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Kann Blockieren Sünde sein

Bei allem, was über den politischen Widerstand gegen Kernkraftwerke geschrieben wurde, ist bemerkenswert, dass es erst seit kurzem sozialwissenschaftliche und zeithistorische Forschungen über die Geschichte der Anti-AKW-Bewegung gibt.

Von Peter Leusch | 19.05.2011
    Die Bürgerinitiativen von Kaiserstuhl und Breisach rufen auf zum Sternmarsch gegen das geplante Atomkraftwerk in Wyhl und gegen das Bleiwerk in Marckolsheim.

    Mitte der 70er-Jahre hatten sich diesseits und jenseits des Rheins 40 badisch-elsässische Bürgerinitiativen gebildet im Kampf gegen Atomkraft und Großindustrie: Informationsveranstaltungen, Proteste, Demonstrationen und gerichtliche Klagen häuften sich. Nach einer Kundgebung im Februar 1975, an der 28.000 Menschen teilnahmen, überwanden Demonstranten die Barrikaden am Bauplatz, besetzten das Gelände und errichteten dort ein so genanntes Freundschaftshaus.

    "Wir fordern Sie zum letzten Mal auf, das Gelände zu verlassen!
    Sie werden ferner aufgefordert, ihre Zelte abzubrechen und Ihre Habe mitzunehmen."

    Die Konfrontation blieb friedlich. Nach einem Kompromiss verließen die Besetzer im November das Baugelände. Schlachten wurden nun vor den Gerichten ausgetragen: Anhörungen, Einsprüche, Gutachten und Gegengutachten, Urteile und Revisionen - ein juristisches Tauziehen, das sich über Jahre hinzog, während die politische Akzeptanz des Projekts immer weiter schrumpfte.

    "In Wyhl, da gibt's kein KKW. In Wyhl wird nichts gebaut.
    Und jetzt alle: Das KKW wird nicht gebaut!"

    Das Atomkraftwerk Wyhl wurde tatsächlich nie gebaut. Und heute ist das Gelände ein Naturschutzgebiet.
    Damals, in Wyhl 1975 ist die deutsche Anti-Atomkraft-Bewegung zwar nicht geboren worden - es gab sie schon vorher - aber in Wyhl ist sie aus dem Schatten der Bedeutungslosigkeit herausgetreten. Getragen wurde sie dabei nicht, wie manche meinten, von linksorientierten Akteuren, auch nicht von anarchischen Wirrköpfen und Chaoten, die sich mit der Staatsmacht anlegen wollten, und dafür womöglich aus entfernten Regionen herbeigeströmt waren, getragen wurde der Protest von der Bevölkerung vor Ort, von Bauern, Winzern, Handwerkern und Hausfrauen, auch von städtischen Akademikern, sie alle waren eher konservativ gesinnt und hegten in Bezug auf das Atomkraftwerk konkrete Befürchtungen. Dieter Rucht:

    "Im Südbaden waren die Winzer eine wichtige Oppositionsgruppe, da war es die Sorge um die Beeinträchtigung des Kleinklimas, man befürchtete Nebelbildung und damit weniger Sonneneinstrahlung und Verschlechterung des Weins.
    In Brokdorf waren es z. T. die Milchbauern, die befürchteten durch das Negativ-Image, das die Region bekäme, würde dann auch die Milch schwer verkäuflich, es waren aber auch sehr abstrakte Gefahrenpotenziale, man wusste schon, Radioaktivität ist nicht nur als schleichende Aktivität in niedrigen Dosen gefährlich, sondern es kann zu Unfällen, zu Explosionen kommen, es gab auch schon Orte, die damit begrifflich verbunden waren, etwa Windscale in England 1957."

    Der Berliner Soziologe Dieter Rucht ist ein Spezialist für soziale Bewegungen. Und einer der wenigen, die sich bisher wissenschaftlich mit der Anti-Atomkraft-Bewegung und ihrer Vorgeschichte beschäftigt haben.

    1955 hatte die Bundesregierung ein Ministerium für Atomfragen eingerichtet, das Franz-Josef Strauß übernahm. In den50er-Jahren träumte nicht nur Deutschland, sondern die halbe Welt vom friedlichen Atom als grandiosem Energieträger der Zukunft.

    Wer sich für progressiv hielt, war pro Kernenergie. Die oppositionelle SPD drängte auf ein finanziell besser ausgestattetes Atomprogramm, einhelliger noch als die CDU, wo Adenauer mit Blick auf die steigenden Kosten intern geschimpft habe, die verdammte Atomgeschichte habe uns allen das Hirn vernebelt. Die Linken waren generell entschiedene Befürworter einer zivilen Nutzung der Atomkraft. Das galt schon für den neomarxistischen Philosophen Ernst Bloch, und das galt auch noch für die 68er.

    Vor Wyhl findet man beim Streit um Atomenergie in den Lagern von Pro und Kontra Parteigänger, die aus heutiger Sicht ganz und gar nicht zueinander passen. Der Bielefelder Historiker Joachim Radkau hat das im Rahmen seines jüngst erschienen Buches mit dem Titel "Die Ära der Ökologie" näher untersucht.

    "Besonders putzig ist, dass die kompetentesten Kritiker damals aus dem RWE kamen, dem größten bundesdeutschen Stromproduzenten, da gab es einen - Oskar Löbel - der war geradezu darauf spezialisiert, die optimistischen Berechnungen der Atomlobby auseinander zu nehmen und zu zeigen, dass sie nicht wirklich fundiert waren."

    Das RWE bezog allerdings nicht aus grundsätzlichen, sondern aus Profiterwägungen Stellung gegen die Kernkraft. Man hatte gerade die Braunkohle als günstigen Energieträger erschlossen und fürchtete, dass die Atomkraft das Geschäft schmälern und zum Trumpf der Konkurrenz werden könnte. Im Lager der Atomkritiker oder zumindest Atomskeptiker traf man damals aber auch die Ingenieure.

    "Am ehesten Bedenken und Hinweise auf die Risiken der Kerntechnik kamen von erfahrenen Kraftwerksingenieuren. An der Spitze Friedrich Münzinger, in den 50er-Jahren ein alter AEG-Mann, der schon seit den 20er-Jahren für die AEG Großkraftwerke gebaut hatte, der wusste genau: ein großes Kraftwerk ist keine Schokoladenfabrik, da passieren manchmal Explosionen und Brände, da kann auch manches passieren, was man sich vorher nicht gedacht hat - und in seinem Buch "Atomkraft", dem führenden Standardwerk der Kernreaktoren der 50er-Jahre, kamen viele Passagen vor, die man später nur in Anti-AKW-Schriften findet."

    Während also die Ingenieure, die im Verdacht stehen, einer technischen Machbarkeit das Wort zu reden, aufgrund ihrer praktischen Erfahrung die Risiken von Atomanlagen realistisch einschätzten, seien die Theoretiker, die Atomphysiker, so Joachim Radkau, in dieser Frage vollkommen blauäugig gewesen:

    "Das wenigste Verantwortungsbewusstsein fand ich bei den berühmten Stars der Atomphysik, angefangen mit Werner Heisenberg und Otto Hahn, die waren völlig ahnungslos in Bezug auf die Risiken der Kerntechnik, sie interessierten sich nicht dafür, sie waren besessen von der Idee: 'Wir müssen durch die Entwicklung des friedlichen Atoms demonstrieren, dass wir schon damals im Krieg nicht etwa für Hitler eine Atombombe bauen wollten, sondern in Wirklichkeit die friedliche Kernkraft entwickeln wollten.' Die haben sich um die Risiken am allerwenigsten gekümmert, obwohl sie in der Öffentlichkeit immer als Beweis dafür präsentiert wurden, dass die Kernenergie von Anfang an mit höchstem Verantwortungsbewusstsein entwickelt worden sei."

    Die Anti-Atomkraft-Bewegung in Deutschland misstraute den wissenschaftlichen Kapazitäten. Man holte sich sachliche Fundierung aus den USA, wo schon in den 60er-Jahren atomkritische Fachliteratur erschienen war. Und politisch schaute man über den Rhein nach Frankreich, wo 1971 im elsässischen Fessenheim die allererste Bauplatzbesetzung stattgefunden hatte. Die deutsche Anti-AKW-Bewegung begann mit Verspätung, dann aber überholte sie an Stärke die anderer Länder und wurde in Deutschland zum Katalysator einer breiten Umweltbewegung. Der Erfolg von Wyhl jedoch wiederholte sich ein Jahr später in Brokdorf an der Unterelbe nicht. Und es blieb auch nicht friedlich:

    - Hier spricht die Polizei ...
    - Wehr euch, leistet Widerstand gegen das Atomkraftwerk im Land ...
    - Falls Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, beginnen wir mit der Räumung


    1976 kam es bei Großdemonstrationen in Brokdorf zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und militanten Anti-AKW-Aktivisten, mit mehr als 100 Verletzten auf beiden Seiten. Manche befürchteten einen ökologischen Bürgerkrieg.

    Das Kernkraftwerk Brokdorf wurde trotz Protest und juristischer Klagen fertig gestellt, ging 1986 in Betrieb und läuft heute noch. Die Fronten hatten sich nach Brokdof immer weiter verhärtet, mit übler Polemik auf beiden Seiten: Befürworter diffamierten den Kernenergieverzicht als Rückfall in die Steinzeit, während Gegner wie Robert Jungk schon den totalitären Atomstaat am Horizont sahen.

    Da sich das Atomprogramm nicht auf direktem Wege stoppen ließ, so Dieter Rucht, suchten die Aktivisten nach neuen Wegen. Die einen setzten verstärkt auf gerichtliche Verfahren, andere konzentrierten sich auf den Aufbau starker Umweltschutzorganisationen und alternativer Parteien, - 1980 wurde die Partei Die Grünen gegründet - wieder andere propagierten Energiesparmaßnahmen und die Entwicklung regenerativer Energien.

    Lokale Bürgerinitiativen, von denen viele sich im Umreis der Anti-AKW-Bewegung bildeten, schossen während der 70er-Jahre wie Pilze aus dem Boden. Ihre Koordination und Vernetzung übernahm vor allem der BBU, Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz, der 1972 von seinem Vorsitzenden Hans-Helmut Wüstenhagen buchstäblich aus dem Karlsruher Wohnzimmer heraus organisiert wurde.

    Politische Organisationen wie die kommunistischen Kadergruppen versuchten zwar die Anti-AKW-Bewegung zu infiltrieren und hier endlich jene Massenbasis zu finden, von der sie träumten. Doch das gelang ihnen nicht. Die Anti-AKW-Bewegung bildete ein breites zivilgesellschaftliches Geflecht mit vielen Knoten, aber ohne Zentrum.

    "Es blieb bis heute ein völlig dezentraler Verbund von Initiativen verschiedenster Art, es gab nie eine dominante Organisation, die das alles gesteuert oder im Griff gehabt hätte, und noch heute haben wir sehr starke regionale Verdichtungen, Gorleben ist vielleicht die prominenteste darunter, aber das sind Initiativen, die flankiert werden inzwischen von bundesweiten Netzwerken - wie "Ausgestrahlt" oder "X-tausendmal Quer", da gibt es auch Überschneidungen, - aber nochmals: die charakteristische Struktur ist das Netzwerk und nicht eine zentrale Organisation."

    Genau wie die Schauplätze änderten sich im Laufe der Zeit auch die Themen der Kritik: War es anfangs der so genannte GAU, der größte anzunehmende Unfall eines Kernkraftwerks, auf den sich die Atomgegner konzentrierten, so rückten die Fragen der Wiederaufarbeitung und der Endlagerung immer mehr ins Zentrum. Das niedersächsische Gorleben sollte zur größten Wiederaufarbeitungsanlage der Welt und der Salzstock zum Endlager des Atommülls werden. Joachim Radkau:

    "Die Wiederaufarbeitung hatte zunächst auch in Kreisen, die der Ökoszene nahe standen, eher einen guten Klang, es galt als ökologisch vorbildlicher Weg zur Resteverwertung. Rein aus der Ferne gesehen, schien es ganz vernünftig, aus dem Atommüll das stark strahlende Plutonium wieder herauszunehmen und wieder in Kernkraftwerken neu zu nutzen, - ich habe genauso gedacht, - erst allmählich merkte man, dass die Wiederaufarbeitung mit eigenen tückischen Risiken verbunden ist, das Sprichwort vom Teufel im Detail trifft auf viele Bereiche der Kernkraft zu - dafür ist die Wiederaufarbeitung das beste Beispiel." Lied von Wolf Maahn:

    Oh Tschernobyl - Das letzte Signal vor dem Overkill.
    Hey, hey, stoppt die AKWs.


    Die Katastrophe von Tschernobyl 1986 alarmierte ganz Europa. Denn die radioaktive Wolke machte nicht Halt an den Grenzen. In Deutschland weckte sie die Anti-Atombewegung aus ihrem Halbschlaf. Denn in den 80ern hatten andere Themen und Probleme - die Sorge um den Frieden, um die Arbeitsplätze und der Fall der Mauer 1989 - die Atomfrage in den Hintergrund gedrängt. Gleichwohl blieb die Anti-AKW-Bewegung in Deutschland stärker als in anderen Ländern.

    Es gab eine Auseinanderentwicklung im internationalen Vergleich, in Frankreich ist diese Anti-Atomkraftbewegung sehr stark zurückgegangen, in den meisten anderen Ländern auch - in Österreich, weil das Atomkraftwerk Zwentendorf, das fertig war, durch einen Volksentscheid, der sehr knapp ausging -50,3 Prozent waren dagegen - verhindert wurde, und damit war das Thema eigentlich abgeschlossen, andere Länder haben die Atomkraft nie eingeführt, also aus unterschiedlichen Gründen wurde die Anti-AKW-Bewegung in den einzelnen Ländern sehr schwach. Deutschland bildet die große Ausnahme, nämlich nicht stetige, aber doch immer wieder kehrende Proteste und Mobilisierungen, spätestens ab Mitte der 90er-Jahre wiederum angeregt durch diese Castor-Transporte von Frankreich in den Gorleben-Raum. Lied bei Schienenblockade bei Castortransport:

    Kann Blockieren Sünde sein?
    Plagt es Dein Gewissen, wenn Du Dich setzt?
    Und ein klitzekleines Gesetz verletzt?


    Warum ist die Anti-AKW-Bewegung gerade in Deutschland so stark? Im Ausland spricht man von The German Angst. Radkau glaubt nicht an einen Nationalcharakter. Aber die Tradition der deutschen Naturverbundenheit - Naturschutz, Aufforstungsbewegung, Naturheilkunde - das alles habe hierzulande einen guten Nährboden für die Antiatombewegung und für Ökologie überhaupt geboten. Dieter Rucht verweist auf die günstigen Bedingungen des föderativen Systems. Insbesondere das deutsche Verwaltungsgerichtswesen hätte den Atomgegnern viel mehr Interventionsmöglichkeiten eröffnet als zum Beispiel das französische Recht.

    Die Anti-AKW-Bewegung hat ihr Maximalziel - die sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke nicht erreicht. Aber sie hat den Bau oder die Inbetriebnahme mancher Anlage verhindert, beispielsweise den Schnellen Brüter in Kalkar. Vor allem wurde ein weiterer Ausbau der Atomanlagen in Deutschland gestoppt.

    Joachim Radkau nennt die Anti-Atomkraftbewegung aufgrund ihrer Beharrlichkeit den größten und gedankenreichsten öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik.
    Stetig wuchs die Ablehnung der Atomenergie in der deutschen Bevölkerung, bis sie 2001 auch im Parlament eine Mehrheit erlangte, die das Ende der Kernkraft in Deutschland terminierte. Gerhard Schröder, Bundeskanzler 2001:

    "Mit den soeben geleisteten Unterschriften haben wir uns abschließend darauf verständigt, die Nutzung der Kernenergie geordnet und wirtschaftlich vernünftig zu beenden."

    Jürgen Trittin, Bundesumweltminister:

    "Die Regellaufzeit wird auf 32 Jahre begrenzt. Im Jahre 2020 wird aller Voraussicht nach das letzte AKW hier vom Netz gehen."

    Klaus Lippold, CDU, Energie-/Atomexperte:

    "Herr Trittin, Sie freuen sich zu früh, wir werden das, was Sie als Kernenergieausstieg bezeichnen, wieder rückgängig machen."

    Der CDU-Atomexperte Klaus Lippold sollte mit seiner Drohung recht behalten: Dem Ausstieg aus der Atomkraft ließ Angela Merkel 2010 den Wiedereinstieg folgen mit großzügig bemessenen Restlaufzeiten.
    Bis die Katastrophe von Fukushima den Glauben an die Beherrschbarkeit der Atomkraft erschütterte. In einer Kehrtwende ließ die Bundesregierung die ältesten Atommeiler sofort abschalten und berät nun erneut über den endgültigen Ausstieg. Joachim Radkau:

    "Dass es weltweit einen sehr raschen Ausstieg aus der Kernenergie geben wird, glaube ich nicht. Die Energiewirtschaft argumentiert natürlich sofort, hier gibt es nicht solche Erdbeben wie in Japan."

    Dieter Rucht:

    "Für Deutschland ist ein Ergebnis absehbar. Die ursprünglichen Planungen, das heißt die Verlängerungen des Ausstiegs, die sind nicht mehr zu halten, es wird eine Reihe von Atomkraftwerken geben, die gar nicht mehr in Betrieb gehen, die nicht nur vorübergehend im Zuge des Moratoriums still gelegt werden, aber es wird eine harte Auseinandersetzung geben um die Laufzeiten der jüngeren und angeblich sicheren Atomkraftwerke, und das ist ein Spiel, dessen Ergebnis noch nicht wirklich absehbar ist."