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Kain und Abel in Afrika

"In Chatila und in Sabra wurden Nicht-Juden von Nicht-Juden niedergemetzelt, was geht das uns an?" Diesen Satz des israelischen Ministerpräsidenten Menahem Begin stellt Jean Genet seinem verstörenden Bericht "4 Stunden in Chatila"voran, den er 1982 über ein Massaker in einem Pallästinenser-Lager abgibt und der gerade in einer Neuausgabe im Merlin-Verlag erschienen ist. An diesen Bericht - man müsste das Motto nur ändern: In Ruanda metzeln sich Nicht-Weiße und Nicht-Weiße gegenseitig nieder - was geht uns das an? - erinnert Hans Christoph Buchs Roman "Kain und Abel in Afrika".

Detlef Grumbach |
    Hans Christoph Buch hat 1995, 1996 und 1997ursprünglich für die "Zeit" über die unfassbare Brutalität des Kriegs in Ruanda geschrieben. Tutsis töten Hutus, Hutus töten Tutsis. Das Hirtenvolk der Tutsis macht etwa 10 Prozent der Bevölkerung Ruandas aus und beherrscht seit Jahrhunderten die neunzig Prozent Hutus, traditionell meist Bauern. Überbevölkerung und die Tatsache, dass das Land seine Einwohner nicht mehr ernähren kann, stürzten es in einen Bruderkampf um die letzten Ressourcen, führten zu Pogromen und Völkermord. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit - die Vertreter der Medien und der Internationalen Hilfsorganisation standen in Sichtweite und tatenlos daneben. Buchs Berichte .liefern keine v anonymen Bilder, keine Totale, sondern Nahaufnahmen , einzelne Namen und Schicksale, Beschreibungen von zerschossenen Gesichtern/ Kain und Abel in Afrika? Ja, aber wer eben noch Abel war, ist jetzt vielleichtt schon Kain.

    Im Unterschied zu seinen Zeitungsberichten verarbeitet der 1944 geborene Autor seine Augenzeugenschaft jetzt zu einem Roman, der nach der eigene Rolle und Haltung fragt und das Geschehen in einen historischen Kontext stellt. Er wechselt die Perspektive, ergänzt die Berichte um reflektierende Nachschriften und fügt einen Erzählstrang aus der Zeit der deutschen Kolonialmacht ein. "Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist", heißt es in einer dieser Nachschriften. Aber wie soll der Erzähler die traumatisierenden Ereignisse vergessen können, wenn er nicht einmal die blutgetränkten Turnschuhe wegwerfen kann, die er als Zeuge eines Massakers in einem Flüchtlingslager getragen hat? Wohin mit diesen Turnschuhen? "Die Antwort auf diese Frage", so heißt es, "ist der vorliegende Roman, und bis zu seiner Fertigstellung hast du die blutbesudelten Schuhe auf dem Grund des Wäschekorbs versteckt oder zwischengelagert, wie man auf neuhochdeutsch sagt." Du - als ob der Er- zähler verstummt ist angesichts des nicht zu beschreibenden Elends, werden die Berichte und die angefügten Nachschriften in der zweiten Person erzählt: aus einer sprachlichen Distanz zum Subjekt, von einer imaginierten Stimme, die sich von außen an ihn richtet und die Dinge ordnet, die den Chronisten beinahe zu einem Getriebenen machen.

    Souverän, in aller Ruhe und in Ich-Form erzählt in drei eingeschobenen Kapiteln dagegen die Stimme eines gewissen Richard Kandt". Kandt, eine historische Figur, kommt 1898 mit Protektion Bismarcks nach Ruanda, das schon seit 1885 dem deutschen Kolonialreich zugeschlagen wurde: Er will dort nach den Quellen des Nils suchen und bisher unbekannte Gebiete kartographieren. Mit einigen Askaris und seinem Boy Mabruk, mit dem ihn eine zarte Liebe verbindet, nähert sich Kandt dem fremden Land. Auch wenn er dies hoch zu Ross, immer etwas von oben herab tut, steht er, bildhaft auch seine Liebe zu Mabruk, für ein anderes Verhältnis zu Afrika, für Neugier und ein beinahe fürsorgliches Interesse. Später dann, von 1907 bis 1914 und Mabruk ist schon lange tot, fungiert er als erster deutscher Statthalter in Kigali. Er vertritt die Interessen der Kolonialmacht, indem er die Herrschaft der Tutsis über die Hutus stärkt, entwickelt aber auch die Landwirtschaft. Kandt selbst, nachdem er vor Verdun begriffen hatte, dass sich der Erste Weltkrieg militärisch nicht gewinnen ließ, starb im April 1918 in einem Lazarett.

    Hier die Geschichte des Chronisten der Grausamkeiten, die uns an Joseph Conrads "Herz der Finsternis" erinnert. Scheinbar losgelöst stehen die beiden Erzählstränge nebeneinander. Doch so wie die Perspektive des heutigen Berichterstatters in der zweiten Person gebrochen ist, so erzählt auch Kandt nicht eins zu eins aus dem Blickwinkel der Jahre 1898 bis 1914. Zunächst dezent eingestreute moderne Floskeln, am Ende ganz deutlich Bekenntnisse zeigen, dass auch seine Stimme aus heutiger Perspektive, zu uns, zu dem Kriegsberichterstatter, spricht: wie aus dem Jenseits, nach dem Zusammenbruch des Kolonialreichs, nach der Erfahrung des mörderischen Ersten Weltkriegs. Die Bilder vom afrikanischen Bruderkampf um lebensnotwenige Ressourcen verbinden sich mit den Bildern aus der Kolonialgeschichte und dem Ersten Weltkrieg zu einem unausgesprochenen Appell an Verantwortung und Moral. Sie werden, wie es in der Nachbemerkung zu diesem aufwühlenden Roman heißt, zum "Menetekel für eine andere Art von Apokalypse, die unserem von Raubbau und Umweltzerstörung verwüsteten Planeten droht."