Freitag, 29. März 2024

Archiv


Katastrophe ohne Ende?

1948 begann die Nakba, die Katastrophe, wie die Palästinenser sagen: Die arabischen Armeen erlitten eine ganze Serie von Niederlagen gegen Israel. 700.000 Palästinenser flohen oder wurden vertrieben. Seitdem scheint - aus Perspektive der Palästinenser - die Katastrophe anzuhalten.

Von Regina Kusch und Andreas Beckmann | 11.03.2010
    "Hiermit proklamieren wir kraft unseres natürlichen und historischen Rechts und aufgrund des Beschlusses der UN-Vollversammlung die Errichtung eines jüdischen Staates in Eretz Israel, des Staates Israel."

    Als David Ben Gurion am 14. Mai 1948 den Staat Israel ausrief, hatten die letzten britischen Soldaten das Mandatsgebiet Palästina kaum verlassen. Nach einem Plan der Vereinten Nationen hätten dort jetzt eigentlich zwei neue Staaten entstehen sollen: ein jüdischer und ein arabischer.

    Doch dieser Teilungsplan wurde nie verwirklicht, weil die arabische Seite ihn von Anfang an ablehnte. Nur einen Tag nach Israels Gründung marschierten Soldaten aus fünf Nachbarländern ein, um gemeinsam mit palästinensischen Milizen den jüdischen Staat zu zerstören.

    Im Verlauf des Jahres 1948 erlitten diese Milizen ebenso wie die arabischen Armeen eine ganze Serie von Niederlagen. Die Israelis verteidigten nicht nur das ihnen zugeteilte Land, sondern eroberten vor allem im Norden und in Galiläa weitere Gebiete hinzu.

    So führte dieser erste Nahostkrieg zur Nakba - zu der Katastrophe, wie die Palästinenser bis heute sagen. Über 700.000 von ihnen flohen oder wurden von den Zionisten vertrieben, nur etwa 170.000 blieben als Minderheit in Israel.

    Heute leben neun Millionen Palästinenser über die ganze Welt verstreut, im Gazastreifen und der Westbank, in den Ländern des Nahen Ostens und selbst in den USA. Die Exilgemeinden haben oft wenig Kontakt untereinander. Aber sie alle verbindet die Erinnerung an die Nakba, erklärte am Beginn der Tagung der Historiker Michael Fischbach vom Randolph-Macon College in Virginia.

    "Die Nakba bedeutete mehr als die Verhinderung eines Palästinenserstaates und das Entstehen eines Flüchtlingsproblems. Eine Gesellschaft wurde zerschlagen und ein Volk auseinandergerissen und auf viele Länder verteilt. Dieses Trauma bestimmt bis heute, wie Palästinenser die Welt sehen und wie sich palästinensische Politik entwickelt. Heutige Konflikte der Palästinenser, ob untereinander oder mit ihren Nachbarn, kann man nicht verstehen, ohne sich an diese Geschichte zu erinnern."

    Denn die Palästinenser erzählen sich noch heute in der zweiten oder dritten Generation ständig diese Geschichte. Und sie ziehen aus ihr die Schlussfolgerung, dass ihnen die internationale Gemeinschaft damals nicht helfen wollte und bis heute nicht will, berichtete die Politologin Helga Baumgarten, die an der Birzeit University im Westjordanland unterrichtet.

    "Meine Studenten in Birzeit lachen mich aus, wenn ich von der UN anfange. Wo, liebe Frau Baumgarten, gibt es einen Punkt in der Geschichte, wo die internationale Gemeinschaft, wo die UN tatsächlich etwas durchgesetzt hat für die Palästinenser? Wo man diesen Schritt gemacht hat vom Beschluss in irgendeinem Gremium der UN zur Umsetzung in die Realität? Und da haben sie absolut recht. Das ist diese palästinensische Katastrophe, die in dem Sinne von 1948 bis heute andauert."

    1949 setzte sich diese Katastrophe für die Palästinenser fort, als ein arabisches Land nach dem anderen mit Israel Waffenstillstand schloss. Dabei wurde das frühere britische Mandatsgebiet neu aufgeteilt. Israel behielt die von ihm eroberten Gebiete, Jordanien sicherte sich die Westbank und Ägypten den Gazastreifen. An die Palästinenser dachte niemand.

    Wie hoch emotional auch dieser zweite Teil der Nakba bis heute unter Palästinensern besprochen wird, zeigte auf der Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung der Vortrag von Samir Awad, der ebenfalls an der Birzeit University lehrt. Er beschrieb die Nakba als einen unerbittlichen Prozess, der bis heute immer weiter gehe.

    "Es ist ein Prozess, der einen zionistischen Versuch darstellt, die Palästinenser als Nation auszulöschen, komplett auszulöschen. Die, die in Israel blieben, wurden per Dekret als arabische Israelis klassifiziert. Die in der Westbank wurden zu Jordaniern erklärt, zu Untertanen seiner Majestät des Königs von Jordanien. Und die im Gazastreifen wurden unter ägyptische Militärverwaltung gestellt. Auf die Weise sollte der Gedanke an Palästina komplett verschwinden."

    Auch wenn Samir Awad mit dem wiederholt verwendeten Begriff der Auslöschung eine Parallele zum Schicksal der Juden im Zweiten Weltkrieg nahelegte, als Professor für Politikwissenschaft muss er wissen, dass es eine Auslöschung der Palästinenser, einen Völkermord an ihnen nie gegeben hat, auch nicht den Versuch.

    Was aber bei aller Zuspitzung stimmt: Palästina war wenige Jahre nach dem UN-Teilungsplan von der Landkarte verschwunden und die Palästinenser hatten keine politische Stimme mehr. Wenn ihnen überhaupt noch jemand Hoffnungen machte, dann war es Populisten anderer Länder, die von einer pan-arabischen Erhebung träumten, die das Gebiet eines Tages zurückerobern sollte.

    Symbolfigur für diese Vision wurde der ägyptische Präsident Nasser, der Mitte der 60er-Jahre sein Land massiv aufrüstete und von einem neuen Krieg schwadronierte. Doch Israel kam ihm zuvor. Es zerschlug seine Armee und die seiner Verbündeten binnen sechs Tagen und besetzte auch noch die letzten Gebiete des einstigen Mandatsgebiets Palästina einschließlich Jerusalems.

    "Gebet und Tränen des Glücks an der Klagemauer in Jerusalem. Es ist der 7. Juni 1967. Ein Traum wird wahr. Knapp 1900 Jahre nach der Zerstörung des zweiten jüdischen Tempels durch römische Legionäre beten Juden an den Resten eben jenes Gotteshauses und singen die israelische Nationalhymne."

    Der Triumph im Sechstagekrieg befreite viele Israelis von der Angst, ihr Staat werde früher oder später doch von seinen arabischen Nachbarn vernichtet. Für die Palästinenser im Gazastreifen und dem Westjordanland aber verschlimmerte sich ihr Trauma noch weiter. Jetzt lebten nicht nur viele von ihnen in Lagern, sondern alle auch noch unter israelischer Besatzung.

    Doch dieser Tiefpunkt ihrer Geschichte markiert zugleich einen Wendepunkt, betonte Salah Abdel Shafi, Sozialwissenschaftler aus dem Gazastreifen. Denn nach dem politischen Bankrott des Pan-Arabismus gewann die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO rasant an Popularität und Bedeutung.

    "Eine neue Generation, die in den Lagern und im Exil groß geworden war, übernahm mit Yassir Arafat die Führung. Sie redete nicht nur militant, sondern handelte auch so. Und in sehr kurzer Zeit gelang es ihr, in der arabischen Welt, aber bald auch darüber hinaus Anerkennung zu finden, als legitime Vertretung der Palästinenser. Zum ersten Mal seit 1948 wurden die Palästinenser wieder als Volk angesehen, das nationale Rechte besaß."

    Yassir Arafats relativ gemäßigte Fatah war nur eine von vielen Parteien, die sich in der PLO zusammengeschlossen hatten. Diese Parteien hatten in ganz unterschiedlichen arabischen Ländern Exil gefunden und vertraten ganz unterschiedliche Ideologien. Aber weil sie diese Differenzen zurückstellten, symbolisierten sie die Einheit der Palästinenser, die 1948 für immer verloren gegangen schien.

    Was noch fehlte, war der eigene Staat, um das Trauma der Nakba vielleicht zu überwinden. Diesem Ziel kam die PLO erst 1993 näher, als der Vertrag von Oslo geschlossen wurde. Er erlaubte den Palästinensern, im Gazastreifen und der Westbank mit dem Aufbau einer Selbstverwaltungsbehörde zu beginnen, aus der später mal ein eigener Staat hervorgehen sollte.

    Doch um dieses Zugeständnis von der Besatzungsmacht zu erhalten, hatte die PLO Israel in den Grenzen von 1967 anerkennen müssen. Für viele auswärtige Beobachter war das ein Durchbruch auf dem Weg zum Frieden. Viele Palästinenser aber stürzte dies in eine emotionale Zwickmühle: um dem Traum vom eigenen Staat näher zu kommen, sollte die Hoffnung vieler Flüchtlinge geopfert werden, eines Tages in das Gebiet des heutigen Israels zurückzukehren.

    Je länger sich die weiteren Verhandlungen mit Israel hinzogen, desto mehr bröckelte die Zustimmung zur Politik der PLO, konstatierte May Jayyusi, Direktorin des Palästinensischen Instituts für Demokratiestudien in Ramallah.

    "Ich kann mich noch gut an die Atmosphäre Ende der 90er-Jahre erinnern. Es gab eine regelrechte Panik, welche Zugeständnisse Arafat noch machen würde. So kam die Debatte auf, seine Macht zu begrenzen. Es ging nicht nur um Korruption und autoritären Führungsstil, sondern um nationale Fragen. Als die Verhandlungen in Camp David 2000 schließlich scheiterten, waren viele Leute erleichtert, weil ein Ausverkauf unserer Interessen an die Israelis gescheitert war."

    Nach Arafats Tod wurde mit Mahmud Abbas wieder ein Fatah-Mann zum Präsidenten gewählt. Aber bei den Parlamentswahlen 2006 siegte die radikal-islamische Hamas.

    Als die Abgeordneten des Legislativrates im Februar 2006 ihren Amtseid ablegten, begrüßten es die meisten Palästinenser, dass Fatah und Hamas eine gemeinsame Regierung bildeten und so die nationale Einheit aufrecht erhielten. Doch nachdem die Hamas Mitte 2007 mit Gewalt gegen die Fatah-Milizen in Gaza vorging, löste Präsident Abbas diese Regierung auf.

    Seither herrscht de facto in Gaza die Hamas und im Westjordanland die Fatah.

    "Sowohl in Gaza als auch in der Westbank erleben wir heute eine Diktatur von Sicherheitsapparaten, die völlig über dem Gesetz stehen. In beiden Gebieten werden Leute aus politischen Gründen eingesperrt. Über die Vorgänge in Gaza wird viel diskutiert, über das, was in der Westbank passiert, steht nicht viel in der Zeitung."

    Beide Seiten haben nicht nur Hunderte ihrer Gegner verhaftet, sondern auch viele erschossen. Eine Rückkehr zu einer gemeinsamen Regierung scheint bis auf Weiteres äußerst unwahrscheinlich. Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin:

    "Ich habe momentan sehr wenig Hoffnung, dass es zu einer Aussöhnung kommen könnte. Ich denke, was noch möglich ist, ist eine Einigung über ein sehr minimales Machtteilungsarrangement für eine Interimsperiode und dann der Übergang zu Wahlen. Das ist aber nur dann möglich, wenn beide Seiten sich sicher sein können, dass es nicht nur um ein Gewinnen oder Verlieren der Wahlen geht, sondern eine Regelung gefunden wird, wo beide Seiten auch nach der Wahl an der Macht beteiligt werden."

    Für Salah Abdel Shafi aus dem Gazastreifen, der heute als einer der letzten Auslandsrepräsentanten der PLO in Stockholm lebt, ist eine Rückkehr zur Einheit der Palästinenser unmöglich, so lange Hamas ihre Politik nicht grundsätzlich ändert.

    "Hamas als Teil der Bewegung der Moslembrüderschaft betrachtet die nationale Befreiung nicht mehr als das Ziel. Sie ist für Hamas ein Mittel. Islamisierung ist das Ziel. Deshalb ist Hamas zwar für einen langfristigen Waffenstillstand mit Israel, aber nicht für einen endgültigen Frieden. Für Hamas ist der zentrale Punkt des Konfliktes nicht das Land, sondern das Thema ist der Islam."

    Hamas träumt von einer Wiederkehr der Verhältnisse vor der Nakba. In ihrem Wappen finden sich die Umrisse eines Palästinas, das mit dem alten Mandatsgebiet identisch ist, also keinen Platz mehr für einen jüdischen Staat lässt. Für ein solches Groß-Palästina strebt Hamas eine islamische Herrschaft an.

    Allzu deutlich sagt sie das der Bevölkerung aber lieber nicht. Aus gutem Grund, meint Muriel Asseburg. Denn die Palästinenser seien zwar mehrheitlich konservativ, wollten aber bestimmt keinen Staat wie bei den Taliban. Und sie befürworteten inzwischen einen Kompromiss mit Israel.

    "Wenn man sich die Umfragen anschaut, sieht man, dass eine Mehrheit der Palästinenser für eine Zwei-Staaten-Regelung ist. Das ist tatsächlich eine absolute Mehrheit, aber dass die Mehrheit tatsächlich nicht daran glaubt, dass es durch Verhandlungen zu einem solchen Zustand kommen kann, zu einem Frieden, wo es nicht nur einen palästinensischen Staat neben Israel gibt, sondern einen palästinensischen Staat, der tatsächlich lebensfähig ist, der es tatsächlich den Palästinensern ermöglicht, selbstbestimmt zu leben, und der auch ein gerechter Frieden ist."

    Weil sie von der Politik kaum mehr etwas erwarten, wenden sich offenbar immer mehr Palästinenser von ihr ab.

    Helga Baumgarten von der Birzeit University beschrieb diesen Prozess an Hand alltäglicher Beobachtungen in Jerusalem und Umgebung.

    "Meine Diagnose ist momentan, dass wir in einer Phase sind, wo die palästinensische Gesellschaft durch diese individuelle Fragmentierung geht. Jeder sieht nur sich selbst, seine engere Familie. In Ramallah abstrahiert man vollständig von dem, was außen rum um einen vorgeht. Man ist in Ramallah, man lebt für den Moment. Hat dort alles, Geld ist da, Jobs sind da, Vergnügungsmöglichkeiten sind da. Alles andere vergisst man, dass, wenn man einen Kilometer weiter geht, man an einen Übergang kommt, durch den man nicht darf. In Ost-Jerusalem versuchen die Familien, auch irgendwie zu überleben, selbst im Gazastreifen beobachtet man ähnliches."

    Die Palästinenser stehen heute fast wieder an einem ähnlichen Punkt wie 1948. Intern sind sie vollkommen zersplittert und ohne eine nationale Führung, die ihre Lage wenigstens ein bisschen verbessern könnte. Die UN propagieren immer noch einen eigenen Staat für sie, aber es gibt kein Land oder Bündnis, das die Macht und den Willen hätte, ihnen dazu zu verhelfen.

    Als mögliche Hoffnungsträger wurden auf der Tagung ausgerechnet jene 1,3 Millionen Palästinenser genannt, die bis heute in Israel leben. Sie machen dort ein Fünftel der Bevölkerung aus. Sie werden zwar im Alltag häufig diskriminiert, genießen aber weitgehende demokratische Rechte.

    Wenn sie sich mit den Menschen in Gaza und der Westbank solidarisierten, könnten sie den Verhandlungen um einen palästinensischen Staat vielleicht einen neuen Schub geben, meinte Zachary Lockman von der New York University.

    "Die Lösung der Westbank- und Gaza-Frage könnte die Lage der palästinensischen Minderheit in Israel aber auch verschlechtern. Wenn man sich etwa die Vorschläge von Außenminister Liebermann anhört, dann sollte Israel ja, wenn es schon einem Palästinenserstaat zulässt, gleich zusehen, dass es seine arabischen Bürger los wird oder dass es denen, die bleiben, die staatsbürgerlichen Rechte aberkennt."

    Es scheint, als könnte die Geschichte noch manche tragische Wendung nehmen, bevor die Palästinenserfrage vielleicht eines Tages eine Lösung findet.