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Kanzleramt 2.0 - Bürgernähe per YouTube

Am Freitag beantwortet Bundeskanzlerin Angela Merkel Fragen, die ihr ganz normale Menschen gestellt haben: Im Internet, bei YouTube. Die Bundesregierung hatte vor drei Wochen dazu aufgerufen, Fragen zu stellen - die Top-Fragen kriegen eine Antwort.

Von Jonas Reese | 17.11.2011

    Früher war Manfred Kaltz Fußball-Profi. Er wurde von aller Welt Manni genannt und war berühmt für seine Bananenflanken. Inzwischen ist Kaltz im Fußballer-Ruhestand und interessiert sich für Politik. Dank Internet kann er seine Ideen nun direkt an Kanzlerin Merkel richten. Von der will er wissen, warum er soviel für Spielzeug und Windeln ausgeben muss:

    "Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, mein Name ist Manfred Kaltz.
    Warum setzt sich die Bundesregierung nicht dafür ein, dass Kinderprodukte wie Windeln, Malstifte, Schulessen nur mit sieben Prozent besteuert werden. Das würde alle Familien steuerlich entlasten, in anderen Ländern geht das doch auch. Vielen Dank und mit besten Grüßen."

    Manfred Kaltz hat es mit seiner Videobotschaft auf Platz drei geschafft. Platz drei von fast 1800 Fragen. Alle auf dem neuen YouTube-Kanal der Bundesregierung. Dort dürfen alle Bürger die Kanzlerin fragen, was sie immer schon mal wissen wollten. Aber weil die Kanzlerin keine Zeit für fast zweitausend Fragen hat, durfte anschließend jeder seine Lieblingsfrage küren. Ein Google-Programm übernahm die Auswertung und fertig war die Rangliste. Die zehn beliebtesten Fragen wurden der Kanzlerin zur Beantwortung vorgelegt.
    "Bürgerinterviews" nennt Regierungssprecher Steffen Seibert das.

    "YouTube, facebook, twitter: Das hat alles unsern Alltag verändert, und verändert, wie wir leben und miteinander reden. Und verändert notwendigerweise auch die Art und Weise, wie die Bundesregierung mit ihnen den Bürgern kommuniziert. Wir haben auf YouTube einen neuen Kanal geöffnet. Um sie zu informieren und um auch in den direkten Dialog zu treten."

    Direkter Dialog. Direkt. Das heißt in diesem Fall, dass sich Angela Merkel und ihr Stab eine ganze Woche Zeit nehmen, um die Antworten zu formulieren. Und Dialog? Per starrem Video verkündet die Kanzlerin diese Antworten im Internet. Nachfragen und Zwischenrufe unmöglich!
    Dennoch: Steffen Seibert ist jetzt schon begeistert. Das erste Bürgerinterview ein echter Erfolg. Fast 10.000 Menschen haben sich bei der Online-Abstimmung beteiligt. Bei mehr als 30 Millionen deutschen Youtube-Usern - eine Quote von 0,03 Prozent.

    "Und ich muss wirklich sagen, das Interesse hat unsere Erwartungen weit übertroffen. Und ich danke wirklich jedem dafür, dass er sich da beteiligt hat, das ist ein wirklich schönes Echo."

    Regieren 2.0: Neue Medien nutzen, junge Wähler mitnehmen. Das ist heutzutage politische Pflicht. US-Präsident Barack Obama gilt hier als Vorreiter und Angela Merkel reitet hinterher. Sie versucht es zumindest. Regieren "eineinhalb" sozusagen: Sie zeigt sich im Internet, aber mehr auch nicht. Sie behält die Regie, meidet das direkte Gespräch mit dem Online-Volk. In vorproduzierten Videos wird sie die Fragen der User beantworten – Merkel höchstpersönlich, Merkel höchst unpersönlich. Jeder Live-Chat, jede Skype-Konferenz hätte mehr Interaktion.

    "Fast jeder von uns geht einmal die Woche einkaufen. Sei es in einem Geschäft oder inzwischen auch im Internet. Wir freuen uns alle, wenn es eine große Vielfalt von Produkten gibt, manchmal leiden wir auch unter der Qual der Wahl, aber hocherfreut sind wir meistens, wenn wir ein günstiges Angebot finden."

    So könnten sich die Antworten des ersten Bürgerinterviews anhören. Frau Merkel steht in einem dunkelgrauen Kostüm vor einer goldenen Skulptur. Sie ist akkurat frisiert und frisch gepudert. Die Hände formen den bekannten Kugelfisch. Es ist die jüngste Folge ihres Video-Podcasts namens "Die Kanzlerin direkt". Es ist der fünf Jahre alte Vorläufer zum neuen Bürgerinterview. Hier wendet sich Merkel in kurzen Internet-Ansprachen ungefragt zu aktuellen Themen einmal pro Woche an ihr Volk. Eine Werbebotschaft aus dem Kanzleramt. Gerade mal 1000 User haben sich den aktuellen Film auf YouTube angeguckt. Ein Nutzer kommentiert:

    "Sie redet wie meine Religionslehrerin aus der zweiten Klasse, wenn wir Traumreisen gemacht haben. Könnte man durchaus mehr Pep in die Stimme bringen."

    Aber auch über die Internetgemeinde sagt das erste Bürgerinterview einiges aus. Nicht Fragen zum Euro, zur Finanzkrise oder zur Bildung liegen ganz vorne im Ranking. Sondern diese:

    "Wie stehen Sie zur Forderung, den bestehenden Schwarzmarkt für Cannabis durch einen regulierten Markt mit Jugend- und Verbraucherschutz zu ersetzen, und mehr Suchtprävention über Cannabissteuern zu finanzieren?"

    Die Hanfgemeinde hat sich organisiert. Doch viel Neues wird eine Antwort darauf wohl nicht bringen. Schon vor zwei Jahren antwortete Merkel darauf im Südwestrundfunk:

    "Ich halte da nicht soviel davon. Das sage ich ganz ehrlich, weil damit auch die Eintrittsschwelle für härtere Drogen damit gegeben wäre."

    Langeweile vorprogrammiert? Interessanter ist da schon Frage Nummer sieben:

    "Warum gibt es eine Fragestunde an alle Politiker von den Bürgern, nicht ein Mal im Monat im Bundestag Frau Merkel? Denn hier gehen Ihnen doch die Fragen ins eine Ohr rein und ins andere wieder raus, oder soll sich doch etwas ändern nach dieser Befragung?"

    Auch darauf hat Merkel schon geantwortet – in einer ihrer wöchentlichen Videobotschaften. Thema: das Internet und dessen revolutionäre Bedeutung für die Menschheit. Die Kanzlerin im lavendelfarbenen Kostüm. Hinter ihr ein Laptop, ein Smartphone und ein Tablet-PC futuristisch auf einem Redepult drapiert.

    "Das Internet ist eine positive Revolution, es eröffnet uns völlig neue Möglichkeiten. Es ist eine neue Kulturtechnik. Aber so wie der Mensch gelernt hat, mit vielen Neuheiten umzugehen, so wird er auch den Gebrauch des Internets lernen."

    Ein bisschen Revolution versucht jetzt auch das Kanzleramt.