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Kaspar Hauser oder Medienmärchen?

In England hat die Polizei einen jungen Mann in geschmackvoller Kleidung am Strand gefunden. Der Mann sprach kein Wort, sondern kritzelte auf einen Zettel ein Klavier, dass er - vor ein solches gesetzt - aufs Virtuoseste zu spielen begann. So geschehen vor einer Woche an der Küste Kents. Jetzt rätselt ganz Großbritannien, was es mit dem geheimnisvollen Piano-Mann auf sich hat.

Moderation: Rainer B. Schossig |
    Rainer B. Schossig: Gibt es neue Informationen über den Piano Man?

    Jürgen Krönig: Also man hat eine so genannte "Helpline", eine Telefonnummer landesweit eingerichtet. Jeder soll anrufen, der vielleicht irgendetwas beitragen kann zur Aufklärung dieses rätselhaften Falles, der natürlich an Kaspar Hauser erinnert. Da taucht jemand aus dem Nichts aus, vielleicht aus den Wellen des Meeres, und niemand weiß ihm irgendein Wort zu entlocken, einzig die Kommunikation per Klavier klappt. Es gibt ganz viele Hinweise, aber kein Hinweis hat bisher zu irgendeiner Konkretisierung dieses eigentümlichen Falls geführt.

    Schossig: Eine schaumgeborene Tragödie, ein Selbstmordversuch oder eine Inszenierung etwa gar nur?

    Krönig: Da rätselt man. Es gibt Wissenschaftler, die sagen, es ist durchaus möglich, dass es sich hier um ein musikalisches Genie handelt, das verstört ist, dass vielleicht unter suizidaler Depression leidet, ähnlich wie Robert Schumann einst, der sich ja am Schluss seiner musikalischen Karriere in den Rhein stürzte und das Leben nehmen wollte. Die sagen, es ist möglich, dass jemand verwirrt ist, mental in einem Zustand der Unordnung, gleichzeitig aber doch diese künstlerischen Fähigkeiten partiell bewahren kann. Die andere Möglichkeit, die sich aufdrängt zur Erklärung dieses Falles, ist natürlich, dass es sich um eine ungeheuerlich geschickte Inszenierung handelt, zumal alle Etikette, alle Label entfernt worden sind aus den Kleidungsstücken. Der Mann war ja makellos gekleidet im schwarzen Anzug, weißen Hemd und Schlips, ein bisschen, wie ein Konzertpianist auszusehen hat, wenn er auftritt. Da gibt es zwei Möglichkeiten: Ein Mediziner sagt heute, Autisten würden das machen. Andere denken natürlich, vielleicht wollte er Spuren verwischen und den Fall noch rätselhafter machen.

    Schossig: Die Geschichte erinnert ein bisschen an den Film "Shine", der 1996 einen Oskar gewann.

    Krönig: Richtig, diese Parallele drängt sich auch auf. Das war ein australischer Pianist, der zehn Jahre lang an tiefen Depressionen litt, sie dann aber überwunden hat und in die Konzersäle zurückkehrte. Im Augenblick kontaktiert man übrigens Orchester rund um die Welt, vor allen Dingen in Europa und Osteuropa, weil der Verdacht da ist, dass es sich vielleicht um einen Osteuropäer oder Skandinavier handelt. Sie wissen ja, dass, als er in das Hospital geführt wurde, kommunikationslos, ängstlich, scheu, sprachlos, unfähig zu jeglicher Kommunikation, gab man ihm Papier und Bleistift. Er zeichnete die schwedische Fahne und ein Klavier auf. Dann führte man ihn ans Klavier, und seither spielt er täglich. Die Ärzte und Krankenschwester sind musikalisch nicht so gebildet, Tschaikowsky haben sie erkannt. Ein anderer sagt, auch Chopin, aber die meisten wissen nicht richtig, was er spielt. Er schreibt auch selbst Musik und spielt aus dem Kopf. Also er muss ein gelernter Pianist sein.

    Schossig: Es ist ja kein Zufall, dass diese Geschichte sich auch heute sogar auf die Titelseite der Bild-Zeitung verirrt hat, weil sie so alt ist, diese Geschichte von Genie und Wahnsinn.

    Krönig: Ich glaube, das ist natürlich faszinierend. Am Ende wären wir alle enttäuscht, wenn sich herausstellen sollte, dass wir dem geschickten Versuch eines Mannes, vielleicht illegal ins Land zu kommen und gleichzeitig eine musikalische Karriere zu beginnen, aufgesessen wären, obwohl auch das natürlich ein Lob verdiente für den Einfallsreichtum. Aber man hofft natürlich, dass es sich vielleicht doch erstens herausstellt, dass es sich nicht um eine solche Inszenierung handelt, die ja auch die Medien bedient und das globale Interesse an solchen Fällen, und dass es zum Zweiten gelingt, dem Mann zu helfen und seine Herkunft zu klären. Aber bislang ist das nicht gelungen.

    Schossig: Wie geht die Presse damit um? Einigermaßen vorsichtig oder eher marktschreierisch?

    Krönig: Natürlich ist das ein wunderbares Thema, sonst würden wir auch nicht darüber reden. Die "Sun" hat ihm jetzt, wo er in ein anderes Krankenhaus, in eine sichere Abteilung für mental Kranke verlegt wurde, wo es kein Klavier gibt, ein elektrisches Klavier geschenkt. Die "Sun", wissen Sie, ist ja die größte Massenzeitung des Landes. Also man tut alles, um diesen Fall einerseits darzustellen, andrerseits zu helfen und gleichzeitig ein bisschen Freude daran zu haben.