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Kambrische Riesengarnelen
Aussteiger an der Spitze der Nahrungspyramide

Die Herrscher der ersten Tiergemeinschaft, die vor mehr als 500 Millionen Jahren die kambrischen Meere bevölkerte, sahen aus wie überdimensionierte Garnelen mit so etwas wie Klauen am Kopf, um die Beute zu packen. Die Anomalocariden peilten ihre Beute mit ungewöhnlich scharfen Augen an und griffen mit den Klauen beherzt zu. Ein Mitglied dieser Räuberfamilie aber machte bei dem Spiel nicht mit: Tamisiocaris borealis filterte offenbar Plankton aus dem Wasser. So steht es jedenfalls in der aktuellen "Nature".

Von Dagmar Röhrlich |
    Mit dem Kambrium brach vor mehr als einer halben Milliarde Jahren die Zeit der Tiere an. Vieles von dem, was damals in den Meeren wuchs, wuselte oder schwamm, erscheint uns heute bizarr. Es gab Tiere, die aussahen wie eine schwimmende Pizza calzone, andere erinnern an Asseln mit einem Schnorchel und fünf Augen auf dem Kopf und wieder andere an lebendige Nadelkissen. Die seltsamen Herrscher dieser Urzeitozeane waren jedoch primitive Gliederfüßer, die Anomalocariden:
    "Die Anomalocariden lebten vor 520 bis 480 Millionen Jahren, kurz nachdem die großen Tiere auf der Erde aufgetaucht waren. Sie sahen so ähnlich aus wie heute die Garnelen und waren die ersten großen, aktiven Räuber überhaupt. An ihren Flanken besaßen die Anomalocariden breite, bewegliche Seitenlappen, mit denen sie wohl wie Rochen durchs Wasser segelten. Ihre Augen waren sehr groß, und ihr Mund lässt sich am ehesten mit einer Scheibe Dosenananas vergleichen. Außerdem saßen vor den Augen 'Kopfklauen', große, stachelbesetzte Anhänge, die sie wohl zum Fressen einsetzten."
    Mit wahrscheinlich 30 bis 70 Zentimetern waren die Anomalocariden deutlich größer als die meisten anderen Tiere ihrer Zeit, beschreibt Jakob Vinther von der University of Bristol. Versteinerte Exkremente legen nahe, dass sie mit ihren Kopfklauen selbst gut gepanzerte Trilobiten erwischten. Die räuberische Lebensweise scheint jedoch nur die eine Seite dieser Riesen des Kambriums gewesen zu sein:
    "Wir haben bei unseren Expeditionen zur nordgrönländischen Fossil-Lagerstätte Sirius Passet in den 520 Millionen Jahre alten Gesteinen die Fossilien von Tamisiocaris borealis gefunden. Auch er zählt zu den Anomalocariden, aber seine Kopfklauen sehen vollkommen anders aus als die Greifer ihrer Verwandten."
    Die Analyse seiner Kopfanhänge legen eine erstaunliche evolutionäre Entwicklung nahe:
    "Diese Anhänge gleichen eher Besen mit langen, stacheligen Strukturen, auf denen feine Borsten sitzen. Wahrscheinlich filterte Tamisiocaris damit Plankton aus dem Wasser, das kleiner als ein Millimeter war."
    Die Paläontologen konnten mit einiger Sicherheit nachvollziehen, wie sich Tamisiocaris ernährte. Er zog wahrscheinlich seine zu Filtern umgewandelten Kopfanhänge wie einen Kamm durchs Wasser. Dann rollte er sie ein und streifte das Zooplankton, das sich in den Borsten verfangen hatte, in den Mund ab. Dass Tamisiocaris mit rund 70 Zentimetern für jene Zeit so gigantisch werden konnte, verrate viel über das Ökosystem des Kambriums, urteilt Jakob Vinther:
    "Damit ein so großes Tier überleben kann, muss es sehr viel Plankton geben. Die Ökosysteme waren so komplex, dass in ihnen eine große Vielfalt von Tieren existieren konnte."
    Ökologisch betrachtet seien die Anomalocariden das Gegenstück der modernen Haie und Wale, so Jakob Vinther:
    "Wir sehen also ein sehr interessantes Muster in der Evolution, das sich mehrfach entwickelt hat: dass aus der Gruppe der Topräuber heraus 'friedliche' Filtrierer entstanden. Die Evolution von Tamisiocaris entspricht damit der des Walhais oder des Blauwals."
    Die Ahnen von Tamisiocaris sind demnach als erste in einem planktonreichen Meer aus dem evolutionären Wettrüsten der Raubtiere ausgestiegen. Wie die Walhaie waren diese Riesen dann nur noch für das Zooplankton gefährlich, und ihnen selbst bot ihre Größe Schutz. So konnten sie unangefochten durch die Meere schwimmen.