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Kardinal Meisner: Die Deutschen sind ein "geistvergessenes Volk"

Der Kölner Kardinal Meisner hat den Deutschen vorgeworfen, unter ihren geistigen und geistlichen Möglichkeiten zu leben. Angesichts von Abtreibungen und einer großen Zahl von Auswanderungen müsse die Politik endlich aufwachen. Wörtlich sprach Meisner von einem "geistvergessenen Volk", das seine Kinder tötet. Der Kardinal forderte zugleich einen Kurswechsel in der Familienpolitik. Es sei schlimm, dass die Familie weitgehend unter dem Gesichtspunkt der Ökonomie gesehen werde.

Moderation: Jürgen Liminski |
    Liminski: Eminenz, heute ist Pfingsten - offiziell das Fest der Herabkunft des Heiligen Geistes. Ein von der Kirche heilig gesprochener Priester des vorigen Jahrhunderts hat den Heiligen Geist einmal als den "großen Unbekannten" bezeichnet. Wie würden Sie diesen Unbekannten benennen oder einem Volk erklären wollen, das zu einem guten Drittel atheistisch und sicher zu einem weiteren Drittel religionskundlich ahnungslos ist?

    Meisner: Es war schon immer schwierig, den Heiligen Geist den Menschen nahezubringen, denn der Geist hat kein Gesicht - zunächst. Der Geist Gottes bekommt ein Gesicht, indem wir vom Heiligen Geist erfüllt sind, also in den Heiligen. Was der Heilige Geist ist, das können Sie ablesen an der Mutter Theresa, von Johannes Paul II, an Charles de Foucauld - an den großen Gestalten des Christentums.

    Ich habe ja als Bischof so oft das Sakrament der Firmung zu spenden, und da stehe ich immer wieder vor der Frage, wenn ich von der Wichtigkeit des Heiligen Geistes spreche, dass mir dann die jungen Leute sagen: Also, Herr Kardinal, dann legen Sie uns mal den Heiligen Geist auf den Tisch, damit wir wissen, mit wem wir es ab heute zu tun bekommen. Und da bin ich in größter Schwierigkeit - was größer ist als wir selbst, das kann man nicht auf den Tisch legen, das lässt sich auch nicht begreifen. Und die Schrift sagt ausdrücklich: Gott ist größer als unser Herz. Aber man kann ihn an seinen Wirkungen erkennen.

    Deshalb kann ich nur ganz schlicht sagen: Was die Luft für unsere Lungen ist, das ist der Heilige Geist für den Menschen, für den Christen. Ohne Luft wäre unsere Erde kein Planet des Lebens, und ohne Heiligen Geist gäbe es den Menschen nicht, der über seine Biologie hinauswächst durch seine Sehnsucht in das, was wir Philosophie nennen oder was wir Religion nennen. Und darum ist der Geist Gottes schon einer der wichtigsten Faktoren für das menschliche, namentlich für das christliche Leben.

    Sehen Sie mal, das einhellige Zeugnis der Schrift heißt: Gott ist die Liebe. Und die Liebe hat immer ein Urwort, und dieses Urwort der Liebe heißt "Du", wie ich - Du. Und Gott sagt seit Ewigkeit her "Du", und das ist nicht wie bei uns, wenn wir "Du" sagen - Worte sind Rauch und Schall -, das gilt nicht für Gott, sondern da steht ihm sein "Du" gegenüber, und das ist der Sohn. Und weil dieser Sohn ganz und gar dem Vater aus dem Gesicht geschnitten ist, kann er nur sich dem Vater zurückgeben, indem er ebenfalls "Du" sagt. Und der Vater erwidert das wieder, und das "Du" des Vaters und des Sohnes prallen zusammen und werden zur dritten Person, nämlich zum Heiligen Geist. Und darum ist der Heilige Geist derjenige, der Vater und Sohn zu dem einen einzigen dreifaltigen Gott zusammenbindet. Der Heilige Geist ist der, der Gott und Welt verbindet und der Mensch und Mensch verbindet. Darum ist der Geist so überaus wichtig. Und weil er kein Gesicht hat, wie etwa Christus, die zweite Person in der Gottheit, die Mensch war, die ist anschaulich, hat er uns den Heiligen Geist geschenkt, und den kann man an seinen Wirkungen erkennen.

    Liminski: Dieses Stichwort von der Wirkung will ich mal aufgreifen. Bräuchte es Ihrer Meinung nach nicht unbedingt Heiligen, aber wenigstens mehr Geist in der Politik - an ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen -, und wenn ja, bei welchen Themen bräuchte es mehr Geist?

    Meisner: Der Heilige Geist ist das für die Welt, was Luft für unsere Erde ist. Das heißt, der Heilige Geist ist der Garant, dass das Leben der Menschen sich entfaltet und dass es in dieser Welt bestimmend sein kann. Es gab vor Jahren eine Erklärung zwischen der katholischen und der evangelischen Kirche, mit der Überschrift "Gott ist ein Freund des Lebens". Da ging es um die Heiligung des menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum Tod. Und wissen Sie, das merken wir: Ein geistvergessenes Volk, das tötet seine Kinder. Und darum ist ja die Situation heute bei uns so, dass wir nicht nur zu wenig Kinder haben, dass so viele Deutsche auswandern. Es hat noch nie so viele Auswanderungen gegeben wie zurzeit. Und die Einwanderungen sind noch nie so tief gesunken wie gerade zurzeit. Das heißt, ein geistvergessenes Volk ist ein Volk, das das Leben unter sich selbst vernichtet. Und das ist ja, wie gesagt, die Bilanz, vor der wir stehen. Das müsste natürlich die Politiker nun endlich zum Aufwachen bringen. So kann es nicht mehr weitergehen.

    Liminski: Beim Thema "Abtreibung" gibt es etwas Bewegung in der Partei mit dem "C" - Stichwort "Spätabtreibung". Beim Thema "Stammzellforschung" hat es eine große öffentliche Debatte gegeben mit einem Ergebnis, das Sie wahrscheinlich nicht erfreut hat. Immerhin war eine Mehrheit der Unionsabgeordneten auf der Seite des Embryonenschutzes. Das ist Ihnen vermutlich zu wenig, aber was kann denn eine "C"-Partei machen, die in einer großen Koalition gebunden ist?

    Meisner: Nun, ich bin der Meinung, wenn zum Beispiel die Parteivorsitzende der "C"-Partei, und die Ministerin in der großen Koalition, die Regierungsverantwortung für dieses Gebiet trägt und ebenfalls sich der "C"-Partei zurechnet, wenn die eindeutig Stellung genommen hätten, wäre das Ergebnis schon wahrscheinlich ganz anders ausgefallen. Und das ist ja das große Elend - das muss man hier schon so sagen. Das erwarte ich von Mitgliedern der "C"-Partei, dass sie privat und öffentlich sich mühen, nach dem Evangelium zu leben, sei es gelegen oder ungelegen.

    Liminski: Unter der großen Koalition, Herr Kardinal, scheint die Familie nur eine Rolle in Funktion der Wirtschaft zu spielen, jedenfalls nicht eine, die die wachsende Gerechtigkeitslücke zwischen Kinderlosen und Familien mit Kindern helfen könnte zu überwinden. Die Familie bleibt das Sparschwein der Nation. Könnte ein Familienwahlrecht, um das sich mehrere Politiker und Persönlichkeiten bemühen, dem abhelfen?

    Meisner: Ich bin der Meinung, das ist einen Versuch wert. Herr Liminski, das hängt wieder zusammen mit der Grundfrage des Heiligen Geistes. Das Pfingstfest ist ja ein besonderes Fest der Familie. Es gibt in der Ostkirche eine sehr schöne Ikone, die das deutlich macht. In dieser Ikone sieht man am oberen Rand Gottvater, unterhalb von Gottvater ist die Geist-Taube zu sehen. Und unter der Geist-Taube steht der Sohn, Christus als Knabe. Und an dieser vertikalen Linie steht daneben "sanctissima trinitas increata" - die heiligste ungeschaffene Dreifaltigkeit. Und rechts von dem Jesusknaben, an der unteren Basis des Bildes, stehen rechts Maria und links Josef, die den Knaben an der Hand haben. Und da steht drunter: "sanctissima trinitas creata" - die geschaffene Dreifaltigkeit.

    Die Familie ist nicht irgendwie ein gesellschaftlich gewachsenes Gebilde, sondern sie hat eine theologische Grundlage. Sie ist das getreueste Abbild des dreifaltigen Gottes und von ihrem Ursprung her gebührt ihr aller Schutz und alle Förderung, die nur denkbar ist, damit auch das gesellschaftliche Leben, das ökonomische Leben und das kulturelle Leben gedeihen kann. Wer sich an der Familie vergreift, der vergreift sich eigentlich an der Kultur des Menschen.

    Liminski: Vergreift sich die Politik an der Familie?

    Meisner: Ich bin der Meinung, das ist schlimm, wie die Familie gesehen wird - weitgehend unter dem Gesichtspunkt der Ökonomie. Dem ökonomischen Tun hat sich alles andere in der Familie anzupassen. Das müsste genau umgekehrt sein.

    Liminski: Der Heilige Geist ist, wie Sie vorhin ausführten, die Person gewordene Beziehung zwischen Vater und Sohn, sozusagen ein konstitutives Element zwischen zwei Generationen. Liebe zwischen den Generationen könnte Deutschland sicher auch gebrauchen, gerade nicht so abstrakt, sondern ganz konkret, wenn man die anhaltende Debatte mit Schlagworten von Generationenkrieg oder Generationenkonflikt verfolgt. Gibt es diesen Generationenkonflikt? Sehen Sie ihn, oder ist es nur eine Erfindung der Medien?

    Meisner: Ich muss zunächst einmal als Theologe eine kleine Korrektur anbringen. Wir können die Generationen nicht gleichsam mit der Trinität vergleichen. Das ist keine Generation, die sind gleich ewig, die sind gleichwertig, es gibt den einen Gott, der Liebe ist in mehreren Personen. Liebe kann es nicht für sich alleine geben. Darum gibt es den Menschen nie ohne den Mitmenschen und den Christen nie ohne den Mitchristen. Natürlich in unserer Welt, die an Raum und Zeit gebunden ist, gibt es die Generationen. Und ich kann nur sagen, ich nehme das zur Kenntnis in den Medien - nicht in allen -, dass es einen Generationskrieg geben soll. In der Praxis habe ich das eigentlich noch nicht erfahren. Und man sollte alles tun, indem man das Leben fördert, dass sich vielleicht spätere herausbildende Gegensätze mit vielen alten Menschen und wenig jungen Menschen, dass dieser Gegensatz abgemildert und eines Tages ganz aufgehoben wird.

    Liminski: Wissenschaftler, Herr Kardinal, auch liberale und eher kirchenferne, machen eine Rückkehr des Religiösen aus. Man stellt einen erhöhten Bedarf an sinn- und heilsstiftenden Gewissheiten fest, der Marktwert von Werten sei gestiegen. Nun muss man aber auch konstatieren, dass nur noch vier Prozent der Bundesbürger häufig, neun Prozent hin und wieder und gerade mal 25 Prozent selten im Buch der Bücher lesen, nur noch etwas mehr als die Hälfte der unter 30-jährigen weiß, was das letzte Abendmahl ist. Weniger als die Hälfte kann mit dem Turmbau zu Babel etwas anfangen. Solche Zahlen kontrastieren mit den religiösen Mega-Events der letzten Jahre, auch hier in Köln. Der Geist weht ja, wo und wie er will, heißt es. Wo weht Ihrer Meinung nach der Geist in der jungen Generation?

    Meisner: Man sagt, unsere Gesellschaft "dampft" vor Religion. Das ist aber noch nicht Christentum, aber hier signalisiert sich eine Unruhe unter den Menschen, die durch die Ökonomie nicht allein befriedigt werden kann. Der Mensch als Ebenbild Gottes muss über sich selbst hinaus transzendieren, und darum hat eigentlich das Religiöse oder Gott im Menschen einen natürlichen Verbündeten - auf allen Breiten- und Längengraden dieser Welt. Er gibt immer im Menschen einen Ansatzpunkt für die Verkündigung der Botschaft Jesu.

    Und was ich feststelle unter jungen Menschen ist, dass ihnen Christus aufgegangen ist, der ihrem Leben Perspektive gibt, der ihr Leben befreit von allen inneren Zwängen. Und gerade gläubige junge Menschen kennen die Droge und den Alkoholmißbrauch eigentlich nur vom Hörensagen. Die brauchen das nicht zum Überstieg ihrer selbst, sondern die sind von Christus befreit worden. Und was ich besonders schätze ist, dass sie diese Freiheit an ihre Artgenossen, also an andere Jugendliche weitergeben wollen.

    Ich könnte eine ganze Reihe Einzelaktionen nennen, das würde hier zu weit führen. Aber - ich muss so sagen: Der Geist Gottes, den man ja nicht sieht, wie ich anfangs sagte, der ist mehr am Wirken, als wir das ahnen. Wenn ich durch die Stadt gehe, immer als Priester erkennbar, werde ich an jeder roten Ampel auf den Glauben hin angesprochen. Also, das Evangelium liegt auf der Straße.

    Ich habe vor einigen Monaten abends einen Rundgang gemacht, um mir die Beine zu vertreten. Da kam ich an eine Kreuzung, da standen vier oder fünf Jugendliche. Und die sangen, als sie mich kommen sahen: "Lasset uns beten" - um mich wahrscheinlich auf den Arm zu nehmen. Ich habe mich sofort zu ihnen gesellt und gesagt: Rückt etwas rüber, habe die Hände gefaltet und sofort angefangen, frei zu beten. Ich habe gesagt: "Herr, Du bist immer zu sprechen, bei Dir braucht man keine Gesprächstermine beantragen. Jetzt hast Du uns hier zusammengeführt und die Jugendlichen bitten mich, mit ihnen zu beten. Und jetzt schau auf uns ..." - und hab so frei gebetet. Ich hab dann so ein bisschen geguckt auf die Jugendlichen, einer nach dem anderen faltete die Hände. Und als ich sie zum Schluss gesegnet habe, haben drei auch noch das Kreuzzeichen gemacht. Ich hab dann gesagt: "Kommt in Zukunft bei mir klingeln, dann beten wir zusammen. Das brauchen wir hier an so einer Kreuzung nicht zu tun."

    Ich will damit nur sagen: Wir müssen eigentlich als Christen - und das machen uns die Jugendlichen heute vor - wieder in die Offensive gehen. Wir müssen wieder auf die Straßen gehen. Und denken Sie mal: Von fünf Menschen, die uns begegnen, sind gleichsam drei auf dem Rückzug, die aus einer christlichen Vergangenheit kommen und die nun am Sinn ihres Lebens herumbuchstabieren. Aber es ist niemand da, der sie fragt und dann ein Stück in ihr Leben mit einsteigt und versucht, ihnen den Sinn ihres Lebens zu erklären. Das ist das Bild einer Kirche im Vormarsch. Und hier - das haben junge Menschen verstanden - "Jugend 2000" geht ein paar Mal im Jahr in Köln auf die Straße und macht Straßenmission. Und es gibt andere Jugendliche, die das Gleiche tun. Und hier muss ich einmal sagen: Hier können wir von jungen Menschen eine ganze Menge lernen.

    Liminski: Junge Menschen brauchen aber sicher auch Vorbilder, wertegebende Vorbilder. Lebt dieses Land unter seinen geistigen Verhältnissen, wenn diese Vorbilder fehlen?

    Meisner: Das würde ich voll und ganz bestätigen. Wir sind materiell sicher auf einem sehr hohen Niveau. Über das geistige Niveau und das geistliche Niveau - da möchte ich das Urteil nicht so positiv abgeben. Und ich habe das vorhin schon mal gesagt. Was jungen Leuten heute in der Politik fehlt, das sind die Vorbilder. Pläne und Staatsverträge - das ist alles wichtig, aber das ist zweitrangig. Sie möchten Frauen und Männer in der Politik sehen, zu denen man sagen kann: So möchte ich auch sein und mein Leben gestalten, also wo Ehe, Familie und Politik wirklich sich sehen lassen kann.

    Liminski: Schopenhauer hat einmal etwas despektierlich von den Journalisten als "Tagelöhner des Geistes" gesprochen. Aber sie erfüllen doch eine wichtige Funktion im Kommunikationsraum oder im Geisteshaushalt einer Nation, jedenfalls bemühen sich einige darum. Sie haben nun einschlägige Erfahrungen mit Medien gemacht, nicht immer die besten ...

    Meisner: ... das kann man wohl sagen ...

    Liminski: Sind die Medien in Deutschland zu oberflächlich oder sensationsgierig geworden, oder kann man das gar nicht so allgemein beurteilen, denn gerade bei der Vermittlung von Vorbildern spielen ja auch die Medien eine größere Rolle?

    Meisner: Ich bin jetzt gerade erstaunt gewesen, als ich die Reaktion in unseren Medien zur Kenntnis nehmen musste über den Papstbesuch in Amerika. Und zwar habe ich jetzt nur mal herausgesucht die Reaktion über seine Rede vor der UNO. Über dieses Ereignis wurde relativ einheitlich positiv berichtet. Aber, ich nenne die Zeitung, die "Süddeutsche", die schrieb, es wäre eine langweilige Professorenrede gewesen. Ich frage mich: War denn der Journalist auf einer anderen Veranstaltung, wenn alle anderen - "Welt", "Zeit", FAZ usw. - eine positive Beurteilung abgeben? Und da können Sie natürlich immer wieder sehen, dass man sehr kritisch die Medien zur Kenntnis nehmen muss.

    Der Apostel Paulus spricht: Wir haben nicht nur gegen Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern er sagt: Es gibt auch die Beherrscher des Luftreiches. Ich habe das früher nie verstanden, was er damit meinte. Das sind aber die Beherrscher des Luftreiches, die die öffentliche Meinung machen, gegen die man sich gar nicht wehren kann, die man eigentlich einatmen muss. Und darum ist es eine ganz hohe Verantwortung: Wer als Journalist, als Meinungsmacher in unserer Gesellschaft arbeitet, wird wie auch ein Bischof für jedes Wort, was er gesprochen hat, einmal Rechenschaft ablegen. So wird es auch einem Journalisten gehen - ob er das glaubt oder nicht. Die Stunde, die kommt für jeden Einzelnen von uns. Und eine verantwortete journalistische Arbeit ist für unsere Gesellschaft hoch notwendig.

    Liminski: Beherrscher des Luftreiches - das greife ich mal auf. Sie haben früher einmal davon gesprochen, dass die Politik so zusagen im "Penthouse von Babylon" lebe - ein Bild, um die Abgehobenheit der politischen Klasse, auch der Medien, zu beschreiben - eine Klasse, die nur noch wenig Zugang zum Volk habe. Gilt das nicht auch für die Kirche oder die Kirchen?

    Meisner: Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht in einer Gemeinde bin zu irgendeinem Anlass, zu irgendeiner Versammlung. Deswegen frage ich mich immer: Was heißt denn hier "Abgehobenheit"? Ich bin also mitten unter den Leuten, und ich weiß auch ungefähr, was in den Gemeinden gedacht wird, so und so. Die Päpste, der jetzige Papst und namentlich sein Vorgänger, die haben die ganze Welt bereist. Ich kann das gar nicht so sagen, dass wir in einem elfenbeinernen Turm leben und keine schmutzigen Füße bekommen, keine schmutzigen Schuhe bekommen von der Welt her. Also ich bin schon der Meinung, dass wir eine Kirche auf den Straßen der Welt sind.

    Liminski: Aber erreichen Sie die Menschen kommunikativ?

    Meisner: Das ist eine andere Frage. Gucken Sie mal: Wenn wir verschwiegen werden ... Ich erreiche immer den Kreis, zu dem ich geschickt bin. Und wenn ich Beichtvater bin, dann erreiche ich den Pönitenten, der auf der anderen Seite des Beichtgitters sitzt. Ich muss nicht immer von der ganzen Welt gehört werden, das wäre ja schrecklich. Aber ich spreche zu denen, die mich hören wollen und zu denen ich gesandt bin. Und wer sich die Ohren zustopft - jedem Menschen ist die Freiheit gegeben -, das muss er dann selber verantworten.

    Liminski: Die Politik vielleicht im Penthouse, die Kirchen doch in zerfließenden Milieus, das Bürgertum ohne klare politische Konturen, die klassische Familie in vielerlei Bedrängnis, das Institut "Ehe" unter Beschuss, ein wachsendes Prekariat und eine sich polarisierende Gesellschaft - Herr Kardinal, was hält unsere Gesellschaft eigentlich noch zusammen?

    Meisner: Ihre Litanei des Jammerns, die Sie gerade angeführt haben, würde ich schon hinterfragen. Wenn ich solche Briefe bekomme, wo das drinsteht, was Sie mir gesagt haben, die beantworte ich gar nicht. Das Negative ist immer eine Herabminderung am Positiven. Die Sünde ist immer nur eine Disqualifizierung der Qualität des Positiven. Und da sollte man immer erst das Positive nennen, und dann kann man auch die Klagelitanei ernst nehmen, die Sie mir gerade vorgetragen haben.

    Ich will aber trotzdem antworten: Der Mensch bleibt Mensch. Und was auch zurzeit unsere Gesellschaft hier alles aufspielt - der Mensch bleibt das Ebenbild Gottes. Eine Zeitlang kann man ihn irgendwie verformen, aber auf die Dauer nicht. Was wir am Anfang gesagt haben: Unsere Gesellschaft "dampft" vor Religion, und die Frage nach dem woher und wohin und warum - die ist nicht totzukriegen in der Menschheit, da können wir die ganze Menschheitsgeschichte als Beweis auffahren. Und das wird auch in Zukunft so bleiben, und in der Gegenwart ist es lebendiger denn je.

    Liminski: Jammern macht gesellig, sagen die Rheinländer. Vielleicht ist auch das eine Form des Zusammenlebens?

    Meisner: Nun ja, schauen Sie, ich will Ihnen mal etwas sagen. Christus vergleicht einen Schatz, der im Acker der Welt verborgen ist. Schätze liegen nicht auf der Straße. Wenn ich das Positive nicht sehen will, sehe ich das nicht, während das Negative Schlagzeilen macht, und das drückt sich von ganz alleine in mein Bewusstsein. Und darum habe ich es mir zum Vorsatz gemacht, dass das Gute, das es in der Welt gibt und das man meistens übersieht, dass ich das weitersage. Die Welt ist besser, als wir sie machen. Und deswegen müssten wir so Wünschelrutengänger sein, die die verborgenen positiven Dinge aufspüren und sie freilegen, damit wir davon leben können.

    Liminski: Letzte Frage, Herr Kardinal. Nun gibt es sicher unter unseren Hörern eine erkleckliche Zahl von Menschen, die nicht glauben oder ihren Glauben nicht praktizieren - und dazu natürlich auch die Freiheit haben. Was sagen Sie diesen Menschen zu Pfingsten?

    Meisner: Ich wünsche ihnen für die Pfingsttage und was danach kommt ein erfülltes glückliches Leben auf dieser Erde. Das heißt, dass sie in ihr Herz hineinhorchen und den Sehnsüchten ihres Herzens gehorchen, so dass also das Denken ihres Kopfes mit dem Schlagen ihres Herzens eine Symbiose bildet, dass die Schizophrenie von uns wegfällt, so dass wir Menschen werden, die ganz mit sich selbst identisch sind. Und die können dann auch einen Frieden ausstrahlen, der sehr nahe dem pfingstlichen Frieden ist.