Wie kam es zur Offenlegung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche?
In Österreich sorgten 1995 Beschuldigungen gegen den Erzbischof von Wien, Kardinal Hans Hermann Groer, für Schlagzeilen, im selben Jahr gab er aus gesundheitlichen Gründen sein Amt auf. 2002 machte der "Boston Globe" öffentlich, dass im Erzbistum Boston Tausende Kinder und Jugendliche missbraucht worden waren, allein gegen einen Priester lagen 200 Beschuldigungen vor. Die Bistumsleitung hatte die Geistlichen versetzt und versucht, Gerichtsakten unter Verschluss zu halten. Der Erzbischof von Boston trat 2002 zurück. 2009 veröffentlichte Irlands Regierung einen Bericht über sexualisierte Gewalt in katholischen Einrichtungen.
Über Österreich, die USA und Irland wurde auch in Deutschland berichtet, aber erst der Brief von Klaus Mertes, damals Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, veränderte die Wahrnehmung. Ehemalige Schüler hatten Mertes von systematischem Missbrauch durch Patres in den 1970er und 80er Jahren erzählt. Der Rektor glaubte ihnen und bat in dem Brief andere Betroffene darum, sich zu melden. Die "Berliner Morgenpost" machte das Schreiben am 28. Januar 2010 bekannt.
Welche Fälle außer denen am Canisius-Kolleg gab es in Deutschland noch?
Bekannt wurden in Deutschland zunächst vor allem Fälle aus katholischen Internaten: Dies betraf besonders die Jesuitenschulen in Berlin, Bonn und St. Blasien, das Kloster Ettal in Bayern und die Regensburger Domspatzen. Die Deutsche Bischofskonferenz gab eine Studie zum Ausmaß der sexualisierten Gewalt in Auftrag. Diese scheiterte 2013 zunächst und wurde in einem zweiten Anlauf 2018 beendet.
Die MHG-Studie basiert auf den Personalakten der Bistümer. Demzufolge gab es in den Jahren 1946 bis 2014 3677 von sexuellem Missbrauch betroffene Kinder und Jugendliche, 1670 Priester gelten als Beschuldigte. Die Wissenschaftler betonen, dies sei nur das Hellfeld, die Dunkelziffer sei erheblich höher. Jeder 20. Priester gilt als Beschuldigter.
Wie hat die katholische Kirche, wie haben die Bischöfe reagiert?
Der damalige Vorsitzende der Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch, schwieg zunächst drei Wochen. Am 22. Februar 2010 bat er öffentlich um Verzeihung für die "abscheulichen Verbrechen". Die Bischofskonferenz ernannte einen Missbrauchsbeauftragten, bis heute hat Stephan Ackermann dieses Amt inne. Die Leitlinien zum Umgang mit Missbrauch, 2002 erstmals formuliert, wurden 2010 überarbeitet. Präventionsprogramme für kirchliche Mitarbeiter wurden aufgelegt.
2018, bei der Präsentation der MHG-Studie, zeigten sich die Bischöfe erneut erschüttert und baten um Vergebung. Als Risikofaktoren machten die Wissenschaftler männerbündische Machtstrukturen, eine problematische Sexualmoral und den Zölibat aus. Im Dezember 2019 hat der synodale Weg begonnen, eine Diskussion zwischen Laien und Bischöfen über diese Themen.
Welche Folgen hat der Skandal für die katholische Kirche und für die Betroffenen?
Die katholische Kirche verlor weltweit Ansehen und Glaubwürdigkeit. Hochrangige Geistliche, darunter die Kardinale George Pell und Philippe Barbarin, wurden gerichtlich verurteilt. In Deutschland stiegen die Austrittszahlen deutlich, 2018 verließen 216.000 Menschen die katholische Kirche. Betroffene mussten dafür kämpfen, in Kirche und Öffentlichkeit gehört zu werden.
Die schon 2010 von Betroffeneninitiativen geforderten Entschädigungen gibt es noch nicht. Die Kirche zahlt pro betroffener Person eine Summe zur Anerkennung des Leids von durchschnittlich 5.000 Euro.