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Kaleidoskop des Scheiterns

Raoul Schrotts neues Buch erzählt von den Leiden eines entrechteten Vaters. Es ist die grausame Geschichte eines völligen Scheiterns als Vater , Partner und Künstler. Liebe entpuppt sich in diesem Briefroman rasch als totalitäres Modell.

Von Martin Krumbholz | 06.06.2012
    Beginnen wir mit einer Warnung: Raoul Schrotts Erzählung "Das schweigende Kind" macht es dem Leser nicht leicht. Kaum will sich dieses Protokoll des Leidens zu einer geschlossenen Fabel fügen, und was den Konflikt betrifft, so wird er wieder zu einer unerhörten Begebenheit – man fühlt sich eher an Goethes "Werther" erinnert als an ein banales Problembuch. Auch dies ein Briefroman: Der Ich-Erzähler sitzt in der Psychiatrie, hochdepressiv, zudem an Krebs erkrankt, und sein Arzt empfiehlt ihm, einen Brief an seine minderjährige Tochter zu schreiben, den diese allerdings erst als Erwachsene, lang nach dem Tod ihres Vaters, lesen wird. Der Erzähler, ein Deutscher, ist ein gescheiterter Künstler, der sich in Paris in sein Modell verliebt und mit ihr ein Kind gezeugt hat. Aber die Mutter verstößt den Vater, als das Kind drei Jahre alt ist, verweigert ihm den Kontakt. Das Schreiben als therapeutischer Akt. Über die konkreten anfallenden Fragen weit hinaus wendet der Autor seinen Text ins Grundsätzliche, ausgehend von einem hochemphatischen Wahrheits-Begriff des leidenden Vaters, der natürlich seine subjektive Wahrheit herausarbeitet, der auch wütend anklagt, sich als Opfer einer Untat von metaphysischer Dimension betrachtet. "Die Sternbilder", heißt es einmal, "zeigen uns nachts die abertausend Stücke, in die das Firmament seit dem Sündenfall zersprungen ist."

    "Es ist auch die Geschichte eines Sündenfalls, die hier erzählt wird. Was ist Wahrheit, geradezu im biblischen Sinn, wo ist Schuld, wo ist Unschuld, inwieweit erzeugt Wissen Schuld. Das war die Konstellation, die mich zum Schreiben gebracht hat: Da ist einer dieser sogenannten rechtlosen Väter, der sich eigentlich ins Unrecht versetzt sieht – wie wird er schuldig und wie entstehen diese Konstellationen von Schuld."

    Zunächst einmal handelt es sich um eine – um mehrere Liebesgeschichten, aber die Liebe entpuppt sich bei Schrott rasch als totalitäres Modell, als hemmungsloses Machtspiel. Der Erzähler geht nach der erzwungenen Trennung eine neue Beziehung ein, aber auch das ist eben nicht das, was die eifersüchtige Kindsmutter erreichen wollte: Sie leidet offenbar an einer Persönlichkeitsstörung, sie giert nach Aufmerksamkeit, und diese hofft sie von ihrem Kind umso mehr zu erfahren, nachdem sie den Vater gleichsam als Konkurrenten ausgeschaltet hat. Und das Kind seinerseits – daher der Titel des Buchs – leidet an einem Mutismus, einem psychogenen Verstummen.

    "Die Liebe stellt sich als vielfältiges Spiel von Projektionen dar. Er als Maler, der sein Modell auf die Leinwand bannen will, sie als Modell, die gesehen sein will, und alle projizieren sie ins Kind, das seinerseits schweigt. Dieses Spiel, bei dem man im anderen nicht das sieht, was er ist, sondern das, was man in ihm sehen möchte, ist ein Spiel der Vereinnahmung, das einerseits romantisch angehaucht, andererseits aber auch sehr destruktiv ist. Was tun wir aus Liebe, um letztlich die Liebe zu zerstören, zu verraten, zu verändern."

    Liebe und Hass, heißt es, hätten die gleichen Wurzeln. Die Liebenden in Paris sind in selbstquälerischen Ritualen befangen, die, nachdem sie sich erschöpft zu haben scheinen, auf dem Rücken des Kindes fortgesetzt werden. Das Leiden des rechtlosen Vaters ist eine Folge ungenügend ausgebildeter Liebesfähigkeit, die auch noch auf die neue Beziehung des Protagonisten einen deutlichen Schatten wirft und letztlich auch sie zum Scheitern bringt.

    "Diese narzisstische Konstellation, die mit Kodependenzen zu tun hat, braucht immer zwei Personen, die eine, die Aufmerksamkeit fordert, um den eigenen Selbstwertpegel zu stabilisieren, die andere, die diese Aufmerksamkeit liefert. Es ist ein sadomasochistisches, letztlich destruktives Spiel, das dann zu diesen Problemen der rechtlosen Väter führt. Ein Skandalon, das so schrecklich ist, dass mir dabei beinahe die Worte ausgehen."

    Raoul Schrott ist kein unmittelbar Betroffener, aber er hat gründlich recherchiert und glaubt dabei festgestellt zu haben, dass die Situationen sich in vielen Fällen ähneln: Der Vater nicht sehr jung, sondern jenseits der vierzig, die den Kontakt verweigernde Mutter eine narzisstisch gekränkte Persönlichkeit. Man mag sich als Leser fragen, ob die Darstellung des Problems nicht zu einseitig, zu parteiisch erfolgt. Aber so ist es eben in der Literatur: objektiv ist sie selten; auch der junge Werther formuliert seine Leiden ja höchst subjektiv.

    "Ich bin selber Vater. Jetzt einmal wenig literarisch, sondern geradeheraus gesprochen: Ich denke, dass man in seinen Kindern weiterlebt, abgesehen von allen Glaubensvorstellungen. Wenn einem dann ein Kind entzogen wird, ist das etwas ganz Schreckliches, weil es einer Art Euthanasie gleichkommt: weil man die eigene Seele zerstört. Weil man, seinerseits in einer passiven Rolle, das abgekappt bekommt, was man von einem weiterlebt, weiterleben könnte. Eine alltägliche Fallhöhe, die etwas Tragisches hat. Eine tragische Konstellation, bei der die Werthersche Gefühlshysterie existentiell geerdet ist."

    Die Frage nach der "Wahrheit" bleibt brisant. Dieser entrechtete Vater ist alles andere als ein "zuverlässiger" Erzähler; er erzählt auch nicht stringent, sondern in kaleidoskopischen Splittern, in Erinnerungsfragmenten, und seine Perspektive auf die Ereignisse bleibt unkommentiert stehen. Erst am Schluss des Buchs findet sich ein kurzer Kommentar, ein Begleitbrief des behandelnden Arztes, der der Tochter Mitteilungen über den Tod des Vaters und dessen Umstände macht.

    "Dieses Bewusstsein, dass Wahrheit etwas Fluides ist, in permanenter Veränderung begriffen, aber dass man sich ihr nur in starren Konstruktionen nähern kann – das macht die innere Spannung aus beim Schreiben."

    Diese innere Spannung findet ihre Entsprechung in der formalen Spannung der Erzählung, gerade weil diese mit ihren vielen Leerstellen so subjektiv und parteiisch bleibt, wie sie ist. Dass der Autor nicht nur kraft seiner Empathie sich in die Rolle des Betroffenen einfühlen kann, sondern in irgendeiner Art und Weise auch persönlich involviert und befangen sein dürfte – das ist ein fühlbarer Umstand, über den der Schriftsteller uns am Ende aufgeklärt hat.

    "Diese narzisstische Konstellation, das ist auch die Beziehung, die man klassischerweise Schriftstellern, Künstlern zu ihren Musen nachsagt, die auch relativ namenlos sind. Das war so ein kleines Spiel nebenbei für mich."

    Raoul Schrott: Das schweigende Kind. Erzählung.
    Hanser Verlag, München, 200 S., 17,90 €.