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Kampf um die Scholle

Anthropologie. - Der Schritt vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern zählt zu den bedeutendsten Entwicklungen in der Menschheitsgeschichte und definiert den Beginn der Jungsteinzeit. Anhand von Schädeln und Genen erforschen US-Wissenschaftler, wie der Wandel vonstatten ging und von wem der moderne Europäer abstammt.

Von Matthias Hennies |
    Vor etwa 6500 Jahren gab es in Europa eine Revolution: Einwanderer aus dem Nahen Osten brachten den Ackerbau auf den Kontinent, auf dem bisher nur Jäger und Sammler lebten. Im Lauf der Zeit setzte sich die neue Ernährungsweise durch, aber die fortschrittlichen Einwanderer sind offenbar untergegangen. Die modernen Europäer stammen nicht von ihnen ab, sondern von der alteingesessenen Bevölkerung aus der mittleren Steinzeit. Professor Loring Brace, Anthropologe an der Universität von Michigan in Ann Arbor, untersuchte den Stammbaum der Europäer und stellte fest:

    "Klar ist, dass die Ackerbauern untereinander alle verwandt waren. Aber je weiter man in Europa nach Norden kommt, desto weniger sind sie mit der modernen Bevölkerung verwandt. Im Norden konnten sich die Einwohner offenbar ziemlich gut als Jäger und Sammler ernähren und hatten sich stark vermehrt. Deswegen haben die eingewanderten jungsteinzeitlichen Ackerbauern sie nicht verdrängt, sondern sind schließlich in ihnen aufgegangen."

    Um die Verwandtschaft zwischen der heutigen Bevölkerung und den Menschen der Steinzeit zu klären, hat Brace an erhaltenen Schädeln aus der Jungsteinzeit die Gesichtsknochen ausgemessen. Die Schädel der ersten Ackerbauern zeichnen sich zum Beispiel durch ein Kinn mit einer Art doppelter Spitze und schmalere Augenhöhlen aus. Die Anthropologen maßen auch die Höhe der Nase, die Breite des Gesichts et cetera - insgesamt 24 Parameter, um alle Charakteristika der jungsteinzeitlichen Schädel zu erfassen. Der Vergleich mit modernen Gesichtsknochen zeigte nur wenige Übereinstimmungen – die meisten noch in Südeuropa. Dieser Teil des Kontinents war vor 6500 Jahren vermutlich schwächer besiedelt, so dass sich der Einfluss der Einwanderer im vorhandenen Gen-Pool stärker niederschlug.

    Charakteristika des Schädels wie die Breite des Gesichts oder die Höhe der Nase liefern über Jahrtausende einen Einblick in Verwandtschaftsverhältnisse, denn sie verändern sich durch Vererbung, aber nicht durch Umwelteinflüsse. So führt ein kaltes Klima zwar dazu, dass die Menschen größere Nasen haben als in gemäßigten Wetterzonen, aber diese Anpassung wird durch stärkeres Wachstums des Gewebes verursacht. Die Form des Nasenknochens hängt allein vom Erbgut ab. Schädelmessungen liefern also Aussagen über genetische Zusammenhänge – ohne molekularbiologische Untersuchungen. Die "Kraniometrie", wie sie auch heißt, wird in Europa kaum praktiziert, weil sie in der Vergangenheit, vor allem im Nationalsozialismus, drastisch missbraucht worden ist:

    "Im 19. und auch noch lange im 20. Jahrhundert nutzte man sie für rassistische Zwecke: Mit Schädelmessungen versuchte man, Rassen zu klassifizieren und zu bestimmen, wer wem überlegen wäre – dadurch verlor die Methode ihr Ansehen. Viele sehen sie noch immer als einen Überrest der Anthropologie von gestern. Es gibt heute aber einige Forscher, die erkennen, was man damit leisten kann: Schädelmessungen sagen nichts darüber aus, wer wem überlegen ist, aber wer mit wem verwandt ist!"

    Die Ergebnisse von Loring Brace und seinen Kollegen decken sich mit Resultaten der Genforschung: So analysierten Wissenschaftler der Universität Mainz kürzlich das Erbgut früher Ackerbauern und fanden genetische Charakteristika, die heute fast ausgestorben sind. Auch Erkenntnisse der Archäologie deuten auf dasselbe Szenario für die "Jungsteinzeitliche Revolution": Die Ackerbauern breiteten sich offenbar auf dem europäischen Kontinent aus, konnten die ursprünglichen Einwohner aber nicht verdrängen. Die alt eingesessenen Jäger und Sammler blieben die vorherrschende Bevölkerungsgruppe. Archäologische Funde zeigen, so Brace, dass sie weiterhin die Kultur prägten:

    "Die Archäologen sehen das daran, dass die alten nordeuropäischen Werkzeuge nicht verschwanden, sondern dauerhaft erhalten blieben. Die Jäger und Sammler übernahmen nur die Keramik der Einwanderer und den Ackerbau."