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Karrieresprungbrett Schneller Brüter

26 neue Atomkraftwerke will Russland bauen. Doch die Branche leidet an Nachwuchsmangel – selbst viele junge Russen haben das Tschernobyl-Trauma nicht überwunden. Dennoch: An der TU im russischen Jekaterinburg wird das Fach Atomtechnologie gelehrt – mit großen Hoffnungen.

Von Andrea Rehmsmeier |
    Säulen, Lüster, Deckengemälde - wer in dem Eingangsgewölbe der Uraler Technischen Universität steht, der ahnt: Hier wird Technikgeschichte geschrieben, und das seit fast 100 Jahren. Am renommierten Lehrstuhl für Atomenergie machen rund 250 Studierende jedes Jahr ihren Abschluss. Sie sind die große Hoffnung der russischen Kernkraftwerksbetreiber, denn der Personalbedarf ist groß. Professor Sergej Schaklejn allerdings ist zurückhaltend.

    "Bankier oder Leiter eines Versicherungsunternehmens – das sind heute die populärsten Berufe, und zwar aus materiellen Gründen. Auch Stellen in der Öl- und Gasindustrie sind begehrt. Die Beschäftigten der Kernenergie verdienen nicht besonders gut. Die Begeisterung der 60er und 70er-Jahre ist weg. Dabei ist das Studium zehnmal härter als jedes andere – das schreckt natürlich ab. Unsere Jugend wählt heute die Fächer, die für die geringste Anstrengung das beste Resultat bringen."

    In den Hörsälen und Seminarräumen ist die Stimmung deutlich optimistischer. Gerade sind die Vorlesungen zu Ende, jetzt stehen die Studierenden plaudernd in den Fluren. Dozent Oleg Taschlykov gesellt sich dazu. Er ist gerade aus München zurückgekehrt, von Kooperationsverhandlungen mit der Siemens AG. Jetzt reicht er eine Karikatur aus einer deutschen Zeitung herum. Sie trägt die Überschrift "Der deutsche Sonderweg" und zeigt ein Verkehrsschild mit dem Wort "Sackgasse". Darunter, missgelaunt dreinblickend: der Deutsche Michel. Rings um ihn herum strömen Volksmassen mit Flaggen von Frankreich, England und den USA in Richtung eines Meilers. Taschlykov lacht. Die deutsche Debatte um den Atomausstieg ist ihm völlig unverständlich.

    "Ich habe mit deutschen Ingenieuren gesprochen, die können ihre eigenen Kinder nicht dazu überreden, irgendwas im Bereich Kerntechnik zu studieren. Weil alle sofort an Tschernobyl denken. Natürlich war Tschernobyl eine Riesen-Tragödie. Aber sie hat sehr zur Verbesserung der Sicherheitsstandards beigetragen – in Russland und der ganzen Welt. Alles, was schief geht, wird sofort zum Riesenskandal – weil ein Atomkraftwerk ja ach so was Schreckliches ist. Das ist doch Psychologie! Das hat natürlich auch etwas Gutes. Dann lässt wenigstens die Aufmerksamkeit nicht nach."

    In Russland blickt man nach vorn, daran lässt Taschlykov keinen Zweifel: Lange genug haben die vom Tschernobyl-Schock ausgelösten Sicherheitsbedenken die Weiterentwicklung der Nukleartechnologie gelähmt. Jetzt aber braucht die Welt neue Energie, und da heißt es wieder: Effizienz durch Innovation. Die Studenten der Fakultät absolvieren ihre Praktika in dem nahe gelegenen Kernkraftwerk Beloyarsk, das ist ein Schneller Brüter – in Russland eine Zukunftstechnologie. Ein neuer Block ist im Bau, er soll der größte kommerzielle Brutreaktor der Welt werden. Auch Studentin Viktoria hat in Beloyarsk ihr Praktikum gemacht.

    "Mit meinen Schulfreundinnen von früher diskutiere ich oft über solche Fragen. Die sind beruflich in andere Richtungen gegangen, und über die Atomkraft haben sie Vorurteile, die einfach nicht stimmen. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Meine Mutter war Nuklearingenieurin, ich selbst habe mein Praktikum in Beloyarsk gemacht – und meine kleine Tochter ist so gesund wie ich selbst. Wir beachten die Strahlenschutzvorschriften und gehen regelmäßig zur Vorsorge. Unser Gesundheitszustand ist sogar besser als der von anderen."

    Viktoria ist in Zarechny geboren, wo fast alle Einwohner für das Kernkraftwerk Beloyarsk arbeiten. Noch rekrutiert der Studiengang seinen Nachwuchs vornehmlich aus diesen Familien. Jetzt aber muss er massenattraktiv werden. Für den Studenten Danil ist das nur eine Frage der Zeit. Für ihn steht fest: Das Zeitalter der Kernenergie bricht gerade erst an.

    "Die traditionellen Rohstoffe werden langsam knapp. Darum hat die Kernenergie jetzt alle Chancen, zum führenden Energieträger zu werden. Schon bald wird mit Atomstrom sehr viel mehr Geld umgesetzt werden als mit Öl oder Gas."