Rainer B. Schossig: Sie haben Anfang der 60er Jahre in der französischen Vorstadt von Bobigny ein Wohnviertel mit geplant, das heute zu den umstrittenen Problemzonen gehört. Wie sah das aus?
Günther Uhlig: Ja, wir sind als junge Leute nach Paris gepilgert geradezu, weil wir begeistert waren von der neuen Architektur, die da in den Horizonten der Banlieues entstanden ist. Als erstes hat uns natürlich fasziniert die gigantische technische Leistung, die der französische Staat auf die Beine gestellt hat. Die ja so beeindruckend war, dass der Bausenator Schwedler damals in Berlin sofort die Feldfabriken für Großtafelbauweise, die in Paris aus dem Boden gestampft worden waren, nach Berlin importiert hat, um dort das Märkische Viertel in die Höhe zu ziehen. Also Paris, Frankreich, mit seinen technologischen und staatlichen Konzentrationen war für uns ein Vorbild. Und deswegen bin ich als junger Architekt - aber ich war eigentlich noch Student -, war ich natürlich nach Paris gegangen und habe dort ein Jahr gearbeitet bei einem Architekten, der mit einem solchen Auftrag, einen Teil einer größeren Siedlungsanlage beauftragt war.
Schossig: Zeichnete sich diese Megalomanie des Bauens damals schon ab für Sie beim Mitwirken in Bovigny?
Uhlig: Ja, in einer gewissen Weise. Weil ich natürlich auf der einen Seite technikbegeistert war - wie alle in der Zeit, weil wir ja geglaubt haben, in guter Tradition der 20er Jahre, dass mit der Entfaltung aller Möglichkeiten der Technik auch die Lebensverhältnisse zu bessern wären und eine goldene Zukunft uns beschert werden könnte. Und mit diesen Vorstellungen bin ich hingegangen. Aber, wir waren gleichzeitig in Deutschland schon ein bisschen angekränkelt von sozialen Fragen. Also wir sind in Deutschland darauf getrimmt worden, nachzugucken: Für wen wird denn gebaut? Wie soll der Wohnungsmix sein? Mit welchen Statistiken müsste der Planer umgehen, um lebbare Siedlungen zu bauen? Und das, ist mir aufgefallen, war in Paris überhaupt nicht gefragt, sondern man hat rein nach Grundrissfragen, nach produktionstechnologischen Fragen, nach Materialfragen die Siedlungen realisiert.
Schossig: Also, das Unwirtliche, das da entstand, wurde gar nicht thematisiert?
Uhlig: Na, man, es sollte ja nicht unwirtlich sein, sondern dazwischen waren ja die freien, grünen - die Wiesen, das war ja nicht nur Abstandsgrün, sondern da sollte Landschaft in die Siedlung fließen und die Siedlung sich mit der Landschaft verzahnen. Das waren die Ideen der Cités Radieuses von Le Corbusier, die man jetzt verwirklichen wollte. Also, weg von der engen Korridorstraße, weg von den unhygienischen Verhältnissen des 19. Jahrhunderts, der engen Stadt, nicht wahr?
Schossig: Diese damals noch lebende Architektenlegende Le Corbusier: Er ist ja auch in sich widersprüchlich. Wenn man sich Ronchamp anschaut, ist es ein sehr organisches Gebäude, auf der anderen Seite hatte er diesen harten Geometrismus auch gepredigt. Das hat sich auf Ihre Arbeit dort in den französischen Vorstädten auch ausgewirkt?
Uhlig: Ja, doch, in einer gewissen Weise. Wenngleich natürlich für mich damals unbewusst, weil ich das nicht so studiert hatte. Aber im Nachhinein ist mir das dann recht bald klar geworden. Denn es ist sehr früh die Kritik an diesen geometrischen, harten Formen laut geworden und so hat man versucht, eher organische, organologische Formen zu realisieren, so dass zum Beispiel ein Architekt richtig schlangenförmige, lange Gebilde in die Landschaft gesetzt hat. Aber, ob ich jetzt eine Scheibe oder ein geschlängeltes Ding habe, wenn keine Arbeitsplätze, keine Kneipen, keine Läden, kein et cetera nicht vorhanden ist, dann hilft die Architekturform wenig. Zum Glück.
Schossig: Also, keine formalistischen, sondern eben gesellschafts-soziologische Betrachtungen hätten hergemusst. Was ist Ihrer Ansicht nach jetzt der Grund dafür, dass diese ungeheuren Dissoziierungserscheinungen uns in diesen Vorstädten gegenübertreten? Liegt das oder inwieweit liegt das an dieser Architektur der 60er und 70er Jahre?
Uhlig: Ja ich glaube nicht, dass das an der Architektur liegt. Das liegt an der fehlenden Infrastruktur. Die großen Konzepte in den 20er Jahren haben ja versucht, wieder eine neue Stadt zu entwickeln, in der Arbeit und Leben wieder zusammengehen. In einer neuen, humanen Art. Diese Konzepte sind deswegen gescheitert - schon in den 20er Jahren -, weil die Industrie nicht nachgezogen ist: Es gab keine Arbeitsplätze, so dass reine Schlafstädte übrig geblieben sind. Und das ist das Problem. Das Problem ist, dass nichts zu tun war in den Siedlungen. Und in Deutschland hießen diese Siedlungen "Großsiedlungen", also die sind in der Abkehr von der "Gartenstadt" ab 1928/29 in Deutschland entstanden und sind dann in den 50er Jahren im Märkischen Viertel, in Heidelberg-Emmertsgrund, München-Perlach, Neue Vahr in Bremen, wieder entstanden. Da haben wir die gleichen Probleme: auch keine Arbeitsplätze. Aber, der Unterschied zu Paris ist, glaube ich, der - oder zu den französischen Siedlungen -, dass in Deutschland diese neue Architektur von den intellektuellen Eliten hochakzeptiert war. Man ist dort gerne eingezogen. Die Intellektuellen waren Vorreiter. In Frankreich war das nicht so.
Günther Uhlig: Ja, wir sind als junge Leute nach Paris gepilgert geradezu, weil wir begeistert waren von der neuen Architektur, die da in den Horizonten der Banlieues entstanden ist. Als erstes hat uns natürlich fasziniert die gigantische technische Leistung, die der französische Staat auf die Beine gestellt hat. Die ja so beeindruckend war, dass der Bausenator Schwedler damals in Berlin sofort die Feldfabriken für Großtafelbauweise, die in Paris aus dem Boden gestampft worden waren, nach Berlin importiert hat, um dort das Märkische Viertel in die Höhe zu ziehen. Also Paris, Frankreich, mit seinen technologischen und staatlichen Konzentrationen war für uns ein Vorbild. Und deswegen bin ich als junger Architekt - aber ich war eigentlich noch Student -, war ich natürlich nach Paris gegangen und habe dort ein Jahr gearbeitet bei einem Architekten, der mit einem solchen Auftrag, einen Teil einer größeren Siedlungsanlage beauftragt war.
Schossig: Zeichnete sich diese Megalomanie des Bauens damals schon ab für Sie beim Mitwirken in Bovigny?
Uhlig: Ja, in einer gewissen Weise. Weil ich natürlich auf der einen Seite technikbegeistert war - wie alle in der Zeit, weil wir ja geglaubt haben, in guter Tradition der 20er Jahre, dass mit der Entfaltung aller Möglichkeiten der Technik auch die Lebensverhältnisse zu bessern wären und eine goldene Zukunft uns beschert werden könnte. Und mit diesen Vorstellungen bin ich hingegangen. Aber, wir waren gleichzeitig in Deutschland schon ein bisschen angekränkelt von sozialen Fragen. Also wir sind in Deutschland darauf getrimmt worden, nachzugucken: Für wen wird denn gebaut? Wie soll der Wohnungsmix sein? Mit welchen Statistiken müsste der Planer umgehen, um lebbare Siedlungen zu bauen? Und das, ist mir aufgefallen, war in Paris überhaupt nicht gefragt, sondern man hat rein nach Grundrissfragen, nach produktionstechnologischen Fragen, nach Materialfragen die Siedlungen realisiert.
Schossig: Also, das Unwirtliche, das da entstand, wurde gar nicht thematisiert?
Uhlig: Na, man, es sollte ja nicht unwirtlich sein, sondern dazwischen waren ja die freien, grünen - die Wiesen, das war ja nicht nur Abstandsgrün, sondern da sollte Landschaft in die Siedlung fließen und die Siedlung sich mit der Landschaft verzahnen. Das waren die Ideen der Cités Radieuses von Le Corbusier, die man jetzt verwirklichen wollte. Also, weg von der engen Korridorstraße, weg von den unhygienischen Verhältnissen des 19. Jahrhunderts, der engen Stadt, nicht wahr?
Schossig: Diese damals noch lebende Architektenlegende Le Corbusier: Er ist ja auch in sich widersprüchlich. Wenn man sich Ronchamp anschaut, ist es ein sehr organisches Gebäude, auf der anderen Seite hatte er diesen harten Geometrismus auch gepredigt. Das hat sich auf Ihre Arbeit dort in den französischen Vorstädten auch ausgewirkt?
Uhlig: Ja, doch, in einer gewissen Weise. Wenngleich natürlich für mich damals unbewusst, weil ich das nicht so studiert hatte. Aber im Nachhinein ist mir das dann recht bald klar geworden. Denn es ist sehr früh die Kritik an diesen geometrischen, harten Formen laut geworden und so hat man versucht, eher organische, organologische Formen zu realisieren, so dass zum Beispiel ein Architekt richtig schlangenförmige, lange Gebilde in die Landschaft gesetzt hat. Aber, ob ich jetzt eine Scheibe oder ein geschlängeltes Ding habe, wenn keine Arbeitsplätze, keine Kneipen, keine Läden, kein et cetera nicht vorhanden ist, dann hilft die Architekturform wenig. Zum Glück.
Schossig: Also, keine formalistischen, sondern eben gesellschafts-soziologische Betrachtungen hätten hergemusst. Was ist Ihrer Ansicht nach jetzt der Grund dafür, dass diese ungeheuren Dissoziierungserscheinungen uns in diesen Vorstädten gegenübertreten? Liegt das oder inwieweit liegt das an dieser Architektur der 60er und 70er Jahre?
Uhlig: Ja ich glaube nicht, dass das an der Architektur liegt. Das liegt an der fehlenden Infrastruktur. Die großen Konzepte in den 20er Jahren haben ja versucht, wieder eine neue Stadt zu entwickeln, in der Arbeit und Leben wieder zusammengehen. In einer neuen, humanen Art. Diese Konzepte sind deswegen gescheitert - schon in den 20er Jahren -, weil die Industrie nicht nachgezogen ist: Es gab keine Arbeitsplätze, so dass reine Schlafstädte übrig geblieben sind. Und das ist das Problem. Das Problem ist, dass nichts zu tun war in den Siedlungen. Und in Deutschland hießen diese Siedlungen "Großsiedlungen", also die sind in der Abkehr von der "Gartenstadt" ab 1928/29 in Deutschland entstanden und sind dann in den 50er Jahren im Märkischen Viertel, in Heidelberg-Emmertsgrund, München-Perlach, Neue Vahr in Bremen, wieder entstanden. Da haben wir die gleichen Probleme: auch keine Arbeitsplätze. Aber, der Unterschied zu Paris ist, glaube ich, der - oder zu den französischen Siedlungen -, dass in Deutschland diese neue Architektur von den intellektuellen Eliten hochakzeptiert war. Man ist dort gerne eingezogen. Die Intellektuellen waren Vorreiter. In Frankreich war das nicht so.