In aller Regel fühlt sich Santiago Sierra von der Öffentlichkeit als Provokateur überinterpretiert. Das mag zum einen auch daran liegen, dass seine Aktionen zuletzt eine gewisse Hysterie geradezu herausforderten, dabei immer plakativer, immer bemühter wurden – wenn er vor einigen Jahren etwa Autoabgase in die ehemalige Synagoge von Stommeln leitete, die die Besucher hernach nur noch mit Gasmasken und in Begleitung eines Feuerwehrmanns betreten konnten und sich dadurch an den Holocaust erinnert fühlen sollten; oder wenn er die Räume der kestnergesellschaft in Hannover mit Schlamm verfüllte, um auf das Ausheben des Maschsees durch Zwangsarbeiter während der Nazizeit zu verweisen. Die Retrospektive in Hamburg wirkt dagegen fast wie eine Kur, sozusagen eine Entschlackung von Sierras Werk gegenüber dessen teilweise selbst verschuldeter Spektakelhaftigkeit. Sie lenkt den Blick vor allem noch einmal auf die weniger bekannten Anfänge Sierras, die nicht zuletzt Anfang der neunziger Jahre an der Hamburger Kunsthochschule bei Franz Erhard Walther und Bernhard Blume lagen.
In Hamburg, bekennt Sierra heute in einem seiner wie üblich nur schriftlich abgegebenen Statements, habe seine künstlerische Laufbahn ihren Anfang genommen. Man kann wohl davon ausgehen, dass seine frühe Verehrung für die Minimal Art, insbesondere die Werke von Don Judd oder Sol LeWitt von Franz Erhard Walther durchaus bestätigt und zugleich hinterfragt wurde. Er zog durch den Hamburger Hafen und fotografierte Schuttberge, in denen er eine ganze Kunstgeschichte von Goya bis Caspar David Friedrich wiederfand. In der katholischen Kunsttradition, in der Sierra großgeworden war, konnte Gottes Werk nicht nur in der makellos kalten Schönheit der Minimal Art bestehen, es musste auch den Menschen einbeziehen, genauer: das Leiden der Ärmsten. So werden schließlich Betonkuben von Billiglohnarbeitern gegossen oder tageweise hin- und herbewegt; verbringen Tagelöhner gegen geringe Bezahlung Stunden unter kubischen Pappkartons. Sierras Interpretation des Post-Minimal leitet sich so aus einer sozial-spirituellen Ästhetik ab - und seine stereotyp wiederholte Gleichsetzung von Faschismus und Kapitalismus, die ihm viele Kritiker als Verharmlosung auslegen, ist aus dieser Perspektive eigentlich nur folgerichtig.
In Hamburg, bekennt Sierra heute in einem seiner wie üblich nur schriftlich abgegebenen Statements, habe seine künstlerische Laufbahn ihren Anfang genommen. Man kann wohl davon ausgehen, dass seine frühe Verehrung für die Minimal Art, insbesondere die Werke von Don Judd oder Sol LeWitt von Franz Erhard Walther durchaus bestätigt und zugleich hinterfragt wurde. Er zog durch den Hamburger Hafen und fotografierte Schuttberge, in denen er eine ganze Kunstgeschichte von Goya bis Caspar David Friedrich wiederfand. In der katholischen Kunsttradition, in der Sierra großgeworden war, konnte Gottes Werk nicht nur in der makellos kalten Schönheit der Minimal Art bestehen, es musste auch den Menschen einbeziehen, genauer: das Leiden der Ärmsten. So werden schließlich Betonkuben von Billiglohnarbeitern gegossen oder tageweise hin- und herbewegt; verbringen Tagelöhner gegen geringe Bezahlung Stunden unter kubischen Pappkartons. Sierras Interpretation des Post-Minimal leitet sich so aus einer sozial-spirituellen Ästhetik ab - und seine stereotyp wiederholte Gleichsetzung von Faschismus und Kapitalismus, die ihm viele Kritiker als Verharmlosung auslegen, ist aus dieser Perspektive eigentlich nur folgerichtig.
Sierras Arbeit "Inländer Raus" in den Hamburger Deichtorhallen (Bild: Christian Charisius/dpa)
Das gilt schon für die Aktionen der neunziger Jahre, als er Autobahnen sperren ließ und damit den linearen Verkehrsfluss blockierte, oder kubanischen Tagelöhner gegen Bezahlung Linien auf den Rücken tätowieren ließ. Auch die Erdlöcher, die er afrikanische Bootsflüchtlinge auf der spanische Seite der Straße von Gibraltar ausheben ließ, erinnerten an eine Mischung aus Grabstätte und Installation von Carl Andre. Als Sierra den Spanischen Pavillon auf der Biennale von Venedig 2003 nur für Inhaber eines spanischen Passes zugänglich machte, behandelte er ihn zugleich wie ein großes leeres Raumvolumen in der Tradition eines Robert Morris oder Sol LeWitt. Der kalte Glanz des Minimal wird für Sierra nicht zum Gegenpol sozial engagierter Kunst, sondern zum symbolischen Begriff jeder Form von struktureller Unterwerfung und Gewalt. Sierras Botschaft lautet, dass jede Zivilisation oder jeder vermeintliche Fortschritt vor allem Opfer produziert. Und Kunstepochen haben seit der Renaissance eben stets als Symbolisierungen für Fortschritt gedient.
Es ist ein großes Verdienst dieser Retrospektive, dass sie sich vom vermeintlich skandalösen Potenzial von Sierras Arbeiten löst und dadurch die Motive, vor allem aber auch die Stärken und die Schwächen seines Werks deutlich sichtbar werden lässt. Was für ein seltsamer Zufall auch, dass diese Ausstellung nun zur selben Zeit eröffnet, da Ingvild Goetz, Tochter des Hamburger Großunternehmers Werner Otto und prominente Sammlerkollegin von Harald Falckenberg, ihre viele Millionen Euro teure Sammlung mit Gegenwartskunst jüngst an die Stadt München verschenkt, weil sie sich künftig eben nicht mehr der Kunst, sondern sozialen Projekten widmen will – während Falckenberg mit Sierras inzwischen hochdotierter Kunst den Protest gegen den Kunstkapitalismus gleichsam nur bebildert. Ingvild Goetz' Schritt scheint in diesem Moment der radikalere, wahrhaftigere zu sein. Doch über Sierras Bilder wird man womöglich länger berichten.