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Katholikentag September 1968
Der Pillenkick

Mehr Demokratie und weniger klerikale Kontrolle des Liebeslebens sowie mehr Gewissensfreiheit und weniger Gehorsam: Davon träumten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Essener Katholikentages 1968. Die Diskussionen, Sit-Ins und Papiere wirken bis heute nach.

Von Christiane Florin | 04.09.2018
    Ein Mitglied des Aktionszentrums steht am 04.09.1968 anlässlich des 82. Deutschen Katholikentages in Essen an einer Vervielfältigungsmaschine, im Hintergrund ein Schild mit der Aufschrift "Wir reden nicht über die Pille - Wir nehmen sie". Eine eigene Zeitung unter dem Titel "Kritischer Katholizismus", will das Aktionszentrum "Kritischer Katholikentag", dem etwa 150 Mitglieder katholischer Gruppen angehören, während der Zeit des Katholikentages herausbringen. Das Aktionszentrum hatte am 04.09.1968 die in Essen anwesenden Gläubigen aufgefordert, Papst Paul VI. wegen der Ehe-Enzyklika "Humanae Vitae" das Misstrauen auszusprechen und ihn zum Rücktritt aufzufordern. Außer der Zeitung will das Aktionszentrum in allen Foren mitdiskutieren. Für den Fall, dass man dort nicht zu Wort kommen sollte, hat das Zentrum Demonstrationen angekündigt.
    Das Aktionszentrum "Kritischer Katholizismus" macht 1968 Druck auf den Papst und kritisiert das Pillenverbot. (picture alliance / dpa)
    "Man übergibt mir die Bibel. Ich verstehe sie nicht. Meine Sprache ist anders." (Teilnehmer)
    Einige Stimmen vom Katholikentag 1968. Sie sprechen für sich:
    "Mitten in dieser Welt lebe ich als Frau und Mutter. Ich versuche es als Christ zu tun. Äußerlich ist nichts Auffallendes bei uns los. Und doch gehen alle Spannungen der Zeit mitten durch unsere Familie hindurch."
    (Teilnehmerin)
    "Brüderliche Solidarität mit allen Menschen, Identifizierung mit den Notleidenden, Verfolgten, Gefangenen, Geknechteten. Friedfertigkeit, Friedfertigkeit, Friedfertigkeit bis zum Verzicht auf die Vergeltung erlittenen Unrechts. Dazu werden wir nur dann im Stande sein, wenn wir in all unseren Mitmenschen und in uns selbst nichts, nicht höher achten, nichts tiefer respektieren als die Freiheit des lebendigen Gewissens." (Max-Paul Engelmaier, Psychiater)
    Gegen so viel Gewissensfreiheit legt Papst Paul VI. ein Grußwort ein. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz Julius Döpfner trägt es vor:
    "Man möchte gerne erlaubt wissen, dass jeder in der Kirche meinen und glauben kann, was ihm beliebt. Dabei bedenkt man aber nicht, dass nur der sich voll und ganz in den Dienst der Wahrheit stellt, der sich dem Lehramt der Kirche unterordnet."
    Vier Stimmen aus Hunderten von Ansprachen, Anliegen, Ansagen. Das Vibrato der vielen Männer und wenigen Frauen am Kundgebungs-Mikrofon des Katholikentages in Essen kündet von einem Beben - theologisch, politisch, kirchenpolitisch. Die Kräfteverhältnisse zwischen Gewissen und Gehorsam, Freiheit und Bindung, Basis und Hierarchie verschieben sich in diesen Septembertagen des Jahres 1968.
    Der Papst pocht aufs "von Gott gegebene Charisma"
    Ein Ruhrpottkatholik, der die Bibel nicht versteht. Eine Ehefrau und Mutter, die von Zerwürfnissen in der eigenen Familie spricht. Ein prominenter Psychiater, der Seelsorge viel freier interpretiert als das Lehramt. Schließlich: Ein Papst, der grüßt und greint.
    Paul VI. hat wenige Wochen vorher in der Enzyklika "Humanae Vitae" künstliche Verhütungsmittel verboten. Die Untertanen protestieren. Das Oberhaupt pocht auf sein von "Gott gegebenes Charisma" und spielt es gegen die "rein persönlichen Ansichten" der Versammelten aus. Dass der Stellvertreter Christi diese Beziehungsklärung überhaupt nötig hat, ist unerhört.
    Viel Unerhörtes geschieht damals in Essen und dem Erdkreis. "Hengsbach, wir kommen, wir sind die linken Frommen", ruft das Aktionskomitee Kritischer Katholizismus. "Der Heilige Geist ist längst verraten von Kirchenbürokraten", reimen Teilnehmer.
    1968 erhebt sich weltweit Protest. Nigeria führt Krieg gegen Biafra, für politische Christen werden die Fotos verhungernder Kinder wichtiger als die Heiligenbildchen.
    Die hungernden Kinder von Biafra schockierten die Welt - Biafra wurde zum Synonym für Elend, Hunger, Verzweiflung und Massensterben
    Die hungernden Kinder von Biafra schockierten die Welt - Biafra wurde zum Synonym für Elend, Hunger, Verzweiflung und Massensterben (picture alliance / dpa / Grimm)
    "Mitten in der Welt" will der Essener Katholikentag sein. Auch wenn die Stimmen autoritär klingen - es ist keine Heerschau der Laienverbände, kein Aufmarsch der katholischen Jugendführer. Es gibt Diskussionen, Resolutionen, Streit, Sit-Ins. Der Rücktritt des Papstes wird gefordert. Am besten besucht ist ein Forum, das um eine kleine Tablette kreist. "Alle reden über die Pille, wir nehmen sie", steht auf Transparenten. Gerade das Private ist in der katholischen Kirche politisch.
    "Spätpubertäre Lust, Autoritäten eins auszuwischen"
    Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" widmet dem Papst und der Pille eine Titelgeschichte. Rudolf Augstein, das Oberhaupt des westdeutschen Journalismus, legt sich mit dem Oberhaupt der katholischen Kirche an. Mehr Reaktionen als zu den Studentenunruhen habe man auf den Pillen-Titel bekommen, vermeldet das Magazin später auf der Leserbriefseite.
    "Dieser Kommentar kann nur verstanden werden als spätpubertäre Lust, einer Autorität eins auszuwischen", heißt es in einem Brief. In anderen: "So schreibt man nicht über das Oberhaupt von 600 Millionen Katholiken.
    Auch das katholische Establishment sieht sich also zum Protest genötigt. Nur Beten und Beharren reicht nicht. 1968 formieren sich innerkirchliche Lager. Der Kampf um die öffentliche Meinung beginnt. Sieg oder Niederlage, Triumph oder Demütigung – in diesen Kategorien denken beide Seiten.
    Mit Mühe gelingt es auf dem Katholikentag dem gastgebenden Bischof von Essen, Franz Hengsbach statt eines autoritären einen fragenden Ton anzuschlagen:
    "War es das Ziel der Foren, der Unruhe in der Kirche ein Ventil zu geben? Sollte vielen die Möglichkeit gegeben, den Dampf abzublasen, unter dem sie stehen?"
    Es dampft weiter. Von diesem Katholikentag wird die katholische Kirche der Bundesrepublik lange zehren; von diesem Katholikentag wird sie sich lange nicht erholen. Diese beiden Sichtweisen bleiben bis heute.
    Ein Jahrhundertereignis sieht schnell alt aus
    1968 kommt für die katholische Kirche in Deutschland zu spät und zu früh. Das Zweite Vatikanische Konzil liegt erst wenige Jahre zurück. Gerade hat das Konzil die Ehe als Liebesgemeinschaft gewürdigt, da steht auch auf den Toiletten der katholischen Fakultäten der Spruch: "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment". Gerade hat das Konzil sich zur Religionsfreiheit bekannt, da fordern Studenten mit Mao-Bibel in der Hand die Freiheit VON Religion. Gerade hat das Konzil die Gleichberechtigung von Frauen wenigstens in der Ehe anerkannt, da verbrennen Feministinnen ihre BHs aus Protest gegen das Patriarchat.
    Die feierliche Abschlusssitzung der dritten Arbeitsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils am 21.11.1964 im Petersdom. Das Konzil, welches zur Öffnung und Erneuerung der Kirche beitragen sollte, endete im Dezember 1965.
    Die feierliche Abschlusssitzung der dritten Arbeitsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils am 21.11.1964 im Petersdom. (picture alliance / ANSA)
    Das Jahrhundertereignis sieht drei Jahre nach seinem Ende alt aus. Auf den Sturz der Autoritäten - der Väter, der Professoren, der Firmenpatriarchen - ist die katholische Kirche nicht vorbereitet. Weder der Papst in Rom noch der Pfarrer in der Gemeinde.
    "Da war ich auf meiner allerersten Kaplanstelle, da habe ich mich überhaupt nicht wohlgefühlt. Der Pastor hatte eine völlig andere Vorstellung von dem, was ich da tun sollte, als ich die hatte", erzählt Franz Decker. Er wird 1967 zum Priester geweiht und geht als als Kaplan nach Düsseldorf.
    "Es fing schon damit an, dass ich nicht mit einer Haushälterin ankam und sagte, ich könnte meinen Haushalt gut selbst machen. Das wollte ich auch. Einen Monat später kam eine Frau und stellte sich vor, sie wäre meine Haushälterin. Der Pastor hätte sie geschickt. Er wollte mir sagen, wie ich zu leben hätte."
    Die Pille erreicht den Beichtstuhl
    Ein anderes Klerikerbild taucht auf. Pastoren ziehen Jeans an, setzen sich mit der Gitarre vors Kirchenvolk. Der Brokat verschwindet, Handgewebtes kommt an die Kirchenwand. Gemeinde ist das Wort der Stunde. Es soll diskutiert werden statt dekretiert. "Wir träumen einen Traum, und wenn auch alle lachen, wir träumen einen Traum von einer besseren Welt", heißt es in einem Lied.
    Geträumt wird von mehr Demokratie, von mündigen Gläubigen. Die sexuelle Befreiung erreicht auch den Beichtstuhl.
    "95 Prozent der Sündenbekenntnisse bestanden darin: Ich habe gegen die Ehe gesündigt", erinnert sich Franz Decker. "Damit war unter anderem die Pille gemeint. Meine Standardfrage war immer: 'Glauben Sie, dass das wirklich falsch ist oder meinen Sie, sie müssten das hier sagen?' Worauf mir immer gesagt wurde: 'Ich glaube, ich muss das hier sagen, ich halte das nicht für falsch. Das geht gar nicht anders.' Dann habe ich versucht den Leuten klarzumachen, was sie für ein erwachsenes und selbstverantwortliches Gewissen hielte und habe ihnen versucht zu sagen, dass sie durchaus berechtigt als Christ auch anders denken können."
    Anders denken als der Papst. Ihre Füße stellen katholische Kinder weiter unter den Tisch des Heiligen Vaters. Wo der Papst ist, ist oben, allem antiautoritären Gestus zum Trotz. Er soll die Reformwünsche amtlich genehmigen. Das ist der Traum. Und wenn auch alle vom SDS lachen.
    Schreckgespenst Revolte
    Kommunion und Kommunismus zu versöhnen, fordern Mitglieder der kritischen Theologenkreise. Jesus – der erste Sozialist. Der Freund der Unterdrückten. Der Konsumverweigerer.
    Die Deutsche Bischofskonferenz hofft, das Schreckgespenst Revolte mit dem Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils austreiben zu können. 1971 beruft die Bischofskonferenz die Würzburger Synode ein. Sie soll Konzilsbeschlüsse für die deutsche Kirche umsetzen. Auch Laien sind stimmberechtigt.
    Wer in den Siebziger und Achtziger Jahren Jugendarbeit macht, wer für den Frieden strickt und in Frühschichten der Landjugend die Gitarre zupft, träumt von einer Erweiterung der Erlaubniszone. Eines Tages werde auch die katholische Kirche mehr Demokratie wagen, würden Frauen dieselben Rechte bekommen wie Männer, werde die klerikale Lufthoheit über den Betten enden. Dieser Dunst zieht durch die Teestuben in den Pfarrheimen. Bis es so weit ist – das kann dauern. Erst einmal gibt es noch mehr Gewebtes, noch mehr Gitarren, noch mehr Gruppendynamik.
    "68 läutet in der katholischen Kirche die Verbürgerlichung ein", sagt Benjamin Leven. Er ist Mitte 30, hat Theologie studiert und arbeitet als Journalist.
    Der Theologe und Journalist Benjamin Leven
    Der Theologe und Journalist Benjamin Leven (privat)
    "Katholizismus war bis dato auch in der Zeit nach dem Krieg noch sehr stark geprägt von den Werten, Weltanschauungen und Vorstellung des Adels und der Landwirtschaft. Nach meiner Wahrnehmung gewinnt das Bürgertum 1968 die Dominanz im Katholizismus, bringt sein Bedürfnis nach Diskurs in die Kirche, nach Bildung, nach Debatte ein. Ich stehe 50 Jahre danach als einigermaßen junger Mensch und nehme die Errungenschaften für selbstverständlich, sehe aber das Banale und abgelebte, das mich heute langweilt."
    "Im Strom des marxistischen Denkens"
    Weltliche Wissenschaftler haben den Kult um das Jahr 1968 mit jedem runden Jubiläum mehr entzaubert. Hochrangige Kleriker dagegen dämonisieren die Chiffre 68 von Jahr zu Jahr.
    "Einer an dessen Lippen wir gehangen haben, war Joseph Ratzinger. Der stand für Wissenschaftlichkeit, die berührte", sagt Franz Decker.
    Joseph Ratzinger lehrt zwischen 1966 und 1969 in Tübingen. Aus den Vorlesungen dort entsteht sein Buch "Einführung in das Christentum". Es fasziniert die Reformwilligen. Doch auch seine Vorlesungen werden gestört. Im Jahr 2000 erscheint das Buch mit einem neuen Vorwort. Ratzinger, nun Kardinal und Chef der Glaubenskongregation, schreibt:
    "Das Jahr 1968 bezeichnet den Aufstand einer neuen Generation, die nicht nur das Aufbauwerk nach dem Krieg als unzulänglich, voller Ungerechtigkeit, voller Egoismus und Besitzgier befand, sondern den ganzen Verlauf der Geschichte seit dem Sieg des Christentums für verfehlt und gescheitert ansah. Sie wollte es nun endlich besser machen, die Welt der Freiheit, der Gleichheit und der Gerechtigkeit herstellen und war überzeugt, den Weg dahin im großen Strom des marxistischen Denkens gefunden zu haben."
    Für Papst Johannes Paul II. und seinen Vor- und Nachdenker Joseph Ratzinger beginnt 1968 eine Verfallsgeschichte: Familien zerbrechen, weil Frauen ihren angestammten Platz verlassen. Gesellschaften zerfallen, weil linkskatholische Theologen die Armen aufwiegeln. Kinder werden abgetrieben, weil eine übersexualisierte Gesellschaft Sexualität von der Ehe und "den ehelichen Akt" von der Fortpflanzung abkoppelt. Das konservative Lager setzt die katholische Kirche als Opfer der Revolte in Szene.
    Erfolgreicher Bildersturm
    Benjamin Leven sagt: "Schauen Sie sich die Kirchen an wie sie aussahen nach dem Krieg und Ende der 60er Jahre. Es war ein Bildersturm, und es war ein erfolgreicher Bildersturm."
    Die 68er - erfolgreich? Erst straft der Vatikan lateinamerikanische Befreiungstheologen als Marxisten ab. Dann sind die Deutschen dran: 1979 verliert Hans Küng die Lehrerlaubnis, 1987 Uta Ranke-Heinemann, 1991 Eugen Drewermann. Historisch-kritische Bibellektüre, sozialrevolutionäre Deutung des Evangeliums, Kritik an der Unfehlbarkeit des Papstes und feministische Ideen werden zu verminten theologischen Terrains.
    Die 68er in der Kirche fühlen sich deshalb ebenso als Opfer. Einen langen Marsch durch die Institutionen gibt es für Priester mit Jeans und Gitarre nicht. Kein 68er wird Bischof.
    "Mein Typ ist allenfalls geduldet worden", sagt Franz Decker, der Priester des Weihejahrgangs 1967. Dechant und Kölner Caritas-Direktor wurde er.
    Benjamin Leven sagt: "Die 68er sind de facto heute die, die das Sagen haben. Das ist die Generation der Pfarrer. Der katholische Klerus ist völlig überaltert. Das bedeutet, dass die vielen Alten immer die Mehrheit über die Jungen haben", sagt der Theologe Benjamin Leven. Die Jungen flirten mit der Alten Messe, Priester römischem Kragen und Soutane fühlen sich als Provokateure des Bürgertums.
    Papst Benedikt XVI. von hinten fotografiert, am 27.02.2013 im Vatikan in Rom nach seiner letzen Generalaudienz vor seinem Abschied als Papst.
    Papst Benedikt XVI. am 27.02.2013 im Vatikan in Rom nach seiner letzen Generalaudienz vor seinem Abschied als Papst. (picture alliance / dpa / Michael Kappeler)
    "Wir träumen einen Traum, und wenn auch alle lachen...". Diese Jungen belächeln die linken Frommen tatsächlich.
    Ein katholischer Scheinriese
    Ausgerechnet Joseph Ratzinger tat, was der Katholikentag 1968 von einem Papst gefordert hatte: Er trat zurück. Doch mehr Demokratie hat die Kirche nicht risikiert, der Klerus hält Laien auf Distanz, weibliche Laien erst recht. Die Fiktion einer Hoheit über den Unterleib bleibt bestehen. Und einen Papst gibt es immer noch. Diese Erfolge dürfen die Konservativen für sich verbuchen. Im Gegenzug haben die Achtundsechziger von ihren Idealen die Schönheitsideale durchgesetzt. Die Institution Kirche hat sich grundsätzlich nicht verändert, die Kirchen sehen bloß anders aus. 1968 ist ein katholischer Scheinriese: Je weiter das Jahr entfernt ist, desto schöner oder schauriger wird es.