Samstag, 18. Mai 2024

Archiv


Katastrophen hinter hohen Mauern

Verhungert, misshandelt und missbraucht - in den letzten zehn Jahren sollen allein in Bulgarien 238 behinderte Kinder in staatlichen Heimen gestorben sein. Die bulgarische Justiz geht nun hart gegen Betreuer und Beamte in den Sozialämtern vor, die sie für den Tod der Heimkinder verantwortlich macht.

Von Gunnar Köhne | 09.12.2010
    Fast 300 Ermittlungsverfahren wegen ungeklärter Todesfälle und Missbrauchs Schutzbefohlener wurden mittlerweile von der Generalstaatsanwaltschaft in Sofia eingeleitet: Die bulgarische Justiz demonstriert Härte gegen die Betreuer, aber auch gegen etliche Beamte in den Sozialämtern, die sie für den Tod der Heimkinder verantwortlich macht.

    Dieser Erfolg gehört dem bulgarischen Helsinki-Komitee. Die Menschenrechtler hatten im Oktober den Skandal öffentlich gemacht, nachdem sie Dutzende Kinderheime besucht und Akten durchforstet hatten. Ihre Sprecherin Margarita Elieva ist mit der Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft zufrieden:

    "Das ist eine wichtige strukturelle Kehrtwende. Die Straflosigkeit hat ein Ende. Niemals zuvor sind diejenigen zur Rechenschaft gezogen worden, die sich an diesen wehrlosen Kindern vergangen haben."

    Die bulgarische Regierung hatte schon Ende 2009 beschlossen, alle Kinderheime aufzulösen, vor allem die Häuser für behinderte Kinder sollten umgehend geschlossen werden zugunsten kleinerer Wohngemeinschaften. Doch bislang ist noch keines der landesweit 23 Heime für behinderte Kinder aufgelöst worden. Dabei gibt es auch unter den heftig kritisierten Heimleitern Stimmen, die eine neue Behindertenpolitik fordern.

    Einer von ihnen ist Krassimir Petkov. Er leitet ein Heim für geistig behinderte Kinder mit dem pathetischen Namen Hoffnung. Das schmucklose Backsteingebäude liegt im Dorf Tarnava, im Nordosten Bulgariens, hinter einem hohen Zaun und weit entfernt von der nächsten Kreisstadt.

    19 Mädchen und Jungen sind hier untergebracht, sie alle wurden gleich nach der Geburt von den Eltern weggegeben. Einer von ihnen, ein 14-jähriger Autist, ist in der Dorfschule Klassenbester in Mathematik. Heimleiter Petkov meint, solche Kinder müssten in die Gesellschaft integriert werden:

    "Wir sind eines der kleinsten Heime in Bulgarien. Andere müssen 150 Kinder betreuen – bei gleichem Platz und kaum mehr Geld. Wer kann da einzelnen Kindern wie diesem Jungen noch gerecht werden? Ich meine, es ist eine gute Idee die Heime aufzulösen. Adoptiv- oder Pflegeeltern für unsere Kinder zu finden, haben wir aufgegeben. Niemand will ein behindertes Kind. Also bleibt nur die Einrichtung kleinerer Wohngruppen."

    Das Haus Hoffnung gehört zu den besseren Einrichtungen Bulgariens. In den meisten Behindertenheimen herrschen dagegen menschenunwürdige Zustände - Besuche durch Journalisten sind unerwünscht. Dass in den vergangenen zehn Jahren über 200 behinderte Kinder in der Obhut des Staates qualvoll gestorben sind habe, sagen Kritiker, auch mit der Gleichgültigkeit und Ignoranz der bulgarischen Gesellschaft gegenüber Behinderten zu tun, meint Heimleiter Petkov:

    "Wenn die Ärzte bei der Geburt eines Kindes eine geistige Behinderung feststellen, raten sie den Eltern dazu, das Kind wegzugeben mit der Begründung, solche Kinder hätten ohnehin nur eine geringe Lebenserwartung."

    Die Einrichtungen für geistig und körperlich behinderte Kinder liegen in Bulgarien fast alle auf dem Land. Etwa 1000 Jungen und Mädchen zwischen drei und 18 Jahren leben so vor der Öffentlichkeit versteckt. Das war bereits zu Zeiten des Kommunismus staatliche Politik. Versorgt werden sie auch heute noch überwiegend von ungelernten Hilfskräften und Krankenschwestern. Eine Heimleiterin verdient nicht mehr als 400 Euro im Monat, ein Betreuer die Hälfte. Und die wenigen Mitarbeiter sind überfordert und schlecht ausgebildet, Fortbildungsangebote fehlen. Die finanzielle Ausstattung ist katastrophal. Es sei Zeit zu handeln, sagt die Menschenrechtlerin Margarita Ilieva:

    "Kinder mit Behinderungen sollten nicht in solchen isolierten Institutionen leben. Sie sollten mitten unter uns sein, wir müssen uns endlich an sie gewöhnen und sie sich an uns. Aber bis das erreicht ist, ist es wichtig, dass nie wieder ein Kind in einem Heim ums Leben kommt!"