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Karneval als Kulturanstrengung

Diese Geschichte wird oft erzählt: Es sitzt ein internationales Touristengrüppchen irgendwo auf der Welt, am Strand oder in der Skihütte, kommt sich im Lauf eines feuchtfröhlichen Abends näher und bevor die Zungen zu schwer werden, beschließt man: ein Lied. Nun hat jeder was zu bieten, die Griechen, die Iren, die Polen und selbstverständlich die Italiener. Dann kommt die Reihe an die Deutschen und es ist immer dasselbe: Mattscheibe. Peinlich diese Stille, das Herumsuchen nach ein, zwei Zeilen wenigstens irgendeines Refrains. Was könnte man denn auch singen? Der Mond ist aufgegangen? Rosamunde? Oh Du schöner Westerwald? An dieser Stelle beantwortet sich die Frage, wieso und seit wann uns Deutschen das Singen so verleidet ist, von selbst.

Von Beatrix Novy |
    Ewig konnte das nicht so weitergehen. Einen Ort gibt es, an dem Vokabeln wie "Liedgut" und "Brauchtumspflege" frisch und befreit sind von jedem verdächtigen Beigeschmack, und das ist der Karneval. Dort kann man es sich leisten, eine Einladung in Kölner Kneipen mit einem Titel zu versehen, der sich anhört wie eine Einladung zum vorweihnachtlichen Elterntreffen im katholischen Kindergarten: "Einsingen in den Karneval". Oder auch: Loß mer singe. Durch Verteilung von Textzetteln mit den neuesten Sessionshits wurde sichergestellt, dass die Heerscharen entschlossener Karnevalsteilnehmer zwischen 18 und 35 in diesen Tagen ihre Eltern und Großeltern, die über den treuen Husaren und das Müllemer Bötche nie recht hinausgekommen waren, an Textsicherheit weit übertreffen.

    Zwar liegt es in der Natur der Karnevals-Sache, dass die Anforderungen grundsätzlich begrenzt bleiben. Jippi jaja jib mie noch e Kölsch, Die Vögelein, die Vögelein vom Titicacasee, Denn wenn dat Trömmelche jeht: auch musikalisch geht es um den kleinsten gemeinsamen Nenner, der das Kollektiverlebnis Karneval möglich macht. Aber während bis vor etwa 20 Jahren diese geistige Schlichtheit von vielen jungen Leuten mit verstaubter Primitivität grottiger Schnulziers von verdächtiger musikalische Herkunft assoziiert wurde, wird sie heute fröhlich in die andere, die herrliche Nonsense-Tradition des Karnevals einsortiert. Das ist ein Verdienst vor allem der Karnevalsband Bläck Fööss, die in den 70er Jahren das Lied-Repertoire der fünften Jahreszeit mit den Rhythmen der Jazz- Rock-und Pop-Ära und mit ehrlich empfundenen sozialkritischen Texten aufmischte; bald darauf befreiten links-alternative Karnevalisten die rheinischen Saturnalien aus dem Muff der Sitzungssäle und beförderten sie in eigene Sitzungssäle. Inzwischen sind die Gegensätze längst verwischt, Traditionelle und Fortschrittler amalgamiert ganz im Sinn der Tendenz des Kölners, sich immerzu in den Armen zu liegen und, fern wirklicher Häme, den unbefangensten sentimentalen Lokalpatriotismus aufs Fröhlichste auszuleben.

    Dem neuesten Liedgut merkt man es an: Viel ist es nicht mehr, was die Hits der etabliertesten Jungbands von denen ihrer Großväter unterscheidet. Ein fesselndes Nonsense-Lied , ein Geniestreich der Originalität fehlt; keine Karawane zieht weiter, keine superjeile Zick dringt über die Grenzen der Region hinaus. Auch die Bläck Fööss, Begründer des alternativen Karnevals, haben sich dem bedingungslosen wachsweichen Heimatlob verschrieben: Rut und wiess, wie lieb ich dich! Et ess wie et ess und et kütt wie et kütt – will man es wirklich immer, immer wieder hören?

    Ja, das will man, auch wenn es immer schwieriger wird, in die Kneipen zu kommen, die dieses Jahr der Massenanstürme kaum noch Herr werden; der zum entfesselten Feiern Entschlossenen sind inzwischen so viele, dass man schier Angst bekommt, der Karneval, der sich als Produkt allzu gut vermarktet, könne an seinem Erfolg noch kaputtgehen. Wie groß die Faszination der kollektiven Trance ist, belegt die kleine Geschichte von dem jungen Mann aus Hamburg, der die Nacht durch selig alle kölschen Hymnen mitsang. Am nächsten Mittag rezitierte er den Hit "Die Karawane zieht weiter, dä Sultan hät Doosch" , dabei kam ihm ein Gedanke und er fragte: "Was heißt das eigentlich: Doosch?". Eine Nacht lang war ihm das, wie vieles andere auch, egal gewesen.

    (Doosch heißt übrigens Durst und ist ein unausrottbarer Topos kölschen Liedguts.)

    Köln ist Geil - dat kann uns keiner nemme,
    Köln ist Geil – un mir sin meddendrin!
    Köln ist Geil- ejal wat se verzälle,
    Köln ist Geil – mir blieve wie mer sin!