Dienstag, 23. April 2024

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Katholische Kirche im Nationalsozialismus
Stütze und Störer

Eine Holocaust-Tagung zeichnet ein zwiespältiges Bild: Judenhass galt als unvereinbar mit der katholischen Moral, antijüdische Ressentiments waren aber im hohen Klerus verbreitet. Das kam den Nazis in Deutschland gelegen. Im besetzten Polen hingegen wurde die Kirche wie ein Feind bekämpft.

Von Tobias Krone | 03.12.2019
Adolf Hitler (l) begrüßt während des Reichsparteitags der NSDAP 1934 in Nürnberg Reichsbischof Ludwig Müller
Die Kirche kooperierte im Nationalsozialismus in weiten Teilen mit dem Regime (picture alliance / dpa)
Wer die Wurzeln des Antisemitismus sucht, jenes Judenhasses, der Deutschland unter den Nazis zum größten Völkermord in der Menschheitsgeschichte trieb – der wird auch in der katholischen Kirche fündig. So wie Kevin Spicer, Professor für Geschichte am katholischen Stonehill-College in der Nähe von Boston.
"Im April 1929 schrieb der 21 Jahre alte Mann Maximilian T. an die Erzdiözese München-Freising: ‚Stimmt es, dass der katholische Klerus der allgemeinen Meinung ist, dass ein frommer Katholik kein Antisemit sein kann?‘ Mit dieser Frage offenbarte Maximilian den Konflikt, den er zwischen der Lehre seiner Kirche und seinen politischen Überzeugungen spürte."
Maximilian T. war 1927 in die NSDAP eingetreten und bezeichnete sich als Antisemit – und wollte es von seiner Kirche genau wissen. Auch die Antwort ist erhalten.
"Innerhalb einer Woche antwortete Pater Rudolf Hindringer, Sekretär von Kardinal Faulhaber, auf Maximilians Frage wie folgt: ‚Wenn Antisemitismus Hass gegen eine bestimmte Gruppe Menschen bedeutet, ist es gemäß der katholischen Morallehre nicht erlaubt.‘ Allerdings, so fuhr er fort, ‚ist es anders, wenn ohne Hass das Ziel verfolgt wird, dass eine Gruppe Menschen im Finanzsystem oder im staatlichen Beamtenapparat nicht mehr so einen großen Einfluss hat, der weder im proportionalen Verhältnis zu ihrer Zahl noch zu ihrer spirituellen Bedeutung steht.‘ Zitat Ende."
"Schlicht und einfach falsche Dinge werden da gesagt"
Die Antwort mit dem Stempel des Bischofs – eine ganz ähnliche Argumentation bekam ein Reporter zu hören, als er die Mutter des Attentäters von Halle interviewte. Ihr Sohn habe "nix gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen. Wer hat das nicht?" Der Historiker Kevin Spicer stieß in seinem Forschungsprojekt auf einige dieser Zeugnisse in der katholischen Kirche im Deutschland der späten Weimarer Republik: Hass war verboten – Ressentiments aber bis in den hohen Klerus verbreitet. Wie er im Interview nach seinem Vortrag erklärt.
Kevin Spicer: "Wenn Sie sich die Aussagen anschauen, die die katholische Führung getätigt hat, oder sogar theologische Autoren – nicht nur in Deutschland, auch in anderen europäischen Gesellschaften, anderen Kulturen und Traditionen – finden Sie Aussagen, die sehr wenig mit der jüdischen Tradition zu tun haben, schlicht und einfach falsche Dinge werden da gesagt. Es gab einen Mangel an Verständnis der jüdischen Traditionen, von jüdischer Kultur und jüdischem Leben."
Juden galten aus kirchlicher Perspektive als Christusmörder, dass Jesus selbst Jude war, spielte kaum eine Rolle. Die jahrhundertelange Tradition des Antijudaismus sei anschlussfähig gewesen für die völkische Rassenideologie der Nazis, die so manches Ressentiment zum Judenhass radikalisierten – etwa durch Karikaturen in der parteinahen Zeitung "Der Stürmer".
Spicer sagt: "In der Ausgabe vom 19. April '27 gab es zwei Titelzeichnungen – nebeneinander. Die eine zeigt Christus, der am Kreuz hängt und absichtsvoll in die Richtung des anderen Bilds schaut, eine gekreuzigte deutsche Jungfrau, gekreuzigt unter der Aufschrift: ‚Ecce Germania.‘ In den Ecken beider Zeichnungen sind jüdische Charaktere zu sehen. Der eine gekleidet in ein Gewand aus der Bibelära, der andere in einen Geschäftsanzug. Die Absicht des Zeichners war klar: Die Juden anzuklagen für Christi Tod und für Deutschlands wirtschaftlichen Niedergang. Diese Charaktere waren schon länger in den Köpfen der Deutschen."
Der polnische Klerus litt unter den Nazis
In seinem Vortrag auf der Tagung für Holocaustforschung "Lessons and Legacies" macht Kevin Spicer klar: Die Nazis lehnten den katholischen Glauben ab, aber sie nutzen für ihre eigene Heilslehre dessen Symbolik. Und manchmal erhielten sie auch Sympathiebekundungen. So glaubte etwa der österreichische Leiter des Deutschen Priesterkollegs in Rom Alois Hudal an die Verbrüderung von katholischer Kirche und Nationalsozialismus, ähnlich wie sich Teile der evangelischen Kirche unter dem Dach der "Deutschen Christen" mit dem NS-Regime verbunden hatten.
Doch nicht überall gingen die Nazis mit dem katholischen Glauben eine ideologische Allianz ein. Mancherorts bekämpften sie ihn erbittert. Der amerikanische Historiker Jonathan Huener von der University of Vermont zeigt das anhand des polnischen Distrikts, damals Warthegau genannt. Die Deutschen versuchten hier, nach dem militärischen Überfall 1939 den polnischen Widerstand zu brechen, indem sie gegen Kirchenvertreter vorgingen. Die dortigen Bischöfe wurden meist inhaftiert im Konzentrationslager Dachau, selbst für Nonnen gab es ein eigenes Arbeitslager – mit bis zu 615 Insassinnen. Eine der ersten Todesstrafen erhielt der Pfarrer Mateusz Sobotzki, der auch Bürgermeister seiner kleinen Stadt war und noch mit der Wehrmacht erfolgreich verhandelt hatte, damit nichts zerstört würde. Als man in seinem Haus eine Patronenhülse fand, machten die Deutschen kurzen Prozess.
Jonathan Huener sagt: "Sobotzky passte ins deutsche Stereotyp des agitierenden nationalistischen Priesters und wurde am 17. September in Breslau exekutiert. Dieses Foto hier wurde Sekunden vor seiner Exekution aufgenommen."
Im Warthegau räumten Nazis Kirchen aus, ließen polnische Inschriften schleifen und schlossen die meisten Gotteshäuser für Polen. Nur die Hälfte des Klerus überlebte die Besatzung.
"Die Reaktion des Papstes zur Situation in Polen war minimal. Im Laufe der ersten paar Jahre der Besatzung beschränken sich die wenigen öffentlichen Statements auf sehr vage Aussagen, sie verzichteten darauf, die Täter dieser Verbrechen zu nennen."
"Manchmal ist Schweigen Gold"
Warum schwieg Papst Pius XII. überhaupt öffentlich zum Holocaust? Ein Anruf bei Kirchenhistoriker Hubert Wolf aus Münster, der eine der vielen Hypothesen erläutert.
"Er wollte protestieren, hat aber gesehen, dass die holländischen Bischöfe protestiert haben und dass danach die Zahlen der Deportationen von Juden sogar noch hochgegangen sind. Also hat er es nicht gemacht in dem Bewusstsein, manchmal ist eben Schweigen Gold und Reden Silber", sagt Wolf.
Undatiertes Foto von Papst Pius XII.
Papst Pius XII. spielte während des Holocaust eine unrühmliche Rolle (dpa / picture alliance / Files)
Der Kirchenhistoriker hat viele Fragen. Und vom 2. März 2020 an kann er ernsthaft daran arbeiten, sie zu beantworten. Denn dann öffnen sich ihm und seinem Forscherteam die Archive des Vatikans zu Papst Pius XII.
Wolf erklärt: "Das sind zentrale Fragen, die jetzt nicht nur innerkirchlich von Bedeutung sind, sondern für den Religionsfrieden und die Weltgeschichte insgesamt, können hoffentlich aufgrund dieser neuen Quellen beantwortet werden."
Das brauche allerdings Zeit. Allein mit Probebohrungen wird Wolf die nächsten Jahre verbringen. Wichtig sei es ihm, betont Wolf, dass nicht nur Historikerinnen, sondern auch Theologen die Interpretation der Geschichte vornähmen.
"Man versteht ihn nur, wenn man sich klar macht: Es gibt das Kirchenrecht, und darin: cura animarum suprema lex – die Sorge um die Seelen der Katholiken ist das oberste Gebot für jeden Priester. Und Gott wird dich am Ende fragen, wie viel von dem hast du verloren? Wenn das der cantus firmus, der Hintergrund seines Denkens und Handelns ist – jetzt theologisch gesprochen – dann kommt er immer in einen Konflikt, wenn er sagt: Ich müsste eigentlich für die verfolgten Juden oder für andere verfolgte Menschen mehr tun, dann kommt er immer in einen Konflikt, weil er diese theologische Grundüberzeugung praktisch mit der Muttermilch aufgesogen hat."
Im Vatikan spielten die Opfer des Holocaust keine Rolle
Sühne leisten – das sollten die Hauptverantwortlichen des Nationalsozialismus in einem weltlichen Kriegsgericht, den sogenannten Nürnberger Prozessen. Der Vatikan war gegen diese Maßnahme, erläutert der Tiroler Zeithistoriker Gerald Steinacher.
"Die Kirchenspitze war natürlich nicht die ganze Kirche, es gab auch Meinungen, die dem widersprochen haben. Das muss man auch sagen. Aber die Kirchenspitze hat doch sehr stark die Nürnberger Prozesse und die Entnazifizierung mit Rache in Verbindung gebracht. Und das wurde aus christlicher Sicht sehr stark abgelehnt."
Gerald Steinacher ist dabei, die Nachkriegsgeschichte der Kirche systematisch aufzuarbeiten. Er durchforstete mehrere Jahrgänge des Osservatore Romano, der täglichen Verlautbarungen des Heiligen Stuhls. Die Opfer des Holocaust hätten keine Rolle gespielt. Viel stärker setzten sich Kirchenobere für eine Rehabilitierung der Täter des Nationalsozialismus ein.
"Es gibt zum einen den religiösen Grund, also sehr stark der Fokus auf christliche Erneuerung, Rechristianisierung der Gesellschaft, jetzt wo die Nazi weg sind, soll man die Millionen ehemaligen Nazianhänger wieder zurückbringen in die Herde, in die Kirche, und wieder aufnehmen. Und dann gab es ein stark politisches Motiv – und beide Motive überlagern sich sehr häufig: ein starker Antikommunismus."
Kriegsverbrecher wurden von Mönchen versteckt
Die Kirchen sahen sich gerade im besetzten Mitteleuropa als die einzigen Fürsprecher der Bevölkerung. Während der Vatikan Kampagnen fuhr gegen Entnazifizierungsmaßnahmen, ließ er Nazi-Größen eine Ehre zuteilwerden, die selten ist in der Kirchengeschichte: Die Wiedertaufe – für diejenigen, die während des NS aus der Kirche ausgetreten waren, aber die Kategorie "gottgläubig" im Ausweis führten.
"Man muss sich das ja vorstellen, in anderen Jahrhunderten, im 16. Jahrhundert wurden Leute, die sich wiedertaufen haben lassen, auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Nur nach '45 hat man auch Leute, die ehemals lutheranisch waren und während der Nazizeit dann "Gottgläubige", von denen die Wiedertaufe verlangt, und getauft. Das findet man bei einigen Kriegsverbrechern, ich habe das Beispiel Erich Priebke genannt."
Der ehemalige SS-Offizier Erich Priebke beim Verlassen einer Anwaltskanzlei in Rom im Juni 2007
Erich Priebke konnte erst spät für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden (picture alliance / ANSA / EPA / Claudio Peri)
SS-Führer Erich Priebke, verantwortlich für die Erschießung von 335 Zivilisten in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom, versteckt von Franziskanermönchen auf Geheiß des faschistischen Kirchenlehrers Alois Hudal, ließ sich heimlich zum Katholiken machen – um anschließend von Kirchenleuten einen falschen Pass zu bekommen und über die sogenannte Rattenlinie nach Argentinien zu fliehen.
Erst 1998 verurteilte ihn ein italienisches Gericht. Woher die große Gnade oder Sympathie mancher Geistlicher für Nazi-Größen rührte, das vermag Gerald Steinacher nicht zu beantworten. Klar ist: Erst im Jahr 2000 hat Papst Johannes Paul II. im März 2000 ein Mea Culpa im Namen der Katholischen Kirche gesprochen. 55 Jahre danach.