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Kammermusik
Musik zum Anfassen

Musik zum Anfassen, Musik, die nicht nur in den Ohren klingt, sondern regelrecht spürbar ist. Das ist die neue CD des Signum Quartetts. Mal fühlt sie sich an wie hauchdünnes Pergamentpapier, mal wie grobes, ausgetrocknetes Holz, mal wie gebürsteter, kalter Stahl.

Von Maja Ellmenreich | 03.05.2015
    Zeitgenössische Aufnahme des französischen Komponisten Claude Debussy. Debussy wurde am 22. August 1862 in Saint-Germain-en-Laye geboren und starb am 25. März 1918 in Paris.
    Claude Debussy (picture alliance / dpa )
    Sie geht nicht nur unter die Haut, die neue CD des Signum Quartetts, mit Werken von Maurice Ravel, Thomas Adès und Claude Debussy.
    1. Claude Debussy: "II. Assez vif et bien rhythmé",
    aus: Quartett g-Moll, op. 10
    "Die Schönheit muss sinnlich wahrnehmbar sein, damit sie uns zu einem unmittelbaren Genuss verhelfe, damit sie in uns eingehe oder eindringe, ohne dass wir Mühe haben, sie zu begreifen." Nicht den Kopf, nicht den Verstand wollte Claude Debussy mit seiner Musik erreichen; sein Ziel waren - wie er es beschrieb - die Sinne. Musik für die Haut also, die Zunge, die Augen, die Nase und für die Ohren ja sowieso.
    Auf die formelle Konzeption seines g-Moll-Quartetts aus dem Jahr 1893 verwendete er nicht allzu viel Energie. An der Gattung hat er sich nicht abgearbeitet: vier Sätze, gestaltet nach dem traditionellen Prinzip, keine weltbewegenden Experimente. Die hergebrachte Form füllte der damals 30jährige Debussy aber mit einer ungeheuren Klangfarbenvielfalt. Und der verleiht das Signum Quartett in seiner Interpretation besondere Intensität.
    Auch wenn sich Claude Debussy mit dem Ausdruck "Impressionismus" schwer tat, so leuchtet es doch unmittelbar ein, eine Verbindung herzustellen zwischen Debussys Musik und der Malerei seiner Zeitgenossen: Licht bestimmte ihre Bilder, kräftige, leuchtende Töne und der Eindruck, als sei das Dargestellte noch in Bewegung.
    2. Claude Debussy: "IV. Très modéré"
    aus: Quartett g-Moll, op. 10
    Wer Debussy sagt, muss auch Ravel sagen. Diese Regel scheint sich in Kammermusikkreisen etabliert zu haben: Kaum ein Streichquartett hat in letzter Zeit das erste und einzige Quartett von Claude Debussy aus dem Jahr 1893 aufgenommen, ohne nicht das zwei Jahrzehnte später entstandene Werk von Maurice Ravel folgen zu lassen. Der hatte es zwar - ganz wie es sich gehört - seinem "cher maître Gabriel Fauré" gewidmet, aber in vielerlei Hinsicht war Ravel mit seinem Quartett dem in Frankreich omnipräsenten Vorbild Debussy gefolgt: Klassisch-konventionell das Äußere, Raum für Überraschungen bietet auch bei Ravel der Inhalt. Er liebt das Spiel mit harmonischen und rhythmischen Zwei- und Noch-Mehr-Deutigkeiten. Festen Boden unter den Füßen spürt man als Hörer des Quartetts von Maurice Ravel eigentlich nie. Und das Signum Quartett lädt einen mit seinem technisch präzisen und musikalisch so flexiblen Spiel ein zur rasanten Wildwassertour.
    3. Maurice Ravel: "II. Assez vif. Très rhythmé"
    aus: Quartett F-Dur
    Signum - das lateinische "Zeichen" haben sich die vier jungen Quartettstreicher als Namen gegeben. Und in ihrer Ensemblebiographie heißt es denn auch zu Beginn: Das Signum Quartett habe durch seine mitreißend lebendigen Interpretationen ein Zeichen in der internationalen Quartettszene gesetzt. Selbstbewusst, solch eine Eigenbeschreibung, aber die in Köln beheimatete Formation hat allen Grund dazu. Preise und Auszeichnungen dokumentieren die Anerkennung, die dem Signum Quartett überall zuteilwird: Die Geigerinnen Kerstin Dill und Annette Walther, der Bratschist Xandi van Dijk und der Cellist Thomas Schmitz - sie haben bei den großen Streichquartett-Wettbewerben in Deutschland, Italien und England hoch gepunktet. Und in Großbritannien, da haben sie zudem den kammermusikalischen Ritterschlag erhalten, denn nur die Besten der Besten schaffen es in das Nachwuchsprogramm der British Broadcasting Corporation und werden zu BBC New Generation Artists erklärt. Doch die Zeit derartiger Beihilfe ist vorüber: Das Signum Quartett bespielt längst die bedeutenden Kammermusikpodien Europas, hat mit der jüngsten seine fünfte CD herausgebracht und kann sich über mangelnde Lobeshymnen in den Medien nicht beklagen.
    4. Maurice Ravel: "I. Allegro moderato"
    aus: Quartett F-Dur
    Wer Debussy sagt, muss bekanntlich auch Ravel sagen. Oder umgekehrt. Bleibt die Frage, welchen Komponisten die beiden in ihre Mitte nehmen dürfen. Das Arcanto Quartett hat vor ein paar Jahren seine Aufnahme mit Henri Dutilleux komplettiert, und das Quatuor Ébène entschied sich für Gabriel Fauré. Jeweils drei Franzosen, ganz konsequent.
    Das Signum Quartett pfeift auf geographische Verwandtschaft und holt sich mit Thomas Adès einen Engländer mit ins Boot, einen Gegenwartskomponisten obendrein. Und der fügt sich mit den sieben Quartettsätzen namens „Arcadiana“ ganz hervorragend ein. Denn Thomas Adès ist zwar Jahrgang 1971, aber alles andere als ein neutönender Avantgardist. Ein musikalischer Tausendsassa, das ist er garantiert: Pianist und Dirigent, Komponist und Hoffnungsträger der britischen Musikszene. Neun Jahre lang durfte er das renommierte Aldeburgh Festival leiten, das einst Benjamin Britten ins Leben gerufen hat. Nichts also, was er wohl nicht kann – dieser Adès, der insbesondere im anglo-amerikanischen Sprach- und Musikraum Förderung von höchsten Stellen erfährt. Und vielleicht genau weil er kein Vorkämpfer der Neuen Musik ist, liebt ihn das Establishment.
    5. Thomas Adès: "I. Venezia notturna"
    aus: Arcadiana
    Mit seinem Quartett "Arcadiana" aus dem Jahr 1994 möchte Thomas Adès die Hörer an idyllische Orte entführen - bereits verschwundene, sich im Verschwinden noch befindliche und bloß in der Vorstellung existierende: mal auf dem Wasser, mal an Land. Und dafür bedient sich der Engländer ausgiebig bei anderen: zuerst bei einem venezianischen Gondoliere, dann bei Franz Schubert und Edward Elgar, bei Tangomusikern und bei Wolfgang Amadeus Mozart. Von ihm borgt sich Thomas Adès Papagenos Glockenspiel und Taminos Zauberflöte.
    6. Thomas Adès: "II. Das klinget so herrlich, das klinget so schön"
    aus: Arcadiana
    Mit seinen sieben komponierten Aphorismen bewegt sich Thomas Adès gar nicht so weit weg von der Klangsprache eines Claude Debussy oder Maurice Ravel. Wer das Display des CD-Spielers gerade nicht im Blick hat, verpasst womöglich den Übergang von Debussy zu Adès: Als führe man durch eine Landschaft, die sich nicht abrupt, sondern ganz allmählich ändert. Das neue Album des Signum Quartetts trägt den Titel "soundescapes". Aus dem kann man so allerlei herauslesen: "Der Klang flieht" zum Beispiel, oder "Klangfluchten". Auch ist die Ähnlichkeit zum Kunstwort "soundscape" sicher nicht unwillkommen: Denn durch Klanglandschaften nehmen uns die vier Streicher des Signum Quartetts mit - schroffe und liebliche, karge und üppige. Musik nicht nur zum Hören, zum Fühlen - sondern mit ein wenig Fantasie auch zum Sehen.
    7. Claude Debussy: "III. Andantino"
    aus: Quartett g-Moll, op. 10
    Das Signum Quartett spielt Kompositionen von Claude Debussy, Thomas Adès und Maurice Ravel auf seiner neuen CD. "Soundescapes" heißt sie, ist bei dem Label Capriccio erschienen und wurde Ihnen heute Morgen vorgestellt von Maja Ellmenreich.
    "Soundescapes - Debussy, Adès, Ravel"
    Signum Quartett
    Capriccio C5329
    EAN 845221052397
    LC 08748