Dienstag, 16. April 2024

Archiv


karlmarx.com

"Ich will gleich gestehen." So beginnt der erste Satz des Prologs von "karlmarx.com". Mit diesem Einstieg stellt sich die amerikanische Autorin Susan Coll in die Tradition der Bekenntnisliteratur seit Augustinus "Confessiones" und Rousseaus "Confessions". Doch schnell wird klar, dass den Leser keine psychologisch-philosophische Lebensbeichte wie bei Augustinus und keine Selbstverteidigung wie bei Rousseau erwarten. Denn dass es der Protagonistin Ella mit ihrem Bekenntnis nicht so hundertprozentig ernst ist, deutet ebenfalls bereits der erste Satz an. Dieser geht nämlich folgendermaßen weiter: "Ich will gleich gestehen, dass mein Interesse für die Politikwissenschaft hauptsächlich aus einer Schwärmerei für meinen ehemaligen Professor herrührte und – wenn überhaupt – nur wenig mit Politik zu tun hatte."

Dina Netz | 01.11.2002
    Die Bekenntnisliteratur ist nicht das einzige literarische Genre, mit dem Susan Coll in ihrem Debüt-Roman "karlmarx.com" ironisch spielt. Bereits der erste Satz verweist auch auf den Campus-Roman. Der Prolog führt die Studentin der Politikwissenschaft mit ihrem verheirateten Professor zusammen. Doch bevor wirklich etwas passieren kann, stirbt der Professor, und die Studentin wird zur Doktorandin. Ende des Campus-Romans schon im Prolog.

    Die engagierte Literatur wird ebenfalls in "karlmarx.com" konterkariert, denn die Protagonistin Ella hat eigentlich ein politisches Anliegen, nämlich das Aufbereiten der Marxschen Ideen für das 21. Jahrhundert. Mit ihren Idealen endet sie allerdings im "Institut für Ideenforschung", das Karl-Marx-Fanartikel vertreibt.

    Und schließlich erlebt Ella eine intensive Liebesgeschichte mit einem Ornithologen, aber – wir ahnen es schon – auch diese verläuft etwas anders, als man es gemeinhin von einer Liebesgeschichte erwartet. Nicht umsonst ist "Dekonstruktion" einer der zentralen Begriffe, mit denen sich Ella im Roman auseinander setzt.

    Entsprechend schwierig ist es, den Plot kohärent zusammenzufassen. Ein Versuch könnte ungefähr so aussehen: Ella Kennedy ringt am Beginn des Romans seit drei Jahren um das Thema für ihre Doktorarbeit. Dies wird dadurch erschwert, dass ihr Vater ihre Bemühungen nicht mehr ernst nimmt und seine monatlichen Zahlungen einstellt. Dadurch wird Ella zu einer der "gebildetsten Kellnerinnen Amerikas", wie sie sagt. In dieser Sackgassen-Situation kommt das Angebot ihrer Freundin Lisa gerade recht, ihre Stelle in Washington beim "Institut für Ideenforschung" zu übernehmen. Das "Institut für Ideenforschung" nun stellt sich heraus als Ein-Frau-Betrieb in der Person von Ella selbst. Es gibt sonst nur den meist abwesenden Chef mit Alkohol-Problem und eine peruanische Putzfrau.

    Parallel zu ihrem kuriosen beruflichen Neuanfang lässt sich Ella auf eine Affäre mit dem verheirateten Ornithologen Nigel ein. Diese Geschichte ist nicht ganz so komisch wie die berufliche, eher etwas tragikomisch. Denn Nigel kommt besser mit Vögeln zurecht als mit Menschen. Und zu Ellas Ärger sind die einzigen Menschen, mit denen Nigel über sich selbst spricht, ausgerechnet Ellas Eltern, mit denen sie seit langem über Kreuz liegt. Ella hingegen bekommt noch nicht einmal aus der "Reinkarnation eines Neandertalers" heraus, warum er sich nicht von seiner Frau scheiden lässt.

    Zwischendurch kommt noch Lisa vor, Ellas Freundin, die plötzlich nicht mehr als Ellas Ikone taugt: Job und Familie reibungslos zu vereinbaren, hat doch nicht so gut geklappt. Lisa und alle anderen Randfiguren des Romans, wie zum Beispiel Ellas Eltern, bleiben allerdings sehr holzschnittartig. Besonders die Eltern wirken wie eine Drehbuchanweisung für typische Mittelstands-Eltern.

    Auch die immer wieder eingestreuten Passagen aus Ellas Dissertation, die zu einer Biographie von Eleanor Marx, der Tochter von Karl Marx, mutiert, wären entbehrlich. Susan Coll dient dieser Exkurs dazu, aufzuzeigen, dass Ellas Leib-und-Magen-Thema, "warum fallen kluge Frauen immer wieder auf miese Typen herein?" sich durch die Jahrhunderte fortsetzt. Aber das hatten wir auch schon so begriffen.

    Der Roman funktioniert dort gut, wo er sich ins Kammerspiel zurückzieht: Ella und Nigel oder Ella im Büro. Am amüsantesten ist die Beschreibung des "Instituts für Ideenforschung". Wahrscheinlich weil die Auseinandersetzung mit dem Marxismus der Schreibanlass war: Susan Coll hat selbst Politikwissenschaft studiert und sich lange mit Marx beschäftigt. Ihre äußerst ernsthafte Auseinandersetzung mit den marxistischen Ideen erscheint ihr heute eher amüsant – und diese ironische Distanz macht die Beschreibung des "Instituts für Ideenforschung" so komisch: Da ist zunächst ein kafkaeskes Büro, in dem es selten Strom und Wasser gibt, in das es dafür aber um so heftiger hineinregnet. Ella soll eine Webseite erstellen, wovon sie aber gar nichts versteht. Außerdem gibt es kein Modem, und der Computer ist ohnehin völlig veraltet. Ihr Chef, der sie eigentlich einarbeiten müsste, ist entweder nicht da oder empfängt ständig Inneinrichter. Ella soll selbständig arbeiten, darf aber nichts ohne seine Anweisung tun. Und der einzige Großkunde des Instituts ist die Gesellschaft für angewandte Geisteswissenschaften und Aufklärung, kurz GAGA. Sie will Marx ein neues Image verpassen – durch einen Katalog mit Karl-Marx-Versandartikeln: Kühlschrankmagneten, T-shirts, Kaffeebecher. Der Kunde stellt sich schließlich als die russische Mafia heraus.

    Manchmal verliert man vor lauter kuriosen Anekdoten, durch die Susan Coll ihre Protagonistin rauschen lässt, die eigentliche Handlung aus dem Auge. Aber das ist nicht schlimm, denn der Witz ist die Stärke des Romans. Susan Coll hechtet von einer Pointe zur nächsten, ohne dabei ein einziges Mal zu stolpern. Das ist erstaunlich, denn eigentlich sind die Wendungen oft vorhersehbar. Aber die Autorin führt die Leser mit so viel Witz zu ihren Pointen, dass man fast widerwillig doch wieder lachen muss. Gegen Ende des Romans rutscht Ella auch noch auf einem Haufen aufgetauter Shrimps aus. Aber selbst diese Variation des Bananenschalen-Motivs, des wohl angestaubtesten aller Slapstick-Motive, verwendet Susan Coll so beiläufig und selbstsicher, dass es einem keine Sekunde lang angestaubt vorkommt. Das alles ist ziemlich belanglos, aber sehr unterhaltsam. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.