Montag, 29. April 2024

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Karin Holm/ Uwe Schulz: Kindheit in Armut weltweit.

Verlassen, missbraucht, ausgebeutet, entwurzelt, vertrieben – "Kinder in Armut weltweit" lautet der Titel einer Sammlung von Studien und Berichten. Herausgegeben von den Düsseldorfer Soziologen Karin Holm und Uwe Schulz. Das Buch versammelt Pädagogen , Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler aus den südlichen und nördlichen Ländern, um ein weltpolitisches und humanitäres Problem ersten Ranges zu betrachten: die wachsende soziale, physische und seelische Verelendung von Kindern in einer globalisierten Welt. Cornelia Beuel stellt das Buch vor:

Cornelia Beuel | 23.09.2002
    Die in diesem Band zusammengetragenen Fakten sind so bedrückend wie alarmierend:

    Circa 15o Millionen Kinder sind weltweit unterernährt, zwei Drittel von ihnen leben in Asien...

    ... schreiben die Herausgeber.

    - Etwa elf Millionen Kinder... sterben weltweit vor der Vollendung des fünften Lebensjahres an Mangelernährung oder vermeidbaren Krankheiten (...) - das entspricht einer Zahl von über 30 000 pro Tag.

    Weltweit arbeiten 250 Millionen Kinder im Alter zwischen 5 und 14 Jahren, knapp die Hälfte von ihnen in Vollzeit.

    Von insgesamt 21 Millionen Flüchtlingen, die Ländergrenzen überschritten haben und mindestens 30 Millionen Flüchtlingen, die im eigenen Land Opfer von Vertreibungen wurden, sind 23 Millionen Kinder unter 18 Jahren.

    Zwischen 1990 und 2000 starben 2 Millionen Kinder in bewaffneten Konflikten.

    Im gleichen Zeitraum wurden 6 Millionen Kinder in kriegerischen Auseinandersetzungen - vor allem durch Landminen - verletzt und verstümmelt.

    Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation werden weltweit mindestens l Million Kinder prostituiert. Kinderhilfswerke schätzen die Zahl auf 2 Millionen.

    Zahlen zu Kindern, die ... auf der Straße leben, sowie zu Kinderhandel (zu Zwecken der illegalen Adoption, Prostitution, Arbeitsausbeutung oder Organentnahme) sind bisher nicht seriös ausgewiesen.

    "Es gibt nur wenige weitere Abgründe, in die die Menschheit noch versinken kann" - so die Worte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan zu diesem vernichtenden Befund. Kurzum: der verbindende Subtext der meisten Aufsätze dieses Bandes lässt sich mit dem Stichwort "Globalisierungsarmut" bezeichnen. Kinderarmut, Straßenkinder, Kinderarbeit, Kinderhandel, Kindersoldaten und Kinder auf der Flucht, ausgeführt am Beispiel spezifischer Länder Studien; sowie die Auseinandersetzung mit nationalen und globalen Armutsdefinitionen in Entwicklungs- und Industrieländern und mit den direkten und indirekten Ursachen und Wirkungen des Kinderelends weltweit - das sind die vielschichtigen Facetten, aus denen sich dieses Buch als erster Schritt in ein bislang noch kaum fundiert und seriös bearbeitetes Forschungsgebiet zusammensetzt. Was entsteht, ist - in der Gesamtbetrachtung der eindrucksvoll und faktenreich dokumentierten Einzelberichte - ein erschreckendes Bild. Es ist vor allem der unübersehbare Zusammenhang von Armut, Herrschaft und struktureller Gewalt - ökonomisch, politisch und militärisch - die kindliches Elend in geradezu unerträglicher Weise zunehmen lassen. Ein Phänomen, das Folgen haben wird - auch für die Länder der sogenannten "freien Welt". So leiden besonders die Kinder in den Entwicklungsländern unter den sogenannten "Strukturanpassungsprogrammen" des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Ein Aspekt, dem beispielsweise alle afrikanischen

    en in diesem Band einen bedeutenden Stellenwert hinsichtlich der Verschlechterung der Lage von Kindern beimessen. Im Bereich Ernährung, Gesundheit und Bildung hat sich die Lage der Kinder auf dem afrikanischen Kontinent dramatisch zugespitzt. Eine Verbesserung der Verhältnisse aber sei nur über eine ökonomische Selbstbestimmung zu erreichen.

    Der eigentliche Skandal aber ist, dass angesichts eines globalen Bruttosozialprodukts von über 30 Billionen US-Dollar genügend Geld zur Armutsbekämpfung vorhanden wäre.

    Seriösen Schätzungen zufolge...

    ... schreiben die Herausgeber...

    ... verursachte z.B. die Grundversorgung der Entwicklungsländer mit sozialen Diensten in zehn Jahren zusätzliche Kosten von jährlich circa 40 Milliarden US-Dollar. Dieser Betrag macht weniger als 0,2 Prozent der globalen Einkommen und weniger als ein Prozent des Einkommens der Entwicklungsländer aus. Um einen Vergleich mit der deutschen Geschichte zu wählen: der genannte Betrag umfasst die Hälfte des Bruttosozialprodukt-Anteils den die Vereinigten Staaten zwischen 1948 und 1952 im Rahmen des Marshall-Plans jedes Jahr nach Europa überwiesen haben, um den Wiederaufbau zu finanzieren.

    Der eigentliche Skandal also ist nicht das fehlende Geld, sondern der fehlende politische Wille zur Armutsbekämpfung - oder wie Norbert Elias einmal schrieb: die "Menschheit als Überlebenseinheit" ist offenbar noch nicht begriffen.

    Trotz der Unvergleichbarkeit des Kinderelends in den Entwicklungsländern und den Notlagen von Kindern in den westlichen Industrienationen werden in diesem Buch beide Erscheinungsformen der Kinderarmut betrachtet und erkennbar wird, dass es sich um zwei Seiten derselben Medaille handelt und man beide im Blick haben muss. Denn die zunehmende Ausbeutung der Entwicklungsländer durch die Industrieländer ist genauso eine Folge des neoliberalen Globalisierungsprozesses wie die wachsende soziale Ungleichheit in den Industrieländern selbst. So leben hierzulande über eine Million Kinder von Sozialhilfe und "das Ausmaß der Kinderarmut reicht von 2,6 Prozent in Schweden bis zu 22,4 Prozent in den USA."

    Nach der Verabschiedung der Kinderrechtskonvention im Jahre 1989 und auf dem Kindergipfel der UN 1990 herrschte gedämpfte Euphorie, dass mit einem umfassenden Menschenrechtskatalog für Kinder ihre gesellschaftliche Situation geändert werden könnte.

    Doch gut ein Jahrzehnt später bilanzieren die Herausgeber des Buches ernüchtert: Es hat sich kaum etwas "zum Besseren getan":

    Erwähnenswert ist, dass die Kinderrechtskonvention von 189 der 191 Staaten der Welt ratifiziert worden ist. Sie ist damit die am häufigsten unterzeichnete UN-Konvention. Allerdings ist auch unschwer festzustellen, dass alle dort genannten Kinderrechte in den verschiedenen Gesellschaften in unterschiedlichem Umfang verletzt werden - auch in den Industrieländern.

    Die Kinderrechtskonvention ein "Papiertiger"? - wie so viele UN-Konventionen? - Wie ist es möglich, so stellt sich zwangsläufig die Frage, dass einerseits die Rechte der Armen, insbesondere der Kinder, immer universeller gefordert und auch zugestanden werden, während sich andererseits ihre Lebensbedingungen unaufhörlich verschlechtern? Zwar werden Menschenrechte immer wieder als Bedingung für die Funktionsfähigkeit der globalen Ökonomie gefordert, aber die ökonomische Gerechtigkeit gilt offenbar nicht länger als notwendige Bedingung und Voraussetzung für die Realisierung dieser Menschenrechte. "Kindheit in Armut weltweit" sollten sich die Akteure und Protagonisten des neoliberalen mainstreams sozusagen als kleine "Gute-Nacht-Lektüre" aufs Kopfkissen legen. In der vagen Hoffnung, dass dann vielleicht der eine oder andere unter ihnen keine so gute Nacht mehr haben wird.

    Cornelia Beuel stellte das von Karin Holm und Uwe Schulz herausgegebene Buch vor: Kindheit in Armut weltweit. Es ist erschienen bei Leske und Budrich. Opladen 2002. 346 Seiten. Der Preis: 19 € 80.