Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan bestand darauf, dass, wer Unbewusstes sprachlich bearbeiten will, sich besser einem schwer zugänglichen Idiom bediene, weil ein solches den Strukturen des Unbewussten eher gerecht zu werden vermag. Und er selbst hat in seinen Schriften, den Ecrits, vorgeführt, wie ein solch vielschichtiges, im Unbewussten verankertes Schreiben aussehen könnte. Katherine Stroczan ist mit ihrer lacanianisch inspirierten Analyse der Börsenwelt dem linguistischen Imperativ Lacans gefolgt, hat dabei aber eine stilistisch schwer verdauliche Untersuchung vorgelegt, die auch den wohl gesonnenen und neugierigen Lesern einiges abverlangt, zumal sie sich auch selbst erst ordnende Schneisen durch das inhaltlich recht frei schwebende, terminologisch aber äußerst gehorsame Schreiben der Autorin schlagen müssen, um sich der grundlegenden Thesen ihrer psychoanalytischen Bestandsaufnahme des neumodischen Börsenphänomens überhaupt zu vergewissern. Das ist schade, denn das Vorhaben selber, die im letzten halben Jahrzehnt massenwirksam entflammte Börsenleidenschaft auf ihre unbewusste Dimension hin zu lesen, ist ein interessantes Unterfangen, weil es Einsichten in die innere Verfassung einer neoliberal entfesselten, postmodernen Gesellschaft und ihrer Mitglieder verspricht. Und so lassen sich in Stroczans Text auch einige aufschlussreiche Gedanken finden, wobei durch ihre terminologisch zu einseitige Abrichtung die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Gegenstand immer wieder abgelenkt wird, hin zur begrifflich-theoretischen Ebene selber.
An der Börse verliert die ödipale Ordnung ihre letzte Unterstützungslinie. Statt des strukturierenden Gesetzes gilt die Macht der Wahnsysteme, denn durch die Aufhebung der Ödipalität werden frühe Pathologien entfesselt. Die strukturstiftende Wirkung des nom du père ist hier durch den unentrinnbaren Befehl des Genießens ersetzt worden.
Auch auf die Gefahr hin, dass die in mannigfaltigen Verästelungen enthaltenen Bedeutungen des Buches einer vereinfachenden Lektüre zum Opfer fallen, soll hier doch der Versuch unternommen werden, zumindest seine grundlegenden Annahmen zu skizzieren. Die bereits im Titel enthaltene These vom Behagen in der Unkultur ist der argumentative Kern, um den die Analyse kreist - der Titel ist eine Umkehrung des Freudschen Titels Das Unbehagen in der Kultur . Das Börsenfieber, so die Autorin, sei zwar ein gesellschaftliches, auf keinen Fall aber ein kulturelles Phänomen, denn es handele sich dabei ja gerade um einen triebgesteuerten Kulturverlust. Triebverzicht, Verdrängung und Nichtbefriedigung sind Sigmund Freud zufolge die sublimatorischen Voraussetzungen von Kultur. Nur so kann das Lustprinzip dem Realitätsprinzip untergeordnet werden. Im Umkehrschluss der Autorin bedeutet Unkultur also, dass das Realitätsprinzip nun den Imperativen des Lustprinzips gehorcht, und dass an die Stelle eines unbehaglichen, kulturschaffenden Verzichts ein behagliches, kulturnegierendes Nicht-Verzichten-Müssen tritt.
Wie nun das psychoanalytisch konstatierte so genannte "Behagen in der Unkultur" im Feld der Börse von den Medien nicht nur hervorgebracht, sondern auch stetig vorangetrieben wird, ist der Gegenstand von Stroczans Erörterung. Sie verwendet dazu sprachliches Material aus TV-Sendungen und Börsenzeitschriften, das sie auf seine latenten Bedeutungen hin zu lesen vorgibt, dann aber häufig psychoanalytischem Spott preisgibt. Magisches Denken und Wahnvorstellungen seien die grundlegenden Muster des Börsendiskurses, die der Realitätsverleugnung der Kleinanleger systematisch Vorschub leisten. Stroczans "homo investor" ist der geprellte Kleinaktionär, der sich vom medialen Dauergerede vorgeblicher Börsenexperten hat verstricken lassen und diesem gar, aus pathologischer Bedürftigkeit heraus, die Funktion eines Über-Ichs zuerkennt. Gemeinhin ist das Über-Ich eine an Triebverzicht appellierende Instanz. Der massenmedial verbreitete Imperativ lautet jedoch "Habe Erfolg, genieße, sei omnipotent, steh zu deiner Gier!", rufe also, ganz im Gegenteil, zu aggressivem, also triebgesteuertem Handeln auf. Derartige Verhaltensweisen wiederum entsprechen, aus psychoanalytischer Entwicklungsperspektive, frühen Mustern. Und so sei die Börse, der Autorin folgend, mithin ein idealer Tummelplatz für frühe Pathologien aller Art, wobei, so ist zu hoffen, hier nicht von einer klinischen Kategorie, sondern von einem gesellschaftlich produzierten Syndrom die Rede ist. Die Gier sei dabei der allen Anlegern gemeinsame Affekt. Die "neuen Raubtierkapitalisten", wie Ignacio Ramonet die Großmanager von Weltkonzernen so plastisch charakterisiert, hat Stroczan dabei jedoch nicht im Blick, wo sich doch gerade an ihnen sehr viel besser vorführen ließe, dass die Gier, zumal in ihrer besonderen Ausprägung, der Raffgier, sich längst gesellschaftlich gemausert hat und zu einem weithin akzeptierten Modell erfolgreichen Handelns geworden ist.
Das psychische Gegenstück der Gier sei allerdings die Panik, und weil kollektive Panik die Märkte in vernichtende Turbulenzen stürzen kann, spielen Angstbewältigungsmechanismen neben Erfolgsappellen in der medialen Berichterstattung eine zentrale Rolle. So pendeln die medialen Bearbeitungsformen zwischen Gewinnverheißung, Angstbeschwichtigung und, wenn der Crash nicht mehr länger zu verleugnen ist, der paranoiden Projektion hin und her, die böse Verursacher erlittener Verluste irgendwo außerhalb der eigenen Verantwortlichkeit, beispielsweise bei betrügerischen Fondsmanagern lokalisiert. Dass es sich hier freilich nicht nur um die Projektionen enttäuschter Kleinaktionäre handelt, dürften die jüngsten Unternehmens-Skandale in den Vereinigten Staaten vor Augen geführt haben. Doch an der wirtschaftlichen Empirie hat Katherine Strozcan keinerlei Interesse. Am Ende setzt die Autorin die Anlegergemeinde gar der Urhorde gleich, denn der Crash werde wie eine Naturkatastrophe erlebt, und auch die vorangegangenen Prognosen seien letztlich nichts grundlegend anderes als in prähistorischen Gesellschaften die Naturdeutungsmuster. Fazit des psychoanalytischen Beschreibungsversuchs: Der Kleinanleger ist wie der Urmensch ein von seinem Triebschicksal gebeuteltes Wesen. Entmündigt wird er hier aber gleichsam doppelt, denn Stroczan exerziert an ihm nur auf andere Weise, was die Medien, ihrer Analyse zufolge, auch mit ihm tun.
Doch was ist das für eine Gesellschaft, die das Behagen in der Unkultur propagiert und ihre Mitglieder massenhaft in infantile Szenarien zwingt? Hat sich das Diktat eines reinen Genießens bereits derart verallgemeinert? Und erzeugt eine solcherart regressionssüchtige Gesellschaft nicht eine neue Form des Unbehagens? Stroczans Bestandsaufnahme stimmt nachdenklich und wirft fundamentale Fragen auf, die die Autorin selbst jedoch weder stellt noch beantwortet. Auch hätte ein wenig Selbstironie gegenüber der eigenen déformation professionelle der Sache gut getan und dem sich immer wieder einstellenden Eindruck entgegenarbeiten können, es handele sich vielleicht doch nur um eine im Selbstreferentiellen verfangene Analyse, die ihre eigenen Phantasmen schafft, die sie dann genüsslich zerlegen darf. Der Psychoanalyse hat die Autorin damit jedenfalls keinen Gefallen getan; zumal immer noch strittig ist, inwiefern sie sich zur Analyse gesellschaftlicher Strukturen überhaupt eignet.
Barbara Eisenmann besprach: "Der schlafende DAX oder das Behagen in der Unkultur" von Katherine Stroczan, erschienen im Verlag Klaus Wagenbach. Es hat 108 Seiten und kostet18.50 Euro.
An der Börse verliert die ödipale Ordnung ihre letzte Unterstützungslinie. Statt des strukturierenden Gesetzes gilt die Macht der Wahnsysteme, denn durch die Aufhebung der Ödipalität werden frühe Pathologien entfesselt. Die strukturstiftende Wirkung des nom du père ist hier durch den unentrinnbaren Befehl des Genießens ersetzt worden.
Auch auf die Gefahr hin, dass die in mannigfaltigen Verästelungen enthaltenen Bedeutungen des Buches einer vereinfachenden Lektüre zum Opfer fallen, soll hier doch der Versuch unternommen werden, zumindest seine grundlegenden Annahmen zu skizzieren. Die bereits im Titel enthaltene These vom Behagen in der Unkultur ist der argumentative Kern, um den die Analyse kreist - der Titel ist eine Umkehrung des Freudschen Titels Das Unbehagen in der Kultur . Das Börsenfieber, so die Autorin, sei zwar ein gesellschaftliches, auf keinen Fall aber ein kulturelles Phänomen, denn es handele sich dabei ja gerade um einen triebgesteuerten Kulturverlust. Triebverzicht, Verdrängung und Nichtbefriedigung sind Sigmund Freud zufolge die sublimatorischen Voraussetzungen von Kultur. Nur so kann das Lustprinzip dem Realitätsprinzip untergeordnet werden. Im Umkehrschluss der Autorin bedeutet Unkultur also, dass das Realitätsprinzip nun den Imperativen des Lustprinzips gehorcht, und dass an die Stelle eines unbehaglichen, kulturschaffenden Verzichts ein behagliches, kulturnegierendes Nicht-Verzichten-Müssen tritt.
Wie nun das psychoanalytisch konstatierte so genannte "Behagen in der Unkultur" im Feld der Börse von den Medien nicht nur hervorgebracht, sondern auch stetig vorangetrieben wird, ist der Gegenstand von Stroczans Erörterung. Sie verwendet dazu sprachliches Material aus TV-Sendungen und Börsenzeitschriften, das sie auf seine latenten Bedeutungen hin zu lesen vorgibt, dann aber häufig psychoanalytischem Spott preisgibt. Magisches Denken und Wahnvorstellungen seien die grundlegenden Muster des Börsendiskurses, die der Realitätsverleugnung der Kleinanleger systematisch Vorschub leisten. Stroczans "homo investor" ist der geprellte Kleinaktionär, der sich vom medialen Dauergerede vorgeblicher Börsenexperten hat verstricken lassen und diesem gar, aus pathologischer Bedürftigkeit heraus, die Funktion eines Über-Ichs zuerkennt. Gemeinhin ist das Über-Ich eine an Triebverzicht appellierende Instanz. Der massenmedial verbreitete Imperativ lautet jedoch "Habe Erfolg, genieße, sei omnipotent, steh zu deiner Gier!", rufe also, ganz im Gegenteil, zu aggressivem, also triebgesteuertem Handeln auf. Derartige Verhaltensweisen wiederum entsprechen, aus psychoanalytischer Entwicklungsperspektive, frühen Mustern. Und so sei die Börse, der Autorin folgend, mithin ein idealer Tummelplatz für frühe Pathologien aller Art, wobei, so ist zu hoffen, hier nicht von einer klinischen Kategorie, sondern von einem gesellschaftlich produzierten Syndrom die Rede ist. Die Gier sei dabei der allen Anlegern gemeinsame Affekt. Die "neuen Raubtierkapitalisten", wie Ignacio Ramonet die Großmanager von Weltkonzernen so plastisch charakterisiert, hat Stroczan dabei jedoch nicht im Blick, wo sich doch gerade an ihnen sehr viel besser vorführen ließe, dass die Gier, zumal in ihrer besonderen Ausprägung, der Raffgier, sich längst gesellschaftlich gemausert hat und zu einem weithin akzeptierten Modell erfolgreichen Handelns geworden ist.
Das psychische Gegenstück der Gier sei allerdings die Panik, und weil kollektive Panik die Märkte in vernichtende Turbulenzen stürzen kann, spielen Angstbewältigungsmechanismen neben Erfolgsappellen in der medialen Berichterstattung eine zentrale Rolle. So pendeln die medialen Bearbeitungsformen zwischen Gewinnverheißung, Angstbeschwichtigung und, wenn der Crash nicht mehr länger zu verleugnen ist, der paranoiden Projektion hin und her, die böse Verursacher erlittener Verluste irgendwo außerhalb der eigenen Verantwortlichkeit, beispielsweise bei betrügerischen Fondsmanagern lokalisiert. Dass es sich hier freilich nicht nur um die Projektionen enttäuschter Kleinaktionäre handelt, dürften die jüngsten Unternehmens-Skandale in den Vereinigten Staaten vor Augen geführt haben. Doch an der wirtschaftlichen Empirie hat Katherine Strozcan keinerlei Interesse. Am Ende setzt die Autorin die Anlegergemeinde gar der Urhorde gleich, denn der Crash werde wie eine Naturkatastrophe erlebt, und auch die vorangegangenen Prognosen seien letztlich nichts grundlegend anderes als in prähistorischen Gesellschaften die Naturdeutungsmuster. Fazit des psychoanalytischen Beschreibungsversuchs: Der Kleinanleger ist wie der Urmensch ein von seinem Triebschicksal gebeuteltes Wesen. Entmündigt wird er hier aber gleichsam doppelt, denn Stroczan exerziert an ihm nur auf andere Weise, was die Medien, ihrer Analyse zufolge, auch mit ihm tun.
Doch was ist das für eine Gesellschaft, die das Behagen in der Unkultur propagiert und ihre Mitglieder massenhaft in infantile Szenarien zwingt? Hat sich das Diktat eines reinen Genießens bereits derart verallgemeinert? Und erzeugt eine solcherart regressionssüchtige Gesellschaft nicht eine neue Form des Unbehagens? Stroczans Bestandsaufnahme stimmt nachdenklich und wirft fundamentale Fragen auf, die die Autorin selbst jedoch weder stellt noch beantwortet. Auch hätte ein wenig Selbstironie gegenüber der eigenen déformation professionelle der Sache gut getan und dem sich immer wieder einstellenden Eindruck entgegenarbeiten können, es handele sich vielleicht doch nur um eine im Selbstreferentiellen verfangene Analyse, die ihre eigenen Phantasmen schafft, die sie dann genüsslich zerlegen darf. Der Psychoanalyse hat die Autorin damit jedenfalls keinen Gefallen getan; zumal immer noch strittig ist, inwiefern sie sich zur Analyse gesellschaftlicher Strukturen überhaupt eignet.
Barbara Eisenmann besprach: "Der schlafende DAX oder das Behagen in der Unkultur" von Katherine Stroczan, erschienen im Verlag Klaus Wagenbach. Es hat 108 Seiten und kostet18.50 Euro.