Archiv


Kartierte Denkzentrale

Medizin.- Vor 100 Jahren gelang dem Anatomen Korbinian Brodmann eine Pioniertat der Hirnforschung: Mit recht primitiven Mitteln erstellte er die erste vollständige Karte der menschlichen Großhirnrinde. Heute allerdings lässt sich der Aufbau des Gehirns noch viel genauer sezieren.

Von Martin Hubert |
    Neuroanatomen wollen verstehen, aus welchen Schichten und Regionen das Gehirn besteht und welche Funktion diese haben: steuern bestimmte Hirnareale körperliche Vorgänge wie den Herzschlag oder die Atmung? Verarbeiten sie Hör- oder Sehwahrnehmungen? Oder sind sie für Gefühle oder Gedanken zuständig? Klassische Hirnatlanten wie die 100 Jahre alte Karte von Korbinian Brodmann sind immer noch in Gebrauch, weil sie das Zellgewebe des Gehirns plausibel in Areale eingeteilt haben. Sie stellen also die oberflächlich sichtbaren Unterschiede im Typus, in der Größe und der Dichte der Hirnzellen dar. Heute jedoch erfassen die Neuroanatomen auch chemische Prozesse in der Tiefe des Gehirns.

    Professor Karl Zilles vom Institut für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich nutzt dazu etwa eine bestimmte Färbemethode, die Immunhistochemie:

    "Mit der Immunhistochemie können wir spezifisch einzelne Moleküle sichtbar machen. Und dabei findet man heraus, dass bestimmte Nervenzellen bestimmte Moleküle produzieren, andere Nervenzellen nicht. Wenn wir wissen, welche Moleküle sie produzieren, dann wissen wir auch etwas über ihre biochemische Funktion."

    Informationen werden im Gehirn nicht nur elektrisch, sondern auch auf chemischen Wegen ausgetauscht. Spezielle molekülare Substanzen fließen durch die Denkzentrale und docken an bestimmten Rezeptoren, an Empfängerstrukturen, an, etwa Neurotransmitter wie Adrenalin oder Serotonin. Karl Zilles möchte beide Ebenen miteinander verbinden: die Zytoarchitektur, also das Hirngewebe – und die chemischen Prozesse.

    "Wenn sie in einem zytoarchitektonisch definierten Hirnrindenareal 15, 18, 20 verschiedene Rezeptormoleküle nachweisen und sie setzen die in einem Areal miteinander in Beziehung, dann erreichen sie das, was man als einen Fingerabdruck bezeichnen kann, einen molekularen Fingerabdruck des Areals."

    Mithilfe mathematischer Verfahren lassen sich dann die molekularen Fingerabdrücke einzelner Areale aufeinander beziehen. Sichtbar wird so das Verteilungsmuster der Moleküle im ganzen Gehirn. Dabei entdeckte Karl Zilles einen bemerkenswerten Zusammenhang:

    "Wir haben gefunden, dass sich das Areal, in dem wir Berührung empfinden und das Areal mit dem wir hören, sich sehr ähnlich sind in ihrer molekularen Expression und sich drastisch unterscheiden von dem Areal, in dem wir sehen. Und ich habe mich gefragt: Warum ist das so? Und dann kommt man dahin, dass Hören ein mechanischer Prozess ist, denn unsere Haarzellen im Innenohr werden gereizt und Tasten ist auch ein mechanischer Prozess."

    Beim Hören werden die im Innenohr wie Klaviertöne aneinandergereihten Haarzellen durch Schallwellen mechanisch aktiviert. Beim Tasten sind es Sinneszellen in der Haut, die auf Druck reagieren. Sehen dagegen ist kein mechanischer, sondern ein fotochemischer Prozess: hier nehmen Sinneszellen Lichtwellen auf, für die sie speziell empfänglich sind und wandeln sie chemisch um.

    "Das heißt: scheinbar haben wir drei verschiedene funktionelle Areale: Für das Gehirn sind es aber nur zwei unterschiedliche Funktionen: nämlich eine mechanische für Tasten und Hören und eine fotochemische fürs Sehen."

    Dieses Jülicher Forschungsergebnis bestätigt eine Grundannahme der sogenannten embodied cognitive neuroscience: dass der Aufbau des Gehirns etwas damit zu tun hat, wie Körper und Umwelt miteinander in Wechselwirkung stehen. Der molekulare Fingerabdruck spiegelt hier offenbar übergeordnete Prinzipien wider, mit denen der Körper Außenweltreize registriert: mechanisch oder fotochemisch. Der Ort, wo etwas im Gehirn geschieht und die Art des Zellgewebes codieren dann noch feinere Unterschiede der Sinnesqualitäten: sieht man, hört man oder ertastet man etwas? Das Gehirn arbeitet also mehrdimensional, und die Neuroanatomen möchten es dementsprechend durchleuchten und seine verschiedenen Schichten kartieren. Neben Unterschieden des Gewebes und der Moleküle nehmen sie heute zum Beispiel auch Informationen über die Gene mit auf, die die Architektur des Gehirns steuern. David van Essen von der Washington University in St. Louis hat angesichts dieser zunehmenden Informationsflut einen Traum. Der Neuroanatom möchte das Gehirn nicht nur durchsichtig, sondern auch global zugänglich machen.


    "Wir sind mit einem wahrhaft überwältigenden Anstieg von Informationen konfrontiert, der nicht nur die Struktur und die Funktionen des normalen Gehirns betrifft. Es gibt auch eine Flut von Daten über das kranke, das sich entwickelnde und das alternde Gehirn. Um all das darstellen zu können, brauchen wir etwas Vergleichbares wie 'Google Earth' für das Gehirn. Es wird eine große Herausforderung sein, Techniken zu entwickeln, mit denen nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Laien per Mausklick durch den gesamten Gehirnplaneten navigieren können. Aber ich glaube, es ist möglich und wird in den nächsten fünf bis zehn Jahren realisiert werden."