Am Anfang war die Stimme aus dem Radio, die Such-Meldungen verlas. Soldaten waren aus dem Krieg nicht zurückgekommen, Familien auseinandergerissen worden.
"…die Stimme, die heute nur noch in mir existiert, weil der Mann aus dem Radio längst tot und im Äther verrauscht ist, was er sagte, diese Stimme, die keinem Anwesenden gehörte und nach zahllosen Abwesenden fragte: Sie war es, die mir das Bewusstsein meiner selbst geweckt hat."
Auf das Hören folgt in Karl-Markus Gauß‘ Erinnerungsbuch das erste bewusste Sehen. Die früheste erinnerte Szene zeigt den Vater, der nachts am Fenster steht und wütend ein Buch nach dem anderen in den Garten wirft. Unten stehen zwei Männer, "Krämerseelen", wie der Vater meint. Sie verlangen die Herausgabe der Bücher, die er für seine Vertriebenen-Zeitung rezensierte. Sie sollen ihren Platz im örtlichen Archiv haben.
Dieser Einstieg mit seinen jeweils nur kurz angerissenen Szenen ist perfekt inszeniert. Schon im ersten Hören und Sehen des Kindes gewinnt das Gaußsche Familienleben Kontur. Etwas zunächst unbegreiflich Chaotisches haftet ihm an. Zahlreiche Besucher gehen ein und aus. Gesichter, Sprachen, Stimmen tauchen auf und verschwinden wieder. Aber von Geschichte zu Geschichte erweitert sich der dunkle Tunnel des Unbewussten, die kindlichen Eindrücke werden prägnanter. Der Junge beginnt von seinem wohligen Sitzplatz unter dem Tisch zu unterscheiden, ob es sich bei den Besuchern beispielsweise um den Herrn Stützenbach mit seinem "komödiantischen Singsang" oder um den Rechtsanwalt Sitzwohl mit seinem unerschöpflichen Reservoir an Witzen handelt.
"Ich genieße es, umfangen von all den Stimmen, langsam müde zu werden und in eine Art Vorschlaf zu sinken, in dem ich den Stimmen lausche, die wogend den Raum erfüllen; ich lehne irgendwo abseits oder sitze auf dem Schoß der Mutter, den Kopf auf ihre Schulter gelegt, und versuche den Augenblick, in dem sie aufstehen und mich in das Kinderzimmer tragen wird, so lang wie möglich hinauszuzögern."
Unermüdliche Spurensuche des Autors
Die Menschen, die der Vater als Leiter der "Beratungsstelle für Volksdeutsche" empfängt, sind mal Südtiroler oder Schlesier, Sudetendeutsche, Siebenbürger Sachsen oder Banater Schwaben. Zudem reden die Eltern in friedlicher Stimmung ungarisch miteinander, jedoch serbokroatisch, wenn es Streit gibt. Der Krieg hat Europa durcheinander geschüttelt. Grenzen haben sich verschoben, ganze Völkerschaften haben ihren jahrhundertealten, angestammten Platz verloren. Hier, in diesen Geschichten, kann man die Wurzeln erkennen für die unermüdliche Spurensuche des Autors Karl-Markus Gauß nach den aussterbenden und versprengten Ethnien Europas, ihren Sprachen und kulturellen Eigenarten.
Gauß war der erste "gebürtige Österreicher" seiner Sippe, die aus der serbischen Vojvodina stammte und von dort vertrieben wurde. Eltern und Geschwister lebten jahrelang als Staatenlose in einer Barackensiedlung für Heimatvertriebene am Stadtrand von Salzburg. Und erst kurz vor seiner Geburt konnten sie umziehen in ein Mietshaus im stadtnahen Salzburger Aiglhof-Viertel. Diese Welt war zunächst von Armut geprägt, aber bot auch offensichtlich eine ungeheure Fülle von Anregungen und Erlebnissen. Neben den Büchern im elterlichen Haus sowie den Gästen und Nachbarn aus den unterschiedlichsten Regionen Europas waren es das bunt zusammengewürfelte Milieu des Hinterhofs und die improvisierten Lebensweisen, die dem Spiel und der Phantasie der Jüngsten Nahrung gaben. Es war die Schule der Straße, die den Kindern Kreativität und Erfindungsreichtum abverlangte und gleichzeitig unerschöpfliche Freiheitsräume eröffnete.
Blick auf Kriegsversehrte aus Kindersicht
39 Miniaturen beinhaltet dieses Buch. Manche sind nicht länger als eineinhalb Seiten. Die Perspektive des Kindes und das, was es zu erfassen vermag, wird dabei selten überschritten. Und doch geben die kleinen Geschichten viel mehr preis, als es zunächst den Anschein hat. Das liegt zum einen daran, dass Karl-Markus Gauß mit seinem lakonischen Stil sich hier perfekt an die Beobachtungsgabe von Kindern anlehnt, denen ja nicht selten eigen ist, blitzschnell und treffsicher im Tragischen das Komische zu entdecken. Da ist zum Beispiel das schöne Kapitel über die Kriegsversehrten, das folgendermaßen beginnt:
"OBWOHL ER BLIND WAR, fuhr er Fahrrad, er saß hinter seiner drahtigen Frau auf dem Tandem und grimassierte dabei freundlich von der Höhe seines Sitzes nach allen Seiten. Herr Kogler, der Kopfschüssler, der vier Häuser entfernt von dem unseren wohnte, war ein großer, massiger Mann mit farblosen Haaren und einer schwarzen, an der Seite beim Bügel geschlossenen Brille, die er niemals abnahm. Er war nicht der einzige Blinde, den ich kannte, ein zweiter stand bei der Ampel, die im Zentrum der Stadt auf die Staatsbrücke führte. Diesem Blinden aber fehlten, anders als Herrn Kogler aus der Siedlung, zudem beide Beine, sodass er auf seinen Kniestümpfen stand, um die dicke Lederkappen geschlagen waren. Herr Kogler arbeitete als Masseur, der Mann an der Brücke als Losverkäufer."
Das Komische in seinen diversen Spielarten grundiert viele der Gaußschen Geschichten. So erfährt der Leser, wie das Kind vom Vater die Kunst der Verleugnung lernte. Wenn das Telefon läutete und der Junge abnahm, musste er im Bruchteil einer Sekunde die zum Teil heftige Gestik des Vaters richtig deuten, die ihm signalisierte, ob er nun da war oder nicht. Der Vater war es auch, der ihm die zweifelhafte Erkenntnis mit auf den Weg gab, dass die Zufriedenheit ein Kennzeichen oberflächlicher Menschen sei und deshalb die großen Werke der Dichter und Denker nur ein Resultat der Verzweiflung sein könnten.
Lesevergnügen garantiert
Zur Komik gesellt sich in diesem Buch wie in anderen Büchern des österreichischen Schriftstellers seine stilistische Raffinesse, zum Beispiel mit fein austarierten Widersprüchen, kleinen sprachlichen Verschiebungen und Kontrasten, sowie überraschenden Bildern Aufmerksamkeit zu erwecken, Denk- und Interpretationsräume zu eröffnen. Und das oft auf kleinstem Raum. "Der Vater wurde nie laut, aber ein großer Zorn schlief in ihm", "Ich war ein braves Kind, das unverdrossen verlangte, schlimm sein zu dürfen" oder " Ich hatte einen Großvater, der gestorben und einen Opa, der tot war" - solche wunderbaren Sätze machen das Lesen zum Vergnügen.
Karl-Markus Gauß hat im Buch "Das Erste, was ich sah" eine wildbewegte und durchaus glückliche Kindheit beschrieben. Das Milieu seines Salzburger Aiglhof-Viertels ist eng umgrenzt. Und doch ist es gesättigt mit den typischen Erfahrungen einer Generation, die in diesen seltsamen kriegszerrütteten wie zukunftsoffenen 50er Jahren Kinder waren.
Karl-Markus Gauß: Das Erste, was ich sah. Zsolnay Verlag. 107 Seiten, 23.90 Euro.