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Kalte Dunkle Materie fast tot

Auf der bedeutendsten Kosmologie-Konferenz des Jahres im englischen Durham gerät eines der populärsten Modelle, mit dem Astronomen Vorgänge im Kosmos beschreiben, ins Wanken: die sogenannte Kalte Dunkle Materie. Nach neuen Simulationen ist die Dunkle Materie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht kalt, sondern warm.

Vor Dirk Lorenzen |
    "Heute zeigen die Befunde, dass die Dunkle Materie nicht kalt ist, sondern warm."

    Mit diesem schlichten Satz erschüttert Carlos Frenk das Weltgebäude der Kosmologen. Dunkle Materie gibt es im Universum fast zehnmal häufiger als die normale Materie, aus der wir und alle Sterne und Galaxien bestehen. Sie ist nicht zu sehen, dominiert aber mit ihrer Anziehungskraft das Universum. Bisher gingen die Astronomen davon aus, die Dunkle Materie bestehe aus unbekannten recht schweren Elementarteilchen - die Experten sprechen von Kalter Dunkler Materie. Nun kommt Carlos Frenk zu dem Schluss, dass die Dunkle Materie warm ist, das heißt, sie besteht aus geisterhaften Teilchen wie Neutrinos.

    "Das Letzte, was ich sehen wollte, sind Belege dafür, dass die Dunkle Materie warm ist. Ich habe dreißig Jahre meines Lebens an Kalter Dunkler Materie gearbeitet und sehr für diese Theorie geworben. Aber nun scheint es anders zu sein. Als guter Wissenschaftler muss man die Daten bewerten und darf sich nicht von persönlichen Vorlieben für eine bestimmte Art der Dunklen Materie leiten lassen."

    Carlos Frenk, Direktor am Institut für Computergestützte Kosmologie in Durham in England, nimmt es sportlich: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 94 Prozent ist die Dunkle Materie warm und nicht kalt. Das ist noch kein eindeutiger Beleg, aber auch nicht mehr weit davon entfernt. So weltbewegend die Dunkle Materie auch ist: Die entscheidenden Hinweise zu ihrer Natur liefern ausgerechnet die unscheinbarsten Galaxien, die man sich vorstellen kann - die Begleiter unserer Milchstraße.

    "Auch wenn diese Begleitgalaxien sehr klein sind, so liefern sie paradoxerweise die Lösung für eines der größten Rätsel der Wissenschaft. Denn die Natur der Dunklen Materie verrät sich in den Eigenschaften dieser Begleitgalaxien."

    Carlos Frenk und seine Kollegen simulieren seit Langem den Werdegang eines von kalter Dunkler Materie erfüllten Universums vom Urknall bis heute. Es zeigt sich, dass Galaxien wie unsere Milchstraße viel mehr kleine Begleiter haben müssten, als die Astronomen beobachten. Dagegen liefern die Modelle mit warmer Dunkler Materie recht genau die entdeckten Begleitgalaxien. Das spricht gegen die unbekannten Elementarteilchen und erledigt womöglich mal eben eines der großen Projekte am LHC-Beschleuniger in Genf. Der soll unter anderem nach den Teilchen der Kalten Dunklen Materie suchen - doch könnte dafür bald die Geschäftsgrundlage entfallen, sollte sich der aktuelle Verdacht bestätigen.

    "Meine Kollegen aus der beobachtenden Astronomie müssen jetzt an die Teleskope und die Bewegung der Sterne in den Begleitgalaxien noch genauer vermessen. Wenn ich selbst Beobachter wäre, ließe ich alles stehen und liegen und widmete mich allein diesem drängenden Problem. Womöglich lösen solche Daten bald das größte Rätsel der Wissenschaft: Was ist die Dunkle Materie? Es gibt heute keine größere Frage, die sich beantworten lässt."

    Theoretiker wie Carlos Frenk überwinden in der Zwischenzeit den Trennungsschmerz von einer so lieb gewonnenen Theorie. Jetzt simulieren sie auf ihren Computern, wie die warme Dunkle Materie das Weltall zu dem werden ließ, was die Forscher heute sehen.

    "Ich wette, wenn wir uns in fünf Jahren wieder unterhalten, feiern wir mit einem Glas Champagner die Entdeckung der Natur der Dunklen Materie. Wir sind ganz dicht dran."