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Kapitalistischer Blick auf "nutzlose Esser"

Die neuen Bücher von Peter Bieri und Ilija Trojanow handeln auf unterschiedliche Weise von der Würde des Menschen. Trojanows Essay ist ein agitatorischer Schnellschuss, Bieris Text kommt leiser, sorgfältiger argumentierend daher. Anregend zu lesen sind beide.

Von Günter Kaindlstorfer | 16.09.2013
    Ilja Trojanow: "Der überflüssige Mensch. Unruhe bewahren"
    Residenz Verlag, 96 Seiten, 16,90 Euro. ISBN: 978-3-701-71613-5


    Nun hat Ilija Trojanow ein neues, ebenfalls brisantes Buch vorgelegt, einen Essay über Menschenrechte und Menschenwürde in Zeiten des globalisierten Kapitalismus. Titel: "Der überflüssige Mensch". Und auch ein anderer prominenter Autor befasst sich in einem neuen Buch mit dem Problem der menschlichen Würde: der Schweizer Philosoph Peter Bieri, der unter dem Pseudonym Pascal Mercier auch als Romanautor hervorgetreten ist, zum Beispiel mit dem Erfolgsroman "Nachtzug nach Lissabon". "Eine Art zu leben", heißt Peter Bieris jüngstes Werk.

    Man könnte depressiv werden bei der Lektüre von Ilija Trojanows neuem Buch. Der 48-jährige Schriftsteller, im Nebenberuf Kolumnist der "taz", beschäftigt sich mit nichts Geringerem als der Zukunft der Menschheit – und kommt zu einem ernüchternden Befund: Ein Gutteil der sieben Milliarden Menschen, die derzeit den Planeten Erde bevölkern, sind dem Kalkül marktradikaler Eliten zufolge überflüssig. Nutzlose Esser.

    "Sind Sie überflüssig?", fragt Trojanow zu Beginn des Bands:

    Sind Sie überflüssig? Natürlich nicht. Ihre Kinder? Nein, keineswegs. Ihre Verwandten, Ihre Freunde? Geradezu eine unverschämte Frage, ich weiß. Ehrlich gesagt, empfinde ich mich selbst auch nicht als überflüssig. Wer tut das schon? Höchstens an ganz schlechten Tagen. Und doch gelten viele Menschen auf Erden als überflüssig, aus Sicht von Ökonomen, internationalen Organisationen, global agierenden Eliten. Wer nichts produziert und – schlimmer noch – nichts konsumiert, existiert gemäß den herrschenden volkswirtschaftlichen Bilanzen nicht.

    "Es geht um ein Grundproblem, nämlich dass der Spätkapitalismus oder der globalisierte, entfesselte Turbokapitalismus keinerlei Perspektiven bietet für einen Großteil der Menschheit."

    Ilija Trojanow lässt keinen Zweifel daran, dass er die politischen und ökonomischen Entwicklungen der letzten 30 Jahre mit Argwohn beobachtet hat. Global gesehen mag der entfesselte Finanzkapitalismus ein paar zehntausend Investoren reich und ein paar hundert superreich gemacht haben. Auf der anderen Seite aber hat dieses System Trojanows Einschätzung nach Millionen und Abermillionen in Not und Verelendung gedrängt.

    Wo alles und jedes dem Regime der Märkte unterworfen wird, wird jede Menge Müll produziert, auch und gerade menschlicher Müll, wie Trojanow in Anlehnung an den polnisch-britischen Philosophen Zygmunt Bauman drastisch formuliert:

    Manche Menschen sind in diesem System Müll. Irgendwann weiß man nicht, wohin damit.

    Wenn man nun die globale Situation in den Blick nimmt: Wer sind die Überflüssigen? Welche Bevölkerungsgruppen haben in einer rein renditeorientierten Verwertungslogik keinen Platz mehr?

    "Ganz einfach: Die kleinen Bauern, die Subsistenzbauern, also eigentlich jene, die am ökologischsten leben und die die längste Zeit unserer Menschheitsgeschichte den Großteil des menschlichen Daseins und Wirkens ausgemacht haben. Diese Menschen haben eigentlich keine Perspektive, da es im Kapitalismus nur sinnvoll ist, industrielle Landwirtschaft zu betreiben. Ich komme gerade aus Indien, und da wird heftig darüber diskutiert, dass es zwar ein Wachstum gibt für die Mittelklasse, die tatsächlich teilweise reüssiert, aber in der bäuerlichen Bevölkerung herrscht nacktes Elend, was sich auch darin ausdrückt, dass sie massenhaft Selbstmord begehen."

    Es muss nicht unbedingt Indien sein: Auch im reichen Westeuropa produziert ein dem "Terror der Effizienz" unterworfenes Wirtschaftssystem jede Menge menschlichen Ausschuss, wie Trojanow feststellt. So blendend Trojanow auch zu schreiben versteht: Im Wesentlichen fasst der Autor in seinem Epochen-Aufriss das zusammen, was in sozialdemokratischen und grünen Milieus ohnehin allgemeine Meinung ist. Vieles hat man so oder ähnlich schon anderswo gelesen, nur halt nicht so gut formuliert.


    Peter Bieri: "Eine Art zu leben - Über die Vielfalt menschlicher Würde"
    Carl Hanser Verlag, 384 Seiten, 24,90 Euro. ISBN: 978-3-446-24349-1


    Ganz anders sieht es mit dem neuen Buch des Schweizer Philosophen Peter Bieri aus: Auch Bieri beschäftigt sich mit der menschlichen Würde und ihrer Bedrohung, aber aus einer anderen, grundsätzlicheren Perspektive.

    Die Würde des Menschen – das ist etwas Wichtiges und etwas, was nicht angetastet werden darf.

    Schreibt der in Berlin lebende Philosoph.

    Doch was ist das eigentlich, Würde? Was ist es genau?

    Bieri diskutiert diverse Definitionen – und kommt zu dem Ergebnis:

    Würde ist das Recht, nicht gedemütigt zu werden.

    Das Faszinierende an Peter Bieris 380-seitiger Abhandlung ist, dass man während der Lektüre das Gefühl hat, einem hochreflexiven Denker beim Philosophieren zuschauen zu können. Bieri pflegt einen klaren, schnörkellosen Stil, man muss nicht Plato, Hegel, Kant gelesen haben, um Bieri zu verstehen. Ja, man könnte sein Buch auch verstehen und lesen, ohne überhaupt je etwas von Hegel oder Plato gehört zu haben.

    Was für eine Wohltat im philosophischen Gewerbe, in dem oft genug enigmatisch formulierende Volltöner in der Nachfolge Derridas und anderer Sinnverdunkler den Ton angeben. Peter Bieri diskutiert das Problem der menschlichen Würde – und das ist typisch für seine Methode – anhand des sogenannten Zwergenwerfens:

    Auf einer Reise kam ich an einem Jahrmarkt vorbei und sah dort etwas, was ich nicht für möglich gehalten hätte: einen Wettbewerb im Werfen von Zwergen. Ein kräftiger Mann packte einen der klein gewachsenen Menschen und schleuderte ihn so weit wie möglich auf eine weiche, federnde Matte. Der Geworfene trug eine gepolsterte Schutzkleidung mit Griffen und einem Helm. Die gaffende Menge klatschte und johlte bei jedem Wurf. Der weiteste Wurf war fast vier Meter.

    Da und dort sollen auch schon Weltmeisterschaften in der obskuren Disziplin des "Zwergenwerfens" veranstaltet worden sein. Just an dieser, dem Jahrmarktsmilieu enstammenden Praxis erörtert Bieri nun also das Problem der menschlichen Würde.

    Der geworfene Zwerg wird als bloßer Körper behandelt, als Ding. (…) Man lässt außer acht, daß er auch ein Subjekt ist. Dadurch wird er auf einen bloßen Gegenstand, auf ein Ding, reduziert, und in dieser Verdinglichung liegt der Verlust der Würde.

    Die "Philosophie des Zwergenwerfens" nimmt natürlich nur einen kleinen Teil innerhalb der Bierischen Abhandlung ein. Auf hohem philosophischem Niveau diskutiert der Autor auch andere Fragen: Wie steht es um die Würde eines Bittstellers gegenüber einem Menschen, der Macht über ihn hat? Wie um die Würde eines Bettlers? Haben die hinter Schaufenstern sitzenden Prostituierten im Amsterdamer Rotlichtviertel noch "Würde"?

    Wann verliert Professor Unrat, der Protagonist in Heinrich Manns Roman, der kessen Rosa gegenüber seine Würde? Und wann der erfolglose Vertreter Willy Loman im "Tod eines Handlungsreisenden"? Wie schließlich kann die Würde eines Menschen bei Krankheit und im Akt des Sterbens bewahrt werden? Und wie steht es um die Würde der Toten?

    Sie sind denkbar unterschiedlich, die neuen Bücher von Peter Bieri und Ilija Trojanow. Trojanows Essay ist ein agitatorischer Schnellschuss, der essentielle Menschheitsfragen anreißt, ohne sie – wie auch? - erschöpfend beantworten zu können. Bieris Text kommt leiser, sorgfältiger argumentierend daher. Anregend zu lesen freilich sind beide Bücher.