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Kampnagel Hamburg
Mittlere Tanz-Generation kaum vertreten

Kampnagel, eine ehemalige Maschinenfabrik in Hamburg, dient als Veranstaltungsort für die diesjährige "Tanzplattform". Sie gilt als Dreh- und Angelpunkt der internationalen Tanzwelt. Aus Kostengründen war aber die mittlere Generation kaum vertreten.

Von Gabriele Wittmann | 02.03.2014
    Der Mensch ist ein Wesen, das immer etwas vor sich herträgt: Eine Meinung, ein Dafür - oder Dagegen. Ein Wesen, das differenziert und benennt - und sich auf eine Seite schlägt. In diesem Falle ist es eine mannshohe Front aus Pappe, mit der jeder der 16 Tänzer den Raum stürmt, tritt, trippelt, durch Drehungen fliegt. Ein jeder mogelt sich durch zwischen entstehenden Konstellationen, es herrscht ein allgemeines Aufstampfen und Davonstolpern, ein Einrasten und Ausgrenzen. Karierte Kapuzenmänner verharren als Gatekeeper, ein rosa gekleideter elisabethanischer Narr schimpft lauthals in sprachverwirrtem Gibberish. Wie Partikel einer größeren Kraft werden die Körper aus der Bühne herausgeschleudert, und dann wieder hereingespült, angeschwemmt wie der Abfall an einer Küste.
    Mit William Forsythe’s Kreation "Sider" eröffnete diese Ausgabe der Tanzplattform Deutschland. Und zeigte, welche Ästhetiken und Themen den zeitgenössischen Tanz derzeit umtreiben: Es sind Wanderungen, Krieg, und Ausgrenzung. Im Halbdunkel verschwindende Körper wie der von Richard Siegal, der in den letzten Momenten seines kryptischen Solos "Black Swan" zu einer eigenen, souligen Stimme findet und anhebt zu einem Klagegesang, dessen Silben sich klanglich verzerren und dann bildlich in ordentlichen Wörtern wieder finden - auf einer rotierenden Litfaßsäule.
    Der zeitgenössische Tanz hat sich immer in der Reibung mit anderen Kunstsparten entwickelt. War es in früheren Ausgaben der Plattform eher die Bildende Kunst, so ist es diesmal überwiegend die Musik. Und zwar, überraschend: nicht die U-, sondern die E-Musik. In Meg Stuart’s Kreation "Built to Last" sind es die Atmosphères von Györgi Ligeti oder Dvorak’s neunte Sinfonie, an der die Tänzer - bewusst - zerschellen: Hinreißend komisch, bäuchlings in einem pas de quatre der Ellenbogen und Hände, detailliert und abwechslungsreich choreografiert.
    Kontrast zwischen Musik und Bewegung
    Nicht alle Produktionen halten dieser Auseinandersetzung mit ernster Musik stand. In Sebastian Matthias‘ "Dansereye" gelingt vor allem ein raumchoreographisches Ereignis: Von der Decke hängen gebogene Neonröhren. Sie strukturieren den Raum zu einer liegenden Acht, in der die Zuschauer zunächst sitzen oder stehen. Dann folgen sie den umherziehenden Tänzern und Musikern, die mitreißend komponierte und pointiert artikulierte Renaissance-Klänge und Neue Musikstücke zum Besten geben. Und im Kontrast zwischen Musik und Bewegung schält sich eine unbequeme Ahnung heraus. Es wird nämlich klar, wie sehr die Neue Musik sich aus der Klassischen entwickelt hat: Auch sie verfügt nämlich - trotz aller historischer Brüche - über differenzierte Parameter. Über so viel Differenziertheit verfügen in diesem Stück aber weder Tänzerkörper noch Tanz.
    Ehrliche, kluge und am Instrument Körper geschulte Arbeiten kamen dagegen von einigen in "Pitching"-Formate verbannten Nachwuchskünstlern. Lea Martini etwa reibt in einem Frauenduett minimale Bewegungen an einem musikalischen Puls, dessen Grenzen von attack und sustain sich stets verschieben, sodass Subjekt und Objekt sich stets auflösen. Und Sebastian Schulz stellt Kummerkästen von der Größe eines Zeitungskiosks in deutsche Großstädte, um den Kummer der Nation einzufangen und choreografisch auf die Bühne zu lotsen.
    Mittlere Generation entspricht nicht den Qualitäts-Kriterien
    Insgesamt war dies eine Tanzplattform mit vielen gelungenen Arbeiten - vor allem von den ganz Großen der Branche, und von ganz unten. Doch die mittlere Generation war kaum vertreten. Warum? Jury-Mitglied Bettina Masuch erklärte erfrischend ehrlich: Die mittlere Generation habe inzwischen das Land verlassen, oder sei in die Lehre abgetaucht, um sich überhaupt noch finanzieren zu können, oder aber habe seit der letzten Plattform kein Stück herausgebracht, das den Qualitäts-Kriterien entspreche. Jetzt gelte es, nicht noch ein Nachwuchs-Festival für billige Newcomer zu gründen, sondern Künstler endlich wieder langfristig und nachhaltig zu fördern. Dass diese lang schwelende Erkenntnis endlich auch in alle Etagen der Tanzförderung durchgedrungen ist, dafür ist den Programm-Diskussionen auf der diesjährigen Tanzplattform zu danken.