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Karl H. Hörning und Rainer Winter (Hg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung.

Vor allem der Nationalsozialismus, der industriell organisierte Massenmord, die breite Zustimmung der Deutschen zu antijüdischem Rassismus und autoritärem Staat hat den Sozial- und Geisteswissenschaften in der Nachkriegszeit einen großen Bedeutungszuwachs verliehen, so paradox sich das nach der Verfolgung eben dieser Wissenschaften anhören mag. Auf die Fragen nach dem Warum, den Bedingungen der Möglichkeit dieser Barbarei, mussten Antworten gefunden werden. Doch mit dem Zerfall der Protestbewegung, die ihre stärksten intellektuellen Bastionen an den Universitäten hatte, gerieten diese Wissenschaften mehr und mehr in eine Krise. Heute können Medienintellektuelle, wie Antony Giddens oder Ulrich Beck, den Eindruck erwecken, dass Sozialwissenschaft nicht viel mehr als Politikberatung ist. Hatten die vorhin angesprochenen Heidelberger Sozialwissenschaftler oder die Frankfurter Kritischen Theoretiker noch große geschichtliche Zusammenhänge ins Blickfeld ihrer Analysen gerückt, wobei erkenntnistheoretische Fragen einen besonderen Platz einnahmen, so erfreut sich heute der Blick auf Kleinteiliges großer Beliebtheit. Die sog. Alltagskultur ist beliebter Forschungsgegenstand geworden, wobei gelegentlich die Begriffe Alltag und Kultur eher notdürftig bestimmt werden. Zu den aus der englischsprachigen zu uns verstärkt herüberschwappenden Wissenschaftsmoden zählen die sog. Cultural Studies, deren Gegenstand vorwiegend popkulturelle Erscheinungen sind. Diese Studien nahmen ihren Ausgang schon in den 60-er Jahren in Großbritannien und wurden in den USA zu einem eigenständigen Forschungszweig entwickelt. Bei uns sind kürzlich zwei Bände erschienen, die sich mit der Herausforderung durch die Cultural Studies auseinandersetzen. Barbara Eisenmann hat beide Bücher für uns gelesen:

Barbara Eisenmann |
    Gegen vielerlei Kritik haben sich die Forschungen der Cultural Studies in der letzten Zeit vor allem in den USA zu wehren, wo sie als breitgefächerter und der Linken zugeordneter kulturwissenschaftlicher Studiengang fest im akademischen Gefüge verankert sind. Von der diskursiven Eigendynamik eines Denkens, das seine Untersuchungsgegenstände, also soziale Wirklichkeit, nur mehr als Texte betrachtet, ist dabei die Rede und folglich vom Verlust gesellschaftskritischer Wirksamkeit. Back to reality, dieser Appell ist inzwischen auch im eigenen Lager verschiedentlich zu hören. Hierzulande befinden sich die Cultural Studies vor allem in ihrer Ausprägung als Analyse popkultureller Phänomene erst seit kurzem in einem zaghaften Prozess akademischer Zurkenntnisnahme. Ein Kreis von Eingeweihten schart sich allerdings schon seit Jahren um die Kultfigur Diedrich Diederichsen, dessen Pop-Theoriestätte in Köln ihre Zelte aufgeschlagen hat und in dem Magazin Spex beharrlich und avant la lettre den linken Sound der Cultural Studies verbreitete. Spex wurde allerdings Anfang dieses Jahres verkauft, und es ist wenig wahrscheinlich, dass es sein inhaltliches Format beibehalten wird. Der Buchmarkt jedoch indiziert ein wachsendes Interesse an diesem schwer überschaubaren Spektrum interdisziplinärer Arbeitsansätze aus dem angloamerikanischen Raum. Eine ganze Reihe von Sammelbänden zum Thema sind erschienen. Das mag mit der Krise der Geisteswissenschaften zu tun haben, die sich schon seit längerem mit einem gesellschaftlichen Legitimationsproblem herumschlagen und auf der Suche nach Lösungen sind.

    Die beiden an der Technischen Hochschule Aachen tätigen Soziologen Hörning und Winter legen mit der Wahl des Titels des von ihnen herausgegebenen Buchs "Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung" und in ihrem Vorwort dann auch emphatisch nahe, dass die Auseinandersetzung mit diesem Forschungszweig, der ihnen als "immer offen für neue Fragestellungen, inter- und transdisziplinär, selbstreflexiv und kritisch" gilt, für hiesige Sozialwissenschaftler ein gewinnbringendes Unternehmen sein könnte, und so lassen sie also, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vorwiegend angloamerikanische Autoren zu Wort kommen und erörtern daneben, gleichsam am Rande, in zwei von ihnen jeweils geschriebenen Aufsätzen die titelgebende Fragestellung, nämlich, welcher Art der Input der Cultural Studies für die eigene Disziplin, die Soziologie, denn sein könnte.

    Trotz der thematischen Vierteilung des vorliegenden Sammelbandes vermag kaum der Eindruck einer geordneten Textlandschaft zu entstehen. Zu unterschiedlich sind dazu die einzelnen Texte, was deren Qualität betrifft, und auch die Zuordnung bestimmter Texte zu einem der vier Blöcke ist nicht immer nachvollziehbar. Alle kreisen sie freilich irgendwie um den Begriff der Kultur, doch miteinander stiften sie kaum Erhellendes, und auch hinsichtlich der Ausgangsfrage, nämlich der Produktivität der Cultural Studies für die bundesdeutsche Soziologie, bleibt letztlich nicht viel mehr als ein Appell der Öffnung an die Disziplin der Herausgeber, sich nicht nur mit institutionalisierten Wissenssystemen, sondern den alltäglichen Handlungspraktiken und dem ihnen zugrundeliegenden kulturellen Wissen zu beschäftigen.

    In mehreren Texten des Bandes wird dafür redundant an der Geschichte der Cultural Studies geschrieben und von ihrem Ursprung als einem eigenständigen, dem freilich alles andere als klar bestimmbaren Gegenstand "Kultur" zugewandten Wissenschaftszweig erzählt, der sich in den 50-er und 60-er Jahren in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus und literaturwissenschaftlichen Methoden in Großbritannien herausbildete und sich der Erforschung von Kultur nicht im orthodox marxistischen Sinn verstanden als Überbauphänomen, sondern als autonomer bedeutungsstiftender Praktiken widmete. Kulturen wurden dabei jenseits der dominanten Hochkultur in den Blick genommen und als gelebte Erfahrungen bestimmt. Zunächst wurde die Arbeiterkultur, später Jugend-, Medien- und Subkulturen und deren subversive Kräfte untersucht. 1964 wurde das Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham gegründet. In den 70-er Jahren begann dann der Theorietransfer in die USA, und mit Stuart Hall, einem jamaikanisch-britischen Intellektuellen, der zum Direktor des Centres wurde, setzte auch eine Blickverschiebung ein: von der Kategorie der Klasse hin zu der inzwischen zentralen Kategorie der Identität und ihrer ethnischen, rassischen, geschlechtlichen Bestimmungsmerkmale sowie eine Aktualisierung und Erweiterung materialistisch-ideologiekritischer durch strukturalistische und poststrukturalistische Verfahren. Plural sind nicht nur die Gegenstände, auch die Methoden ihrer Bearbeitung, und so steckt dieser längst internationalisierte Forschungszweig inzwischen ein weites, wildes und auch willkürliches Feld ab, in dem, wie es im Vorwort der Herausgeber, die vielfältigen Untersuchungen diffus zusammenbindend, heißt, "Kultur als ein polyphoner, stets umstrittener und komplexer Prozess der Konstruktion von soziokulturellen Bedeutungen und Identitäten sichtbar" wird. Die verschiedenen grundlegenden Problematiken der Cultural Studies kommen in dem Textpotpourri des vorliegenden Sammelbands geradezu exemplarisch zum Vorschein. Lawrence Grossbergs Text "Was sind die Cultural Studies?" reflektiert ungewollt die Fetischisierung des Foucaultschen Machtbegriffs. Macht ist darin etwas immer schon Dagewesenes, Allgegenwärtiges, ein abstrakter Zusammenhang, der theoretisch-fantasmatisch als privilegiertes Objekt der Untersuchung beschworen wird, dem jedoch praktisch nicht beizukommen ist. Marie Gillespies Aufsatz "Fernsehen im multiethnischen Kontext" zeigt die Schwäche eines ethnographischen Ansatzes, dem es an systematischen Auswertungsmethoden mangelt, so dass letztlich nur eine deskriptive Verdopplung des beobachteten Realitätsausschnitts entstehen kann. John Fiskes Text "Elvis: Body of Knowledge. Offizielle und populäre Formen des Wissens" spiegelt hingegen ein anderes, oft gewähltes Verfahren wider: Etwas Konkretes - hier ist es Elvis, der Medienstar - wird zum Ausgangspunkt abstrakten Theoretisierens gemacht. Der Zweck des textuellen Unternehmens bleibt dabei jedoch im Dunkeln. Am Ende stellt sich, trotz ohne Zweifel auch vorhandener guter Bandbeiträge, die Frage, wozu das Ganze, und der böse Verdacht drängt sich auf, man habe hier vielleicht doch noch ganz schnell auf einen im Geist des Zeitgeists fahrenden Zug aufspringen wollen, weil das unter Umständen Forschungsgelder oder Ähnliches verspricht.

    Der intellektuellen Dynamik der Cultural Studies weitaus angemessener ist der von Jan Engelmann herausgegebene Sammelband "Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies-Reader", in dem neben namhaften angloamerikanischen Vertretern auch hierzulande an den Cultural Studies orientierte junge Forscher und Autoren - Jahrgänge zwischen 1972 und 1960 - zu Wort kommen. Hier wird infragegestellt, und so zieht sich als roter Faden durch die Texte und insbesondere die Interviews mit Leuten wie Stuart Hall, Paul Gilroy, Simon Frith, John Fiske und Angela McRobbie die Auseinandersetzung mit der immer lauter werdenden Kritik, insbesondere dem Verlust an Politikfähigkeit, aber auch mit den Konsequenzen, die die akademische Institutionalisierung auf die programmatische Flexibilität und Offenheit der Cultural Studies haben und nicht zuletzt mit der Frage, was diesen Forschungszusammenhang denn eigentlich zu einem derart erfolgreichen Theorieschlager gemacht hat und wie Vereinnahmungen entgegengearbeitet werden kann. Hier kommt die sprichwörtliche Selbstreflexion der Cultural Studies zum Zug, und das ist dem kritischen Blick der deutschen Autoren und Interviewer zu verdanken, die diese konstruktiv am eigenen Schopf packen und auf den Prüfstand der Selbstkritik stellen.

    Widerspenstige Kulturen, Cultural Studies als Herausforderung. Herausgegeben wird das Buch von Karl H. Hörning und Rainer Winter und ist als suhrkamp taschenbuch wissenschaft erschienen. Es hat 574 Seiten und kostet 32,80 DM. "Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies Reader", herausgegeben von Jan Engelmann, ist bei Campus erschienen, hat 318 Seiten und kostet 39,80 DM