"In tiefer Trauer nehme ich von Thomas Mann Abschied, dem lieben Freund und großen Kollegen, dem Meister deutscher Prosa, dem trotz aller Ehrungen und Erfolge viel Verkannten. Was hinter seiner Ironie und seiner Virtuosität an Herz, an Treue, Verantwortlichkeit und Liebesfähigkeit stand, jahrzehntelang völlig unbegriffen vom großen deutschen Publikum, das wird sein Werk und Andenken weit über unsere verworrenen Zeiten hinaus lebendig erhalten."
Mit diesen "Ein Abschiedsgruß" betitelten und am 16. August 1955 in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichten Zeilen rühmte Hermann Hesse Dinge an seinem Freund und Kollegen, die noch den heutigen Exegeten und Lesern seltsam vorkommen: Treue, Verantwortlichkeit, Liebesfähigkeit.
Spuren davon im Leben und Schreiben Thomas Manns (was ja eines ist) zu entdecken, heißt, im Blitzlichtgewitter anlässlich seines 50. Todestages einen der raren Aspekte zu beleuchten, die über den hunderttausenden gelehrter Seiten zu diesem unerschöpflichen Thema ein wenig im Schatten am Wegrand liegen geblieben sind.
Gerade die Liebesfähigkeit scheint angesichts des populären Wissens über Thomas Mann die reine Absurdität. "Ein liebenswürdiger Mensch, nein das war er nicht. Er war sogar eine unausstehliche Belastung der Mitwelt." Wie oft sind nicht diese Anfangssätze aus Manns Essay über Richard Wagner auf ihn selbst angewendet worden? Welcher zeitgenössische Leser seiner Tagebücher unterschriebe nicht die Diagnose seines Bruders Heinrich, der ihm "wütende Leidenschaft für das eigene Ich" unterstellt und die Unfähigkeit, ein anderes Menschenleben ernst zu nehmen. Noch kürzlich wurde in dem hochinteressanten Buch Helmut Koopmanns über die ungleichen Brüder Mann deutlich, wie sehr die bis hin zu Auslöschungswünschen gehende Hassliebe von Thomas und das lebenslange Konkurrenzgefühl Heinrich gegenüber Lebens- und Schreibantrieb für ihn gewesen sind. Die Liebe zu seiner Frau? Er wolle diese Jahre nicht noch einmal leben, bemerkte er an ihrem 30. Hochzeitstag: Das Peinliche habe doch zu sehr überwogen. Die zu seinen Kindern? "Natürlich sollte jemand wie ich eigentlich keine Kinder in die Welt setzen."
Und wenn man mit Belegen und Zitaten aus Thomas Manns Leben fortfahren könnte, wie steht es dann erst um das Werk mit seiner durchgehenden Absage an die "Kuhwärme der Menschlichkeit", mit seiner zumindest sentimental veranlagten Menschen gefühllos anmutenden ironischen Durchdringung all dessen, was dem braven Bürger und Christenmenschen heilig ist, mit seiner lebenslangen Weigerung, die objektive Kälte der Kunst einem versöhnlichen subjektiv-autobiografischen Ehrlichkeits- und Gefühlsausbruch zu opfern. Auf den ersten und auch noch auf den zweiten Blick scheint es so, als könnten Empathie, Liebe, Liebesfähigkeit gewiss nicht zu Attributen der Mann'schen Kunst gezählt werden.
Auch Thomas Mann selbst scheint von diesem Defizit gewusst und es mit Schrecken konstatiert gesehen zu haben. Als er sich 1950 in Hans Mayers Werkstudie als "Ungeliebter" porträtiert sah, den, wie Mayer nachwies, so gut wie alle namhaften Kollegen nicht leiden konnten oder gar hassten, protestierte er im Brief auf seine typisch dialektische Art, die im letzten Verb das von sich Gewiesene implizit anerkennt: "Ich bin ein Liebender, und möchte nicht als der Ungeliebte dastehen... Unbeliebt soll man sich machen bei den Dummen und Schlechten... aber ungeliebt war ich nicht, bin ich nicht, will ich nicht sein, leugne es zu sein." Im selben Brief reagiert er auch, was Hans Mayer ebenfalls nicht entging, auf ganz ungewöhnliche Art auf die Beobachtung des Professors, Adrian Leverkühn, der Held des Dr. Faustus, sammle bei aller Kühle, Distanziertheit, Unausgiebigkeit und Verschlossenheit doch immer Liebe, Ergebenheit, Hingabe um sich, indem er entgegnet: "Eine Beobachtung, die mich ergriff". Mayer interpretiert diese Antwort ganz folgerichtig als autobiografisch. Nicht der Schriftsteller Mann sah hier einen Werkaspekt korrekt gewürdigt, sondern der Mensch Thomas Mann war glücklich darüber, darauf hoffen und daran glauben zu dürfen, dass es ihm wohl ebenso ergehe wie der Figur, die er nach seinem Bilde gezeichnet hatte.
In diesem Jahr 1950 wäre der 75jährige Thomas Mann also bestimmt tief einverstanden gewesen mit Hermann Hesses Ansicht, seine Liebesfähigkeit sei eine der Grundfesten seines Lebens und Arbeitens. Aber war sie das tatsächlich? Ich glaube, sie war es - zu diesem Zeitpunkt, wenn auch früher und in der Jugend sehr viel weniger oder gar nicht.
Um herauszufinden, ob es sich tatsächlich so verhält, sind die zahlreichen Selbstzeugnisse Thomas Manns natürlich unentbehrlich, allerdings weniger die Tagebücher als die Briefe, Essays und Romane selbst. Überhaupt sind die Tagebücher, scheint mir, in den letzten Jahren in ungesunder Weise zu fast exklusiven Quellen zu Manns Wesen geworden und haben sein Bild bei der Nachwelt mindestens ebenso verfälscht wie erhellt. Sei es, dass sie lebenslangen Egozentrismus zu belegen scheinen ("In Westwood zum Einkauf von weißen Schuhen und farbigen Hemden/Erster Angriff auf Japan mit Bomben, in denen die Kräfte des gesprengten Atoms wirksam"), sei es, dass sie, indem sie seine vermeintliche Homosexualität offen legten, ihn für eine große Gruppe eher feindselig gesinnter Autoren und Intellektueller plötzlich interessant werden ließen, die die Entdeckung dessen, was Mann seine "Invertiertheit" nannte, sozusagen als Ehrenrettung ansah, ihm das "Schwulsein" auf der Habenseite gutschrieb, um damit die Waage, die bedenklich nach Seiten der "Bürgerlichkeit" ausgeschlagen war, ein wenig ins Gleichgewicht zu bringen. Ist es aber schon fragwürdig, die Homosexualität geradezu als conditio sine qua non des modernen künstlerischen Menschen zu setzen, so ist diese Feststellung im Falle von Thomas Mann - ganz im Gegensatz zu seinem Sohn Klaus - auch schlicht falsch.
Halten wir ihr die Lebenstatsachen entgegen: Die berühmte "Verfassung", die Thomas Mann sich gab, führte immerhin zu einer lebenslangen Ehe, der, gefährdet, prekär und mühselig wie sie gewesen sein mag, im Nachhinein und angesichts des Satzes: "Wir werden zusammenbleiben, Hand in Hand, auch im Schattenreich" doch nur Beckmesser das Attribut "glücklich" absprechen würden, und zu sechs Kindern. Hier werden die Gefahren einer Überschätzung des Tagebuches deutlich, in dem der Notierende zwar alle möglichen Gedankenspiele anstellt, die aber eben - woran uns sein Leben und sein Werk erinnern sollten - Gedankenspiele geblieben sind. Oder um es mit einem sehr weisen Satz aus dem Mund der Harry-Potter-Figur Albus Dumbledore auf den Punkt zu bringen: "It is our choices, that show us what we truly are, far more than our abilities."
Gewählt hat Thomas Mann aber in seinen Arbeiten keineswegs nur die homosexuelle Konstellation, sondern viel häufiger die heterosexuelle, sofern sie eine tragische, eine problematische Komponente enthält wie beispielsweise in mehrfach behandelten inzestuösen Verhältnissen, wobei es uns als Leser im Endeffekt ebenso wenig zu interessieren hat wie bei Proust, ob ein Willri Timpe für Clawdia Chauchat oder ein Alfred Agostinelli für Albertine Modell stand oder eine Frau. Und genauso wie Jaakob in den Josephsromanen am Ende seines Lebens nicht am Straßenrand bei der geliebten Rahel, sondern im Erbbegräbnis mit Lea begraben sein will, genauso wollte Thomas Mann, als es darauf ankam, nicht den Paul Ehrenbergs, Klaus Heusers und Franzl Westermayers angehören, sondern seiner Frau und seiner selbst auferlegten Pflicht.
Dies alles nur, weil auch die Überschätzung der Homosexualität in Thomas Manns Leben und Werk den Blick ablenkt von seiner "Treue, Verantwortlichkeit und Liebesfähigkeit", denn sie passt als eine spezifisch ironische Form der Liebe nur zu gut ins Bild des kalten und lieblosen und ironischen Schriftstellers.
Alle Lebens- und Werkzeugnisse seiner Jugend, ja seiner ersten Lebenshälfte geben in der Tat wenig her für die Suche nach Liebesfähigkeit. Hypochondrisch, freundlos, ehrgeizzerfressen im Leben, zynisch, wollüstig kalt gegenüber den selbst erfundenen Gestalten, konventionell jovial zur verachteten Öffentlichkeit, scheint Thomas Mann alle Aussagen zu bestätigen, die ihn als gefühlsarmen Großschriftsteller brandmarken. Es gibt nun allerdings Menschen, und einiges spricht dafür, dass er zu ihnen gehörte, die erst dann liebenswürdig zu werden vermögen, erst dann aus dem allerdings weiten Fundus ihrer Liebe und Güte zu spenden in der Lage sind, wenn höchste Selbstbestätigung, tiefste Wunscherfüllung oder härteste Schicksalsschläge sie der leidenschaftlichen Beschäftigung mit dem eigenen Ich entheben. Diese Beschäftigung sollte nicht mit Egoismus gleichgesetzt, sondern eher als eine schwierige- auch und vor allem literarische - Aufgabe gesehen werden, die wenigstens ansatzweise gelöst sein will, bevor man sich anderem und anderen mit wirklicher Freiheit widmen kann. Im Falle von Thomas Mann ist eindeutig mitzuverfolgen, wie die internationale Anerkennung nach dem Nobelpreis, aber noch ungleich mehr das Joch des Exils und die selbst gewählte Aufgabe, das Hitlerregime stürzen zu helfen, Thomas Manns Herz und Brust weiten, wie sich seine Ironie vom Mittel zum grausamen Aufspießen der menschlichen Lächerlichkeit zu etwas anderem wandelt, nämlich zur Form, in die sich bei ihm die Liebe aus Scham vor der Naivität des Gefühls kleidet, zur Selbstironie.
Wer Thomas Manns Charakterschilderungen ab dem Joseph mit den früheren vergleicht, wer seine liebevoll-verschmitzten, mit der Zunge im Mundwinkel huldigenden, von gezügelter Empathie perlenden literarischen Essays der zweiten Lebenshälfte liest, vor allem, wer in seinen Briefen den Ton und das Eingehen noch auf den merkwürdigsten Adressaten sich verändern, sich humanisieren sieht, wird bemerken, dass hier, viel stärker als in seinen politischen Ansichten, eine tief greifende Änderung stattgefunden hat.
Was sich hier zeigt ist Liebe, natürlich wie bei Thomas Manns Gefühl für Dezenz, seinem feinen Sinn für die Lächerlichkeit jeglichen Overstatements nicht anders zu erwarten, nicht in Form einer tränenreichen, erdrückenden All-Umarmung, sondern - man muss darauf kommen, dann sieht man die Spuren überall - in der Form der Bewunderung. "Ich habe mein Leben hingebracht in der Bewunderung des Großen und Meisterhaften - meine ganze Essayistik, neben dem Werk, besteht ja aus lauter Bewunderung; und dieses Werk selbst ist im Angesicht der Größe, unter ihren Augen und in stetem Aufblick zu ihr getan - einem Aufblick, der auch Einblick war und dem zuweilen eine waghalsige Zutraulichkeit eignete. An Ehrfurcht gebrach es ihm nie."
Ja, ich glaube, die frühesten Spuren von Thomas Manns Liebesfähigkeit sind zu finden in seiner Gabe zu bewundern, denn was wäre die Liebe anderes als ein interessefreies Bewundern von etwas um seiner selbst willen.
Aber wenn im langsamen Freiwerden von der quälenden Frage, wie es mit ihm gemeint sei, in der politisch-sozialen Situation des repräsentativen Exilanten und in der Fähigkeit, große Geister zutiefst bewundern zu können, sich Thomas Manns Liebesfähigkeit emanzipiert oder auch überhaupt erst entwickelt hat, so musste doch noch etwas hinzukommen, damit sie in den letzten Jahren seines Lebens so strahlend werden konnte, dass seine Tochter Erika berichtete: "Je älter er wurde, desto zugänglicher, ja weicher schien er. Hatte seine schwierige Jugend Kühle vorgetäuscht, und war noch der Mann scheinbar fern gewesen, steif oft und konventionell (aus Scheu!), so gab er sich jetzt gelockert, konnte sehr 'nah' und 'zärtlich' sein."
Was noch hinzukam, davon berichtet kundig Hermann Kurzkes Standardwerk "Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk": Es war der Glaube an die Gnade, ein religiöses Gefühl also. Zugegeben: der Gedanke an die Existenz, ja die Notwendigkeit von Gnade kam Thomas Mann wieder einmal aus der Selbstbeobachtung: der Entdeckung nämlich, dass ganz offenbar Gnade über seinem eigenen Leben waltete. Und der Protestant in ihm, der sein ganzes Werk als Abbüßen einer Schuld begriff, hatte auch bereits nach dem Abschluss seines Faustus in einem Brief geschrieben: "Von Sünde, Schuld und Buße weiß doch dieses Buch eine ganze Menge - und schließlich sogar von dem 'Wunder, das über den Glauben geht' - der Gnade."
Ihr, der Gnade, war dann in Gänze der nächste Roman gewidmet, "Der Erwählte", nach dessen Abschluss er vermerkte, es sei ihm mit dem religiösen Kern der Legende, der Idee von Sünde und Gnade, sehr ernst. "Im Zeichen dieser Idee steht längst mein Leben und Denken; und ist es denn nicht auch die reine Gnade, dass es mir vergönnt war, nach dem verzehrenden Faustus noch dieses in Gott vergnügte kleine Buch zustande zu bringen?"
Natürlich, wir haben es hier mit Thomas Mann zu tun, also kann es sich nicht um die Konversion zu braver Kirchenfrömmigkeit handeln. Spätestens seit der unvergleichlichen Szene aus den Josephsromanen, in der Abraham und Gott sich gegenseitig hervordenken, einen Pakt zur gegenseitigen Heiligung schließen, weiß der Leser, dass in den Augen des Schriftstellers der Höchste den Menschen ebenso nötig hat wie dieser ihn. Den Glauben, der zu seinem Gnadenbegriff gehört, beschreibt Thomas Mann denn auch ohne Umschweife so: "Ich glaube an das Gute und Geistige, das Wahre, Freie, Kühne, Schöne und Rechte, mit einem Wort an die souveräne Heiterkeit der Kunst, dieses großen Lösungsmittels für Hass und Dummheit. Das ist wohl nicht genug. Man muss vielleicht außerdem an den lieben Gott oder an den Atlantikpakt glauben. Aber mir genügt das andere."
Und dann folgen als Erklärung seines Glaubens die oben zitierten Zeilen zur Bewunderung, und er schließt damit, ein "Mensch des Aufblicks" zu sein.
Als Thomas Mann, ein alter Mann schon, so weit gekommen war, seine Bewunderungsfähigkeit und seinen Gnadenglauben in eins setzen zu können, da waren die von Hesse ins Feld geführten Eigenschaften - "das Herz, die Treue, die Verantwortlichkeit und Liebesfähigkeit" - befreit und konnten wirken. Befreit der Glaube an die Gnade doch von der strengen protestantischen Vorstellung, nur durch seine Werke zum Heil finden zu können und macht die Menschen, indem er uns alle zu gleichwertigen Schuldnern des Göttlichen werden lässt, duldsamer, schonungsvoller, sich selbst, aber eben auch anderen gegenüber. Und diese Duldsamkeit und Schonung, diese über allem Gram und aller Schwermut schwebende freimütige, fatalistische Sympathie zu den Gezeichneten und zum Sterben Bestimmten, das, was im Felix Krull als "Allsympathie" angesichts der Vergänglichkeit allen Seins gefeiert wird, vermochten Leben und Werk Manns in der letzten Periode von allem Gezwungenen, von allem Hass zu reinigen und seiner Ironie eine Herzenswärme zu geben, die sie früher entbehren musste. Jetzt scheint sie überall auf, im offenherzigen Ton, in dem er in der Familie seine Schwäche für junge Männer ironisiert, in den liebevolle (und druckbare) Formulierungen zu seinen Büchern enthaltenden Briefen an seinen Bruder Heinrich, in der bescheidenen Empathie der Essays zu Tschechow und Schiller, und am hübschesten vielleicht in den Briefen an seinen geliebten Enkel Frido:
"Die Russen in Ostberlin", schreibt er ihm 1954, "haben Tante Eri sehr nach Moskau eingeladen, und wenn ich auch käme, hei! was es da für Wodka und Kaviar geben würde. Ich dürfte aber nicht gehen, wohin ich wollte, sondern Leute wie mich, die ließen sie gleich von ihren besten Ärzten untersuchen, und dann müsste ich genau an den Ort gehen, der der zuträglichste für mich sei. Ich glaube aber, ich werde überhaupt nicht gehen, es ist mir etwas unheimlich. Zur Eri haben sie ganz drohend gesagt, sie solle gefälligst achtgeben, dass ich gesund bleibe! Als ob sie sie zu Zwangsarbeit verurteilen könnten, wenn ich den Schnupfen kriege. Ich habe sehr lachen müssen!"
Mit diesen "Ein Abschiedsgruß" betitelten und am 16. August 1955 in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichten Zeilen rühmte Hermann Hesse Dinge an seinem Freund und Kollegen, die noch den heutigen Exegeten und Lesern seltsam vorkommen: Treue, Verantwortlichkeit, Liebesfähigkeit.
Spuren davon im Leben und Schreiben Thomas Manns (was ja eines ist) zu entdecken, heißt, im Blitzlichtgewitter anlässlich seines 50. Todestages einen der raren Aspekte zu beleuchten, die über den hunderttausenden gelehrter Seiten zu diesem unerschöpflichen Thema ein wenig im Schatten am Wegrand liegen geblieben sind.
Gerade die Liebesfähigkeit scheint angesichts des populären Wissens über Thomas Mann die reine Absurdität. "Ein liebenswürdiger Mensch, nein das war er nicht. Er war sogar eine unausstehliche Belastung der Mitwelt." Wie oft sind nicht diese Anfangssätze aus Manns Essay über Richard Wagner auf ihn selbst angewendet worden? Welcher zeitgenössische Leser seiner Tagebücher unterschriebe nicht die Diagnose seines Bruders Heinrich, der ihm "wütende Leidenschaft für das eigene Ich" unterstellt und die Unfähigkeit, ein anderes Menschenleben ernst zu nehmen. Noch kürzlich wurde in dem hochinteressanten Buch Helmut Koopmanns über die ungleichen Brüder Mann deutlich, wie sehr die bis hin zu Auslöschungswünschen gehende Hassliebe von Thomas und das lebenslange Konkurrenzgefühl Heinrich gegenüber Lebens- und Schreibantrieb für ihn gewesen sind. Die Liebe zu seiner Frau? Er wolle diese Jahre nicht noch einmal leben, bemerkte er an ihrem 30. Hochzeitstag: Das Peinliche habe doch zu sehr überwogen. Die zu seinen Kindern? "Natürlich sollte jemand wie ich eigentlich keine Kinder in die Welt setzen."
Und wenn man mit Belegen und Zitaten aus Thomas Manns Leben fortfahren könnte, wie steht es dann erst um das Werk mit seiner durchgehenden Absage an die "Kuhwärme der Menschlichkeit", mit seiner zumindest sentimental veranlagten Menschen gefühllos anmutenden ironischen Durchdringung all dessen, was dem braven Bürger und Christenmenschen heilig ist, mit seiner lebenslangen Weigerung, die objektive Kälte der Kunst einem versöhnlichen subjektiv-autobiografischen Ehrlichkeits- und Gefühlsausbruch zu opfern. Auf den ersten und auch noch auf den zweiten Blick scheint es so, als könnten Empathie, Liebe, Liebesfähigkeit gewiss nicht zu Attributen der Mann'schen Kunst gezählt werden.
Auch Thomas Mann selbst scheint von diesem Defizit gewusst und es mit Schrecken konstatiert gesehen zu haben. Als er sich 1950 in Hans Mayers Werkstudie als "Ungeliebter" porträtiert sah, den, wie Mayer nachwies, so gut wie alle namhaften Kollegen nicht leiden konnten oder gar hassten, protestierte er im Brief auf seine typisch dialektische Art, die im letzten Verb das von sich Gewiesene implizit anerkennt: "Ich bin ein Liebender, und möchte nicht als der Ungeliebte dastehen... Unbeliebt soll man sich machen bei den Dummen und Schlechten... aber ungeliebt war ich nicht, bin ich nicht, will ich nicht sein, leugne es zu sein." Im selben Brief reagiert er auch, was Hans Mayer ebenfalls nicht entging, auf ganz ungewöhnliche Art auf die Beobachtung des Professors, Adrian Leverkühn, der Held des Dr. Faustus, sammle bei aller Kühle, Distanziertheit, Unausgiebigkeit und Verschlossenheit doch immer Liebe, Ergebenheit, Hingabe um sich, indem er entgegnet: "Eine Beobachtung, die mich ergriff". Mayer interpretiert diese Antwort ganz folgerichtig als autobiografisch. Nicht der Schriftsteller Mann sah hier einen Werkaspekt korrekt gewürdigt, sondern der Mensch Thomas Mann war glücklich darüber, darauf hoffen und daran glauben zu dürfen, dass es ihm wohl ebenso ergehe wie der Figur, die er nach seinem Bilde gezeichnet hatte.
In diesem Jahr 1950 wäre der 75jährige Thomas Mann also bestimmt tief einverstanden gewesen mit Hermann Hesses Ansicht, seine Liebesfähigkeit sei eine der Grundfesten seines Lebens und Arbeitens. Aber war sie das tatsächlich? Ich glaube, sie war es - zu diesem Zeitpunkt, wenn auch früher und in der Jugend sehr viel weniger oder gar nicht.
Um herauszufinden, ob es sich tatsächlich so verhält, sind die zahlreichen Selbstzeugnisse Thomas Manns natürlich unentbehrlich, allerdings weniger die Tagebücher als die Briefe, Essays und Romane selbst. Überhaupt sind die Tagebücher, scheint mir, in den letzten Jahren in ungesunder Weise zu fast exklusiven Quellen zu Manns Wesen geworden und haben sein Bild bei der Nachwelt mindestens ebenso verfälscht wie erhellt. Sei es, dass sie lebenslangen Egozentrismus zu belegen scheinen ("In Westwood zum Einkauf von weißen Schuhen und farbigen Hemden/Erster Angriff auf Japan mit Bomben, in denen die Kräfte des gesprengten Atoms wirksam"), sei es, dass sie, indem sie seine vermeintliche Homosexualität offen legten, ihn für eine große Gruppe eher feindselig gesinnter Autoren und Intellektueller plötzlich interessant werden ließen, die die Entdeckung dessen, was Mann seine "Invertiertheit" nannte, sozusagen als Ehrenrettung ansah, ihm das "Schwulsein" auf der Habenseite gutschrieb, um damit die Waage, die bedenklich nach Seiten der "Bürgerlichkeit" ausgeschlagen war, ein wenig ins Gleichgewicht zu bringen. Ist es aber schon fragwürdig, die Homosexualität geradezu als conditio sine qua non des modernen künstlerischen Menschen zu setzen, so ist diese Feststellung im Falle von Thomas Mann - ganz im Gegensatz zu seinem Sohn Klaus - auch schlicht falsch.
Halten wir ihr die Lebenstatsachen entgegen: Die berühmte "Verfassung", die Thomas Mann sich gab, führte immerhin zu einer lebenslangen Ehe, der, gefährdet, prekär und mühselig wie sie gewesen sein mag, im Nachhinein und angesichts des Satzes: "Wir werden zusammenbleiben, Hand in Hand, auch im Schattenreich" doch nur Beckmesser das Attribut "glücklich" absprechen würden, und zu sechs Kindern. Hier werden die Gefahren einer Überschätzung des Tagebuches deutlich, in dem der Notierende zwar alle möglichen Gedankenspiele anstellt, die aber eben - woran uns sein Leben und sein Werk erinnern sollten - Gedankenspiele geblieben sind. Oder um es mit einem sehr weisen Satz aus dem Mund der Harry-Potter-Figur Albus Dumbledore auf den Punkt zu bringen: "It is our choices, that show us what we truly are, far more than our abilities."
Gewählt hat Thomas Mann aber in seinen Arbeiten keineswegs nur die homosexuelle Konstellation, sondern viel häufiger die heterosexuelle, sofern sie eine tragische, eine problematische Komponente enthält wie beispielsweise in mehrfach behandelten inzestuösen Verhältnissen, wobei es uns als Leser im Endeffekt ebenso wenig zu interessieren hat wie bei Proust, ob ein Willri Timpe für Clawdia Chauchat oder ein Alfred Agostinelli für Albertine Modell stand oder eine Frau. Und genauso wie Jaakob in den Josephsromanen am Ende seines Lebens nicht am Straßenrand bei der geliebten Rahel, sondern im Erbbegräbnis mit Lea begraben sein will, genauso wollte Thomas Mann, als es darauf ankam, nicht den Paul Ehrenbergs, Klaus Heusers und Franzl Westermayers angehören, sondern seiner Frau und seiner selbst auferlegten Pflicht.
Dies alles nur, weil auch die Überschätzung der Homosexualität in Thomas Manns Leben und Werk den Blick ablenkt von seiner "Treue, Verantwortlichkeit und Liebesfähigkeit", denn sie passt als eine spezifisch ironische Form der Liebe nur zu gut ins Bild des kalten und lieblosen und ironischen Schriftstellers.
Alle Lebens- und Werkzeugnisse seiner Jugend, ja seiner ersten Lebenshälfte geben in der Tat wenig her für die Suche nach Liebesfähigkeit. Hypochondrisch, freundlos, ehrgeizzerfressen im Leben, zynisch, wollüstig kalt gegenüber den selbst erfundenen Gestalten, konventionell jovial zur verachteten Öffentlichkeit, scheint Thomas Mann alle Aussagen zu bestätigen, die ihn als gefühlsarmen Großschriftsteller brandmarken. Es gibt nun allerdings Menschen, und einiges spricht dafür, dass er zu ihnen gehörte, die erst dann liebenswürdig zu werden vermögen, erst dann aus dem allerdings weiten Fundus ihrer Liebe und Güte zu spenden in der Lage sind, wenn höchste Selbstbestätigung, tiefste Wunscherfüllung oder härteste Schicksalsschläge sie der leidenschaftlichen Beschäftigung mit dem eigenen Ich entheben. Diese Beschäftigung sollte nicht mit Egoismus gleichgesetzt, sondern eher als eine schwierige- auch und vor allem literarische - Aufgabe gesehen werden, die wenigstens ansatzweise gelöst sein will, bevor man sich anderem und anderen mit wirklicher Freiheit widmen kann. Im Falle von Thomas Mann ist eindeutig mitzuverfolgen, wie die internationale Anerkennung nach dem Nobelpreis, aber noch ungleich mehr das Joch des Exils und die selbst gewählte Aufgabe, das Hitlerregime stürzen zu helfen, Thomas Manns Herz und Brust weiten, wie sich seine Ironie vom Mittel zum grausamen Aufspießen der menschlichen Lächerlichkeit zu etwas anderem wandelt, nämlich zur Form, in die sich bei ihm die Liebe aus Scham vor der Naivität des Gefühls kleidet, zur Selbstironie.
Wer Thomas Manns Charakterschilderungen ab dem Joseph mit den früheren vergleicht, wer seine liebevoll-verschmitzten, mit der Zunge im Mundwinkel huldigenden, von gezügelter Empathie perlenden literarischen Essays der zweiten Lebenshälfte liest, vor allem, wer in seinen Briefen den Ton und das Eingehen noch auf den merkwürdigsten Adressaten sich verändern, sich humanisieren sieht, wird bemerken, dass hier, viel stärker als in seinen politischen Ansichten, eine tief greifende Änderung stattgefunden hat.
Was sich hier zeigt ist Liebe, natürlich wie bei Thomas Manns Gefühl für Dezenz, seinem feinen Sinn für die Lächerlichkeit jeglichen Overstatements nicht anders zu erwarten, nicht in Form einer tränenreichen, erdrückenden All-Umarmung, sondern - man muss darauf kommen, dann sieht man die Spuren überall - in der Form der Bewunderung. "Ich habe mein Leben hingebracht in der Bewunderung des Großen und Meisterhaften - meine ganze Essayistik, neben dem Werk, besteht ja aus lauter Bewunderung; und dieses Werk selbst ist im Angesicht der Größe, unter ihren Augen und in stetem Aufblick zu ihr getan - einem Aufblick, der auch Einblick war und dem zuweilen eine waghalsige Zutraulichkeit eignete. An Ehrfurcht gebrach es ihm nie."
Ja, ich glaube, die frühesten Spuren von Thomas Manns Liebesfähigkeit sind zu finden in seiner Gabe zu bewundern, denn was wäre die Liebe anderes als ein interessefreies Bewundern von etwas um seiner selbst willen.
Aber wenn im langsamen Freiwerden von der quälenden Frage, wie es mit ihm gemeint sei, in der politisch-sozialen Situation des repräsentativen Exilanten und in der Fähigkeit, große Geister zutiefst bewundern zu können, sich Thomas Manns Liebesfähigkeit emanzipiert oder auch überhaupt erst entwickelt hat, so musste doch noch etwas hinzukommen, damit sie in den letzten Jahren seines Lebens so strahlend werden konnte, dass seine Tochter Erika berichtete: "Je älter er wurde, desto zugänglicher, ja weicher schien er. Hatte seine schwierige Jugend Kühle vorgetäuscht, und war noch der Mann scheinbar fern gewesen, steif oft und konventionell (aus Scheu!), so gab er sich jetzt gelockert, konnte sehr 'nah' und 'zärtlich' sein."
Was noch hinzukam, davon berichtet kundig Hermann Kurzkes Standardwerk "Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk": Es war der Glaube an die Gnade, ein religiöses Gefühl also. Zugegeben: der Gedanke an die Existenz, ja die Notwendigkeit von Gnade kam Thomas Mann wieder einmal aus der Selbstbeobachtung: der Entdeckung nämlich, dass ganz offenbar Gnade über seinem eigenen Leben waltete. Und der Protestant in ihm, der sein ganzes Werk als Abbüßen einer Schuld begriff, hatte auch bereits nach dem Abschluss seines Faustus in einem Brief geschrieben: "Von Sünde, Schuld und Buße weiß doch dieses Buch eine ganze Menge - und schließlich sogar von dem 'Wunder, das über den Glauben geht' - der Gnade."
Ihr, der Gnade, war dann in Gänze der nächste Roman gewidmet, "Der Erwählte", nach dessen Abschluss er vermerkte, es sei ihm mit dem religiösen Kern der Legende, der Idee von Sünde und Gnade, sehr ernst. "Im Zeichen dieser Idee steht längst mein Leben und Denken; und ist es denn nicht auch die reine Gnade, dass es mir vergönnt war, nach dem verzehrenden Faustus noch dieses in Gott vergnügte kleine Buch zustande zu bringen?"
Natürlich, wir haben es hier mit Thomas Mann zu tun, also kann es sich nicht um die Konversion zu braver Kirchenfrömmigkeit handeln. Spätestens seit der unvergleichlichen Szene aus den Josephsromanen, in der Abraham und Gott sich gegenseitig hervordenken, einen Pakt zur gegenseitigen Heiligung schließen, weiß der Leser, dass in den Augen des Schriftstellers der Höchste den Menschen ebenso nötig hat wie dieser ihn. Den Glauben, der zu seinem Gnadenbegriff gehört, beschreibt Thomas Mann denn auch ohne Umschweife so: "Ich glaube an das Gute und Geistige, das Wahre, Freie, Kühne, Schöne und Rechte, mit einem Wort an die souveräne Heiterkeit der Kunst, dieses großen Lösungsmittels für Hass und Dummheit. Das ist wohl nicht genug. Man muss vielleicht außerdem an den lieben Gott oder an den Atlantikpakt glauben. Aber mir genügt das andere."
Und dann folgen als Erklärung seines Glaubens die oben zitierten Zeilen zur Bewunderung, und er schließt damit, ein "Mensch des Aufblicks" zu sein.
Als Thomas Mann, ein alter Mann schon, so weit gekommen war, seine Bewunderungsfähigkeit und seinen Gnadenglauben in eins setzen zu können, da waren die von Hesse ins Feld geführten Eigenschaften - "das Herz, die Treue, die Verantwortlichkeit und Liebesfähigkeit" - befreit und konnten wirken. Befreit der Glaube an die Gnade doch von der strengen protestantischen Vorstellung, nur durch seine Werke zum Heil finden zu können und macht die Menschen, indem er uns alle zu gleichwertigen Schuldnern des Göttlichen werden lässt, duldsamer, schonungsvoller, sich selbst, aber eben auch anderen gegenüber. Und diese Duldsamkeit und Schonung, diese über allem Gram und aller Schwermut schwebende freimütige, fatalistische Sympathie zu den Gezeichneten und zum Sterben Bestimmten, das, was im Felix Krull als "Allsympathie" angesichts der Vergänglichkeit allen Seins gefeiert wird, vermochten Leben und Werk Manns in der letzten Periode von allem Gezwungenen, von allem Hass zu reinigen und seiner Ironie eine Herzenswärme zu geben, die sie früher entbehren musste. Jetzt scheint sie überall auf, im offenherzigen Ton, in dem er in der Familie seine Schwäche für junge Männer ironisiert, in den liebevolle (und druckbare) Formulierungen zu seinen Büchern enthaltenden Briefen an seinen Bruder Heinrich, in der bescheidenen Empathie der Essays zu Tschechow und Schiller, und am hübschesten vielleicht in den Briefen an seinen geliebten Enkel Frido:
"Die Russen in Ostberlin", schreibt er ihm 1954, "haben Tante Eri sehr nach Moskau eingeladen, und wenn ich auch käme, hei! was es da für Wodka und Kaviar geben würde. Ich dürfte aber nicht gehen, wohin ich wollte, sondern Leute wie mich, die ließen sie gleich von ihren besten Ärzten untersuchen, und dann müsste ich genau an den Ort gehen, der der zuträglichste für mich sei. Ich glaube aber, ich werde überhaupt nicht gehen, es ist mir etwas unheimlich. Zur Eri haben sie ganz drohend gesagt, sie solle gefälligst achtgeben, dass ich gesund bleibe! Als ob sie sie zu Zwangsarbeit verurteilen könnten, wenn ich den Schnupfen kriege. Ich habe sehr lachen müssen!"