Blitzschnell dringt der Heliumkern in den Körper ein, ein so genanntes Alphateilchen. Es ist ein mikroskopisch kleines Geschoss, das das Erbgut nachhaltig schädigen kann. Unter anderem löst es in der Zelle einen fatalen Schneeballeffekt aus.
Immer wenn es zu einer Strahlenbelastung kommt, dann kommt es in der Zelle zur Erzeugung von so genannten Sekundärelektronen, und zwar in sehr hoher Zahl. Es kommt ungefähr für ein einzelnes Alphateilchen z.B. zur Bildung von 104 Sekundärelektronen.
Ein Alphateilchen tritt eine Lawine von vielleicht 10.000 Elektronen los, sagt Professor Tilmann Märk vom Institut für Ionenphysik der Universität Innsbruck. Zwar sind diese Sekundärelektronen längst nicht mehr so schnell wie das Alphateilchen. Dennoch besitzen einige von ihnen noch genug Energie, um die Erbgutmoleküle anzugreifen und zum Teil sogar zu zerstören. Märk:
Jetzt war man bis vor kurzem der Meinung, dass ganz langsame Elektronen wahrscheinlich keine schädigende Wirkung haben, wo also das Elektron, wenn's mit dem Molekül stößt, keinerlei kinetische Energie mehr übertragen kann. Es kann also im Stoß nicht irgendwie zu Veränderungen im Molekül kommen. Wir haben uns aber jetzt die Frage gestellt: Ist es vielleicht doch möglich, dass auch diese sehr langsamen, energieschwachen Elektronen auch noch Schädigungen hervorrufen können?
Um das zu beantworten, bedienten sich Märk und seine Kollegen einer physikalischen Spezialmethode. In einem luftleer gepumpten Edelstahltopf stellten sie einen gasförmigen Strahl aus Uracil her. Uracil zählt zu den Bausteinen der RNA, einer Erbsubstanz ähnlich der DNA. Den Uracilstrahl kreuzten die Forscher mit einem Strahl aus überaus langsamen Elektronen - wesentlich energieärmer als der Elektronenstrahl in einer Fernsehbildröhre. Mit einem Spezialdetektor überprüften die Innsbrucker dann, ob die Uracilmoleküle das Rendezvous mit den schlappen Elektronen ungeschoren überstanden hatten oder nicht. Märk:
Und das überraschende Ergebnis in unseren Experimenten war, dass gerade diese Elektronen ebenfalls noch sehr starke Wirkung zeigen können. Sie können nämlich ein Uracilmolekül, aber auch andere solcher Bausteine für die DNA und RNA, sehr effektiv zerstören. Was hier passiert ist, dass die Elektronen keine kinetische Energie übertragen, dazu sind sie zu langsam. Aber diese Elektronen lagern sich an dieses Molekül an. Sie werden eingefangen.
Sobald das Elektron an das Uracil andockt, bringt es kraft seiner elektrischen Ladung die Bindungsverhältnisse im Molekül völlig aus dem Gleichgewicht. Das Uracil spaltet sich. Zu allem Überfluss entsteht dabei ein einzelnes Wasserstoffatom, Radikal genannt. Eine Art chemischer Hooligan, einzig drauf aus, durch die Zelle zu marodieren und weiteren Schaden anzurichten.
All das bedeutet: Die Entstehung von Strahlenschäden ist noch komplexer als sowieso schon angenommen. Nicht ganz klar ist allerdings, inwieweit sich die Ergebnisse aus Innsbruck auf die Verhältnisse in der lebenden Zelle übertragen lassen. Deshalb will Märk das Uracil nun unter realistischeren Bedingungen untersuchen - eingepackt in eine Hülle aus Wassermolekülen. Doch der Physiker denkt auch schon an eine mögliche Anwendung seiner Ergebnisse - und zwar für die Strahlentherapie bei Krebs. Märk:
Wenn man jetzt weiß, dass auch diese langsamen Elektronen wirksam sind, dann kann man vielleicht daran denken, in Zukunft die gezielt einzusetzen in der Strahlentherapie, um optimale Strahlenbelastungen in der Zelle zu bekommen. Und da gibt es auch einen netten Ansatz dazu: Es gibt eine Substanz, die heißt Promouracil. Das weiß man, wenn man dieses Molekül einbaut, dann kommt's zu erhöhten Strahlenschädigungen genau an der Stelle. Und wir haben jetzt auch Promouracil untersucht. Und da sehen wir, dass tatsächlich dieses Promouracil mit noch viel höherem Wirkungsgrad über diesen Mechanismus zerfällt.
Die Idee: Promouracil, eingebaut in einen Tumor, würde das Geschwür deutlich strahlungsempfindlicher machen. Der Krebs ließe sich dadurch gezielter bestrahlen, das gesunde Gewebe würde weitgehend geschont. Bleibt nur noch eine Frage: Wie kommt eigentlich ein Physiker dazu, sich mit biologischen Objekten wie dem Uracil zu befassen? Märk:
Das ist jetzt eine nette Frage. Sie geben mir Gelegenheit, hier meinen Lebenslauf auszubreiten.
Nun, um es kurz zu machen: Schon während des Physikstudiums erkor Tilmann Märk die Medizin zu seinem Nebenfach. Und nun, gegen Ende seiner Laufbahn, sah er die Gelegenheit, seine an sich für die Physik entwickelte Methode mit den langsamen Elektronen an einem medizinischen Problem anzuwenden - so wie es aussieht mit einigem Erfolg.