass sich aus diesen Stückchen mein ganzes zusammensetzen wird ( ... )?"
    252 Briefe aus den Jahren 1918 bis 1920 umfasst der neue Band
    Hans-Gerd Koch allerdings kann begründen, warum er sich als Herausgeber auch mit diesem Briefband wieder über Kafkas vermeintlichen Letzten Willen hinweggesetzt hat:
    "Kafka ging es um Verantwortung. Das war das große Thema seines Lebens: dass man selbst Verantwortung für das, was man tut, und für sein Leben übernehmen muss, und ihm war es wichtig, für seine Texte die Verantwortung auch zu tragen. Dem hat er sich zu seinen Lebzeiten gestellt. Aber was die Leute nach seinem Tod aus diesen Texten herauslesen würden, das entzog sich ja seiner Einwirkung. Er konnte dann ja nicht mehr Lesarten korrigieren. Und ich denke, das war der Beweggrund für ihn, seinem besten Freund die Anweisung zu geben, alles zu verbrennen nach Kafkas Tod – genau wissend, dass dieser Freund, der ihn ja immer gedrängt hatte, möglichst alles zu veröffentlichen, diesen letzten Willen ( ... ) nicht erfüllen würde."
    252 Briefe aus den Jahren 1918 bis 1920 umfasst der neue Band. 10 davon waren der Kafka-Forschung bislang unbekannt; Teile der Korrespondenz wurden neu datiert. 45 Antwortschreiben an Kafka überliefert Hans-Gerd Koch ebenfalls – und kommentiert sie so präzise und behutsam wie Kafkas Briefe selbst.
    Es sind die Jahre der neuen Verlobung mit Julie Wohryzek, der Tochter eines Prager Lebensmittelhändlers. Die Korrespondenz mit ihr ist weitgehend verloren, weil ihre Erben Kafkas Briefe Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre an einen Briefmarkenhändler gaben. Der verkaufte sie verstreut weiter – wegen der interessanten Rohrpostmarken. Wer der Absender war, hatte er nicht erkannt.
    Es sind die Jahre des berühmten "Briefs an den Vater", der die neue Liebe unstandesgemäß fand und dem der Sohn deshalb auf 103 handschriftlichen Seiten die charakterlichen Wesensunterschiede zwischen sich und seinem starken und jähzornigen Vater beschreibt und als Grund für seine eigenen Lebensschwierigkeiten benennt. Abgeschickt wurde er nie, veröffentlicht erst 1952, 28 Jahre nach Kafkas Tod.
    Und es sind die Jahre der Sanatorien. Immer wieder hielt sich der Versicherungsangestellte, der in seiner Freizeit ein Dichter war, dort und auf dem Land auf, um seiner Krankheit Herr zu werden. Dort fand er auch Zeit fürs Schreiben. Irgendwann schien die Tuberkulose eingekapselt, Kafka geheilt. Dann aber brach sie durch eine Infektion mit der Spanischen Grippe wieder aus.
    In Kafkas Briefen jener Jahre ist von seinen eigenen Befindlichkeiten allerdings kaum die Rede. Es gibt nur wenige persönliche Äußerungen – meist, nach deren expliziten Nachfragen, gegenüber Max Brod oder der Schwester Ottla, der er sehr nahe stand und die er sieben Monate lang auf dem Gutshof des Schwagers im westböhmischen Zürau besuchte. Nach Prag zurückgekehrt, berichtete Kafka ihr im Juni 1918 zum Beispiel:
    "Liebe Ottla, mir geht es ganz erträglich. Ich bin jeden Vormittag ausser Bett. Draussen war ich noch nicht, vielleicht heute, vielleicht morgen" ...
    ... um gleich danach dann aber lieber wieder nicht über die eigene, sondern über die Situation der Schwester zu sprechen. Ob dem Dichter bewusst war, dass er an der Tuberkulose sterben könnte, ist seinen Briefen nicht zu entnehmen. Gelegentlich nur vermitteln die Briefe den Eindruck, die Endlichkeit von Arbeitszeit und Lebenszeit beschäftigten ihren Absender.
    "Er hat ja überwiegend in Schreibheften geschrieben, weil dadurch schon eine gewisse Begrenzung vorgegeben war. Und er hat sich bemüht, auf dieses Ende des Heftes hin zu schreiben und da auch fertig zu werden. Weil bei ihm, das sagt er ja auch selbst, Texte oft aufs Endlose angelegt sind, und da war dann eben schon rein physisch eine Grenze gesetzt, auf die hin er geschrieben hat. Das hat natürlich noch einen weiteren Aspekt: Kafka war sparsam."
    Es sind entscheidende Jahre im Leben Franz Kafkas, über die seine Briefe im neuesten Band der Werkausgabe Zeugnis ablegen. Sie tun das allerdings wie alle Kafka-Texte stilistisch auf eine Art und Weise, die bei allen direkten, offenen, nicht verklausulierten und metaphernarmen Formulierungen doch in letzter Konsequenz so verschlossen bleiben wie seine übrige Prosa. Die freien, nicht adressierten, angeblich zu verbrennenden Texte aber, die Max Brod der Nachwelt erhalten hat, lesen sich anders, wenn man Kafkas Briefe kennt. Sie nämlich erschließen sich nicht leichter – aber sie öffnen Kafkas Gedankenwelt, sein Selbstverständnis, ein wenig mehr, als es die bewusst literarisch konzipierten Texte vermögen.
    "Wäre ich doch ein Spezialist geworden",
    schreibt Franz Kafka am letzten Tag des Jahres 1920 aus einem Sanatorium in Matliary an seinen Freund Max Brod.
    "Wie sich ihm die Welt vereinfacht! Die Schwäche meines Magens, die Schlaflosigkeit, die Unruhe, kurz alles, was ich bin und habe, geht ihm auf die Lungenerkrankung zurück. Solange sie nicht manifest war, hat sie sich eben in Schwäche des Magens, der Nerven maskiert. ( ... ) Und da ihm das Leid der Welt so klar ist, hat er entsprechend in einem kleinen Ledertäschchen ( ... ) immer auch das Heil der Welt bei sich und spritzt es ihr, wenn sie will, für 12 Kronen ins Blut. ( ... ) Im Ganzen lässt sich sagen: Wenn ich dieses Regime paar Monate körperlich und geistig ( ... ) aushalte, werde ich der Gesundheit sehr nahe kommen."
    Dreieinhalb Jahre später starb Franz Kafka im Alter von 40 Jahren.
    Franz Kafka - Briefe, Band 4 (1918–1920)
    Herausgegeben von Hans-Gerd Koch
    Text, Kommentar und Apparat in einem Band
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2013
    ISBN 978-3-10-038162-0