Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Kampfbegriff Dekadenz
Von alten Römern und neuen Rechten

Erst die Orgie, dann der Untergang: Dekadenz ist der Anfang vom Ende, lautet der Verdacht, gerade in den Religionen. Doch das ausschweifende Leben reizt seit Jahrtausenden, ebenso wie die Kritik daran. Ein Dokumentarfilm begibt sich in die Welt der Gelage und Gelüste.

Von Ana Suhr | 04.03.2020
Arrivo di Bacco sull isola di Andros (Baccanale degli Andrii). Arrivee de Bacchus sur l ile d Andros. Image representant Fete de satires et de bacchantes en l honneur de la divinite Bacchus (Baccanale). Peinture de Tiziano Vecellio dit le Titien (1485-1576), v.1525. Dim. 1,75 X 1,93 m. Madrid, musee du Prado. . !AUFNAHMEDATUM GESCHÄTZT! PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY EPS1067 Arrivo Tue Bacco sull Isola Tue Andros degli Arrivee de Bacchus sur l Ile D Andros Image Representant Fete de satires Et de Bacchantes en l Honneur de La Bacchus Peinture de Tiziano Vecellio DIT Le 1485 1576 V 1525 Dim 1 75 X 1 93 M Madrid Musee you Prado date estimated PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY EPS1067
Das stereotype Bild der Antike: mit Wein, Weib und Gesang in den Untergang (imago stock&people)
"Der archäologische Unterwasserpark von Baia ist ein Meeresschutzgebiet, einer der außergewöhnlichsten Orte der Welt, wo es möglich ist, zu schnorcheln oder zu tauchen. Wir tauchen also hier und gehen unter Wasser mit den Sauerstoffflaschen. Und wir sehen unglaubliche Sachen."
Gemeinsam mit einem Kameramann lässt sich Christina Canoro langsam herabsinken. In etwa sieben Metern Tiefe hat sie den Meeresboden erreicht. Im fahlen grünen Licht erscheinen zunächst zahlreiche Mauerreste aus Ziegelsteinen, von Muscheln und Algen überwuchert, teilweise mannshoch. Hinter einer dieser Mauern taucht auf einmal etwas großes Weißes im Schein ihrer Lampe auf. Es ist eine Marmorstatue von Dionysos, dem griechischen Gott des Weines, der Fruchtbarkeit und der Ekstase.
Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm "Dekadenz - Die Sehnsucht nach Lust und Untergang"
Sinnbild einer untergegangenen Kultur: Dionysos, der griechische Gott der Ekstase. Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm "Dekadenz - Die Sehnsucht nach Lust und Untergang" (Bearb. Ana Suhr / Deutschlandradio © dmfilm und tv produktion/ARTE)
"Dort sehen wir die Punta dell'Epitaffio, und dort, genau vor der Spitze im Meer, liegt das Ninfeo di Claudio, das Nymphäum des Kaiserpalastes von Kaiser Claudius, welches von Statuen umgeben ist: der Statue von Dionysos sowie von der Mutter und Tochter des Kaisers Claudius."
Das Nymphäum, oder auch Nymphenheiligtum, von Kaiser Claudius ist nur eine der zahlreichen antiken Sehenswürdigkeiten von Baia am Golf von Sorrent. Überall, sowohl unter als auch über Wasser, sind römische Ruinen zu besichtigen. Die alten Römer liebten diese Küstenregion nahe der Stadt Neapel. Sie bot ihnen neben lieblichem Klima und fruchtbarer Natur auch schnelle Zugänge zu Militär- und Handelshäfen, vor allem aber versprach sie Erholung in einer ausgedehnten Bäderlandschaft.
"Wir sind im Park der Thermen von Baia. Sie waren grandios, wir müssen uns vorstellen, dass alle reichen römischen Patrizier von Senatoren bis Kaisern hier in Baia eine Villa haben wollten. Sie waren auch geschäftlich hier, aber vor allem nutzten sie die Thermen um sich zu entspannen, um sich den schönen Seiten des Lebens hinzugeben", sagt Christina Canoro.
Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm "Dekadenz - Die Sehnsucht nach Lust und Untergang"
Christina Canoro am Strand von Baia. Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm "Dekadenz - Die Sehnsucht nach Lust und Untergang" (Bearb. Ana Suhr / Deutschlandradio © dmfilm und tv produktion/ARTE)
Über die Jahre kamen sie alle hierher: Neben Kaiser Claudius hatten bereits Caesar und Cicero prächtige Villen in Baia errichtet, Caligula, Nero und Hadrian waren gern gesehene Gäste, die hier unter anderem ihre Orgien feierten. Der Dichter Ovid pries Baia als den perfekten Ort für Liebesspiele. Dem Philosophen Seneca hingegen war das ausschweifende Leben in Baia ein Dorn im Auge, er bezeichnete die Stadt als "deversorium vitiorum" – einen Schlupfwinkel des Lasters.
Wenn es den perfekten Ort gibt, um sich dem Thema Dekadenz zu nähern, dann sicherlich hier in Baia, denn der Begriff Dekadenz ist eng mit der Vorstellung einer sittenlosen, enthemmten Antike verbunden. Und eben dieses lasterhafte Leben sei der Grund für den Untergang des römischen Reiches gewesen. So warnen Moralapostel seit dem Frühmittelalter.
Nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Unzucht und im Bett, nicht in Streit und Neid, sondern zieht den Herrn Jesus Christus an und sorgt euch nicht um das Fleisch und seine Begierden.
(Confessiones, 8. Buch, 12. Kap./29. Abschn.)
So mahnte der heilige Augustinus bereits um das Jahr 400 nach Christus in seinen Bekenntnissen. Im frühen 20. Jahrhundert ließ Oswald Spengler kein gutes Haar an den alten Römern. In seiner Morphologie "Der Untergang des Abendlandes", die gerade von der Neuen Rechten wiederentdeckt wird, fällt er ein vernichtendes Urteil:
Die Römer [sind] Barbaren gewesen, Barbaren, die einem großen Aufschwung nicht vorangehen, sondern ihn beschließen. Seelenlos, unphilosophisch, ohne Kunst, rassehaft bis zum Brutalen, rücksichtslos auf reale Erfolge haltend [...]."
(Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes)
"Das war zunächst mein Hauptanliegen, einmal nachzuspüren, was ist eigentlich dran an diesem Mythos von der römischen Dekadenz, von Fress-/Sauforgien der Oberschicht, der Elite, die sich nicht mehr um ihre Gesellschaft, um ihren Staat gekümmert haben. Das römische Reich ist ja zerfallen. Ist es tatsächlich daran, an diesem moralisch-ethisch verwerflichen Leben zerfallen, oder ist es vielleicht ein Mythos, mit dem wir bis heute arbeiten?"
So fragte sich der Filmregisseur Wilfried Hauke und wollte dem Phänomen Dekadenz nachgehen. "Dekadenz – Sehnsucht nach Lust und Untergang" heißt der Zweiteiler.
"Also, ich glaube, dass Dokumentarfilm eine ganz große Möglichkeit hat, dieses Thema von Dekadenz und Vorstellung von Dekadenz und Bildwelten von Dekadenz, dem nachzuspüren, und das, was wir bisher an Material gedreht haben überall in Europa, ganz besonders in Neapel und im Golf von Sorrent, scheint das auch zu bestätigen."
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
In seinem Arbeitszimmer zeigt Autor Wilfried Hauke erste Ausschnitte aus seinem Dokumentarfilm "Dekadenz - Die Sehnsucht nach Lust und Untergang" (Ana Suhr / Deutschlandradio)
Wir, das ist neben Wilfried Hauke und seiner Filmcrew ein dreiköpfiges Redaktionsteam. Dazu gehören Ulla Hocker von Arte, Bernd Seidl vom Südwestrundfunk und Mechthild Lehning von Radio Bremen, die federführend bei diesem Projekt ist. Sie betont die aktuellen Bezüge in der Dekadenzdebatte, denn Dekadenz wird auch von der rechtsextremen Szene als Kampfbegriff verwendet.
"Der Vorwurf der neuen Rechten ist das Versagen der Eliten. Das wird mal so behauptet. Und Eliten werden auch nicht ganz genau definiert. Und da wollten wir gerne schauen: Stimmt das? Was hat es denn tatsächlich mit dem Versagen der Eliten auf sich? Das Versagen der Eliten meint natürlich unseren Individualismus, aber er zielt auch ganz direkt auf die Demokratie. Es ist beängstigend, was ein Populist anrichten kann, aber es ist beruhigend zu sehen, dass die Demokratie sich wehrt. Das ist etwas, was – glaube ich – den Protagonisten in unseren beiden Filmen bewusst ist, dass man um die kämpfen muss."
Zehn Protagonisten führen durch den Film und beleuchten ganz unterschiedliche Aspekte der Dekadenz: in der bildenden Kunst oder in Literatur und Philosopie, in Gesellschaft und Politik sowie in unserer heutigen Alltagskultur.
"Wir haben Christina gefunden, die in Baia mit ihrem Mann gemeinsam eine Tauchstation führt, nachhaltigen Tourismus betreibt, gleichzeitig aus Neapel kommt und diese Welt der Widersprüche von großer Armut und schöner vergangener Belle Epoche des 19. Jahrhunderts dort kennt", freut sich Wilfried Hauke.
Neapel. Die Kamera fängt Straßenszenen ein. Verfallene Häuser in engen Gassen, Wäsche vor den Fenstern und Verkaufsstände auf den Straßen. Menschen, Autos und Mopeds wuseln gleichzeitig durch ein Geschäftsviertel. Überall liegt Müll. Menschen mit Handy am Ohr hetzen vorbei. An allen Straßenecken stehen oder sitzen Männer, die geschäftig Vorbeieilenden beachten sie nicht.
Christina Canoro:
"Für mich ist Dekadenz heute der Verlust von Werten, nicht nur der Moralischen, also Sex, Freuden des Lebens, sondern auch der Gerechtigkeit, der Gleichheit. Ich denke, dass wir heute viele dieser Werte in unserer Gesellschaft verloren haben."
Vor einem Wettbüro bieten ärmlich wirkende Männer ihre Ware auf dem Bürgersteig an. Direkt daneben, auf der Treppe, die zu dem barocken Portal einer prächtigen Patriziervilla führt, sitzen vier schwarzafrikanisch aussehende Männer. Um sie herum viele prall gefüllte Plastiktüten. Später breiten sie eine große Plane vor den Treppenstufen der Villa aus. Es soll wohl auch ein Verkaufsstand werden.
Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm "Dekadenz - Die Sehnsucht nach Lust und Untergang"
Heutige Armut und die Schönheit der vergangenen Belle Epoche liegen in Neapel eng beieinander. Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm "Dekadenz - Die Sehnsucht nach Lust und Untergang" (Bearb. Ana Suhr / Deutschlandradio © dmfilm und tv produktion/ARTE)
Neapel ist eine sogenannte Stadt der Zuflucht. Im Hafen laufen viele Flüchtlingsschiffe ein. "Städte der Zuflucht" setzen sich dafür ein, unabhängig von der Politik ihrer jeweiligen Regierungen Flüchtlinge direkt aufzunehmen. Im Stadtbild ist das überall zu sehen. Christina Canoro macht das betroffen:
"Was wir jeden Tag hören, und was an unserer Küste und in unserem Meer mit den Einwanderern passiert, lässt uns nachdenklich über diesen Werteverfall werden. Werte, die tatsächlich Ausdruck einer jahrtausendalten Kultur waren, die jetzt allerdings im Verfall ist. Wir geben immer mehr die wichtigen Werte für den ‚Gott des Geldes‘ auf."
Kritik an grenzenlosem Kapitalismus und dem damit einhergehenden Werteverfall - das ist nicht neu.
Der französische Philosoph Michaël Fœssel ist ein weiterer Protagonist, den der Film begleitet. Er sagt, wir leben regelmäßig in Phasen des Untergangs, in Zeitenwenden, wie Wilfried Hauke erklärt.
"Das beschreibt Michaël Fœssel, wie ich finde, sehr pointiert und überträgt es eben auch auf unsere heutige Zeit, und wir haben heute, wenn wir unsere westliche Welt anschauen, auf der einen Seite das Rauschhafte, das Egomanische, das Narzisstische, die großen Feiern. Berlin, den Berghain, das gilt ja sozusagen als Hotspot des Frevelhaften, Lasterhaften, dass aber auf der anderen Seite wir zunehmend von demokratiefeindlich oder -fern eingestellten Kulturen der islamischen Welt, aber auch bei uns selbst aus unserer Mitte heraus, mit dem Rechtspopulismus diese Dekadenz als Waffe an den Kopf geschleudert bekommen."
Dass nicht nur Rechte mit Dekadenz gegen unsere Gesellschaft Stimmung machen, sondern gleichermaßen auch Linke und Islamisten unserer westlichen Welt Dekadenz vorwerfen – das ist einer der vielen Widersprüche unserer Zeit, denen das Filmteam nachgeht. In diesem Fall ist es der rückwärtsgewandte Blick, der die auf den ersten Blick völlig unterschiedlichen Gruppen eint, so Mechthild Lehning.
"Die gehen von der Hypothese aus ‚früher war alles besser‘. Das ist natürlich komplett geschichtsvergessen. Ich glaube, das ist das verbindende Element. Das ist auch das, was Trump macht, was die neue Rechte tut in der Politik. Sie suggerieren, früher war alles besser. Wir müssen uns nur den Brexit anschauen und die Versprechen: Ihr bekommt euer Empire zurück. Das ist natürlich kompletter Blödsinn, hat mit der modernen Welt nichts zu tun, aber es verfängt, weil es eine große Sehnsucht gibt nach einer Welt, die sich, glaube ich, nicht komplett nur zusammensetzt aus Widersprüchen."
Diesen Wunsch nach mehr Orientierung in einem unüberschaubaren Leben machen sich nicht nur Populisten zunutze. Auch die Religionen bieten Leitlinien an. Was man tun, vor allem aber, was man lassen soll, haben die christlichen Kirchen in den Zehn Geboten festgehalten. Sie sind allerdings nicht als unverbindlicher Leitfaden zu verstehen, sondern als strikte Verhaltensregel: Wer sich nicht daran hält, der sündigt. Wer die Sünde nicht bereut, wird nach dem Tod mit dem zweiten Tod in der Hölle bestraft. In der Bibel selbst gibt es allerdings keinen Hinweis auf solche tödlichen Sünden. Erfunden hat sie der Mönch Euagrios Pontikos Ende des 4. Jahrhunderts, um das monastische Leben zu regulieren. Die heute bekannten sieben Todsünden stammen von Papst Gregor dem Großen und richten sich an alle Gläubigen.
Die sieben Todsünden sind eng mit unserer Vorstellung von Dekadenz verbunden. Und auch die Umwertung der Todsünden ins Positive kann man als eine Form von Dekadenz bezeichnen, weil damit dem christlichen Fundament der Boden entzogen wird.
Szenenwechsel: Vorhang auf für Lisa Eckhart! Mit ihrem Bühnenprogramm "Die Vorteile des Lasters" gastiert sie im Wiener Kabarett-Theater "Zur Kulisse".
Die sieben katholischen Todsünden: Völlerei, Hochmut, Wollust, Zorn, Neid, Habgier – und Trägheit.
"Acedia, die Trägheit! Der Mensch hat im Laufe der Evolution eine Vielzahl absurder Bewegungen erfunden, wie das Kamasutra, diese elendige Mischung aus Unzucht und Möbelmontage. Des weiteren natürlich Sport. Sport und seine missgebildeten Geschwister Yoga, Pilates – der Menopausen-Marshallplan –, für die, die sich ihrer Inkontinenz schämen, gibt es Wassergymnastik, und zu guter Letzt eher klassisch das Turnen. Turnen ist eigentlich eine deutsche Erfindung, wurde erfunden Ende des 19. Jahrhunderts von einem gewissen Ludwig Jahn, der es unheimlich gern mit jungen Knaben getrieben hätte, aber leider nicht gläubig war."
Lisa Eckart legt hier lasziv und frivol ihren Finger in gleich mehrere Wunden. Die Selbstoptimierung nicht mehr nur des Körpers, sondern mittlerweile des gesamten Lebens zum Preis des Lustverlustes ist eines ihrer großen Themen. Im Film sieht man sie im Garten eines Wiener Gasthauses sitzen. Bei Wein und Zigarette kritisiert Lisa Eckhart die Nabelschau unserer digitalisierten Gegenwart.
Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm "Dekadenz - Die Sehnsucht nach Lust und Untergang"
Kabarettistin Lisa Eckhart im Gespräch. Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm "Dekadenz - Die Sehnsucht nach Lust und Untergang" (Bearb. Ana Suhr / Deutschlandradio © dmfilm und tv produktion/ARTE)
"Der wahre Liebhaber der Dekadenz müsste eigentlich im Spiegelbild ertrinken können. Das können diese Menschen nicht. Sie müssen das nach außen tragen. Sie haben an sich selbst so für sich keine Freude, denke ich. Sie können den Genuss nicht wertschätzen, wenn Sie ihn nicht auf eine obskure Art mit anderen teilen, und das meine ich nicht im positiven jovialen Sinne, sondern indem sie beobachtet werden, wie sie genießen, indem sie filmen, was sie im Begriff sind zu genießen, wenn sie ihr Essen in den teuersten Restaurants fotografieren, um es nicht selbst konsumieren zu müssen, weil sie es nicht können, weil sie überfordert sind mit Exzess und im Grunde völlig impotent."
Viele hundert Kilometer von Wien entfernt, in der Nähe von Kiel, blättert Filmautor und Regisseur Wilfried Hauke in seinem Arbeitszimmer durch den Fotoband Generation Wealth. Die Fotografin Lauren Greenfield zeigt darin in schrillen Bildern die Reichen und Schönen ihrer Heimat Los Angeles – oder diejenigen, die sich dafür halten. Schönheitswahn um jeden Preis: operierte Gesichter und Körper, aufgepolsterte Lippen und Brüste.
Lisa Eckhart findet:
"Das ist für mich nicht Dekadenz. Das ist diese gekaufte Schönheit. Ich unterscheide sehr zwischen Dekadenz und was ich jetzt um mich herum andauernd sehe: Degeneration. Da mache ich einen großen Unterschied. Eine Degeneration, die sich auch vital will, die es sich in diesem Gesundheits-Faschismus, möchte man so etwas nennen, diesem Optimierungzwang unterworfen hat. Und das hat keinerlei Liebe zum wahren Exzess, das ist eine Getriebenheit."
Dieses operierte, aufgespritzte Gruselkabinet der Eitelkeiten, wie es bei Lauren Greenfield zu sehen ist, steht in krassem Gegensatz zu dem, was die Maler, die im 19. Jahrhundert zur Kunstepoche der Décadence zählten, auf der Leinwand festhielten. Ihre damals skandalösen Bilder schwelgen geradezu im Exzess, tauchten ein in einen orgiastischen Überfluss und zeigten den menschlichen Körper inmitten dieser Szenerien völlig schonungslos. Sie erhoben nicht nur den moralischen Verfall zur Ästhetik, sondern auch den körperlichen, indem sie Alter, Krankheit oder Tod ganz ohne Gnade darstellten. Damit wollten sie schockieren und gegen das bis dato herrschende Diktat aufbegehren, das Kunst als reines Werkzeug von Religion und Ethik betrachtete.
"Dekadenz ist ein politisches, aber auch ein ästhetisches Phänomen, und die sieben Todsünden werden im 19. Jahrhundert schon in der Dekadence zu einem, sag ich mal, ästhetischen Programm: Wer das schafft, wer das umsetzt, gehört dazu, ist Dandy, ist verruchter, ist berauschter, ist das, was man so der Unterwelt zuschreiben würde", sagt Wilfried Hauke.
Was eben noch skandalös schien, wird zum Massenphänomen, von dem sich dann wieder eine Avantgarde abwendet, um sich abermals neu zu erfinden. In einer solchen Umbruchphase befindet sich unsere westliche Zivilisation gerade wieder, konstatiert Filmautor Wilfried Hauke. Dabei ist unsere Lust am Untergang selbst ein Zeichen von Dekadenz.
"Wir haben die Frage gestellt ‚Was passiert eigentlich jetzt in der Zukunft?‘ und dabei festgestellt, dass wir uns in einer Zeitenwende befinden. Also wir maßen uns an zu sagen, hier werden die Weichen neu gestellt. Was sind eigentlich die Kriterien, die Maßstäbe, mit denen man Untergang festhält? Was passiert emotional bei den Menschen? Das Gefühl, es ist eine Endzeitstimmung da, alles ändert sich, die Welt nimmt auf uns keine Rücksicht mehr, ist nicht mehr in Ehrfurcht erstarrt vor dem Westen, sondern sagt: ‚Wir sind die kommenden Player in der Zukunft, und ihr seid eine aussterbende, untergehende Welt, eine Kultur der Dekadenz.‘"
Der zweiteilige Dokumentarfilm "Dekadenz - Sehnsucht nach Lust und Untergang" wird im Sommer bei arte gesendet.