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Kampf um die Zukunft

In Modest Mussorgskys Volksdrama "Chowanschtschina" stehen sich politische und religiöse Gruppen, das Fürstengeschlecht der Chowansky und die neue Zeit in Gestalt Zar Peters I. unversöhnlich gegenüber. Eine große Oper, die Kent Nagano effektvoll interpretiert.

Von Holger Noltze |
    Dunkel ist Russlands Geschichte, dunkel die Handlung in Mussorgskys Chowanschtschina-Libretto, und: noch dunkler tönt seine Musik

    Mit einem schweren Schlag aufs Tam-Tam beginnt Kent Nagano seinen Programmschwerpunkt "slawische Oper" in München durchaus effektvoll, und Mussorgskys Riesentorso, an dem Dimitri Schostakowitschs Instrumentierung ganze Arbeit geleistet hat, erweist sich als kluge Wahl: rau, scharfkantig, strukturiert klingt Naganos Mussorgsky, was auch bedeutet, dass hier dankenswerterweise nicht auf die russische Seelen-Drüse gedrückt wird. Und die Inszenierung des jungen Dmitri Tcherniakov tut das Ihrige: wann immer eine Weihrauchwolke sich über dem Gesang vom Heiligen Russland respektive vom Heiligen im Allgemeinen zu verbreiten droht, da lässt Tcherniakov etwa lautstark Plastikbecher zertrampeln, da wird, aus verschiedensten Gründen, in die Luft geballert, und selbst Vater Dossifej, Anführer der Sekte der Altgläubigen und der relativ heiligste Mann des Abends, knallt gelegentlich mit einem Revolver in die Luft. Auch gesanglich verfügt Anatoli Kotscherga über den je richtigen Ton. Den väterlichen, den zornigen, auch den mystischen:

    Auch das Gewicht des Endes liegt schwer auf den Schultern von Dossifej -Kotscherga. Denn die Inszenierung verzichtet ganz auf den hier eigentlich vorgesehenen Selbstverbrennungs-Feuerzauber: Es ist die letzte Ungeheuerlichkeit dieser an Ungeheuerlichkeiten reichen Oper, dass die Gemeinde der Altgläubigen da zum Finale, umstellt von den Schützen des neuen Zaren Peter, den Massenselbstmord in Flammen vollzieht. In München schauen sie bloß ins Parkett, während im Saal die Leuchter angehen.

    Überhaupt gehen an diesem Abend manche Lichter an, und nicht nur über die Qualität der Musik. Die Regie gibt sich alle Mühe, die leicht unübersichtlichen Schichten der Handlung zu ordnen. Tcherniakov hat sich dazu eine Simultanbühne gebaut, die über- und nebeneinander die verschiedenen Aktionsräume zeigt: des Zaren Peter zum Beispiel, der im Stück eine unsichtbare Figur ist, auf den sich hier aber alle politischen Aktionen beziehen. Denn Chowanschtschina zeigt ein Geschichtspanorama Russlands an der Wende zur Neuzeit, es zeigt Intriganten, Denunzianten, Gläubige, Gewaltbereite und Gewissenlose, eine Welt dauernder Grausamkeit, in der sich alle auf die heilige Rus berufen, und doch buchstäblich alle am scheinbar ewigen Elend des Landes mitwirken. Es gehört zu Mussorgskys frappierender Modernität, dass man nie weiß, wer die Guten sind, alles löst sich auf in Ambivalenz. Man sieht nur, wer die Opfer sind: das Volk, die Armen sowieso; aber vor allem den Individuen ergeht es übel: Der altgläubigen Marfa (Doris Soffel, zuerst gelegentlich forciert, am Ende zu dramatischer Größe gesteigert); dem "Westler" Golizyn, der in die Verbannung muss (markant gezeichnet von John Daszak), dem Schlawiner und Anführer der Strelitzen-Miliz, Chowansky selbst. Paata Burchuladze lässt ihn souverän changieren zwischen Politiker und Prolet, wir kennen den Typus. Keiner gewinnt. Und staunend gucken wir in Tcherniakovs Rätselkasten: der dann doch, mit Mussorgsky, mehr zeigt als die Tagesschau, und auch dass es keinen Putin vorzeigen muss, ist ein Gewinn. Gern hört man die bestens präparierten Chöre (dass manchmal die Verbindung zum Orchester wackelte, lag wohl an schwierigen Sichtverhältnissen), und Klaus Florian Vogt, als liebender Jung-Chowansky, schenkt am Ende noch eine richtige Opernkantilene her:

    Als wir aus Tcherniakovs kaltgrauer Bunkerbühne auf die Straße traten, fegte ein plötzlich eisiger Wind Schneeflocken durch München, und das passte sehr gut.