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Keep it small and simple

Recherche gilt als Grundtugend und wichtigstes Werkzeug eines jeden Journalisten: Je gründlicher, desto besser. Doch in den letzten Jahren hat gerade die Recherche in den Redaktionen gelitten: Knapper werdende Budgets, personelle Ausdünnung und größer werdender Zeitdruck sorgen dafür, dass die Recherche zunehmend in den Hintergrund tritt.

Von Michael Meyer | 27.12.2008
    Wenn es um die gründliche, aufdeckende Recherche geht, haben es US-amerikanischen Journalisten zumindest in begrifflicher Hinsicht leichter als ihre deutschen Kollegen: Für den in den USA gängigen Begriff "investigative reporting" fehlt bei uns eine allgemein bekannte Bezeichnung. "Investigativ" ist ein Wort, dass beispielsweise dem Textverarbeitungsprogramm "Word" unbekannt ist, und deswegen rot unterstrichen wird.

    "Recherche" gehört eigentlich zu den Kernkompetenzen eines jeden Journalisten, und sollte eine Selbstverständlichkeit sein. "So wie ein Fliesenleger Fliesen legt, muss ein Journalist recherchieren", sagte Hans Leyendecker von der "Süddeutschen Zeitung" in einem Interview. Im gleichen Zusammenhang stellte er fest, dass manche Redakteure unter Recherche bereits verstehen, "dass man ohne Hilfe der Sekretärin eine Telefonnummer findet". Der "aufdeckende Journalismus" ist in Deutschland ganz offensichtlich schwächer entwickelt als in den USA. Natürlich gab es die "SPIEGEL-Affäre" , oder den Korruptionsskandal bei der "Neuen Heimat" - auch der unlängst aufgedeckte Datenmissbrauch bei der Telekom ist ein Erfolg investigativ arbeitender Journalisten.

    Doch anders als in Deutschland hat "investigative reporting" in den USA einen anderen Stellenwert und blickt auf eine lange Tradition zurück. Nicht erst seit der Watergate-Affäre werden dort mit aufwändigen Recherchen die begehrten Pulitzerpreise gewonnen. Bereits 1975 hat sich in den USA der Berufsverband "Investigative Reporters & Editors" gegründet, dem heute über 4.000 Journalisten angehören.

    In Deutschland entstand erst 2003 der Verband "Netzwerk Recherche": Das Netzwerk versteht sich als Lobby für den in Deutschland vernachlässigten investigativen Journalismus und als Interessensvertretung für jene Journalisten, die, Zitat, " oft gegen Widerstände in Verlagen und Sendern intensive Recherche durchsetzen wollen".
    Schon vor vier Jahren konstatierte der Vorsitzende von "Netzwerk Recherche", Thomas Leif, in einem Interview:

    "Man muss ganz nüchtern bilanzieren: Recherche ist als journalistisches Prinzip out. Es ist eine spezifische Tugend, die in einigen Sonderredaktionen gemacht werden kann, es gibt bei den Lokalblättern Chefreporter, die ein bisschen mehr Freiraum haben, es gibt bei den Magazinen noch Ressourcen, aber: Wir müssen uns nichts vormachen, in der Regel ist das KISS-Prinzip angefragt: Keep it small and simple, und eine Produktion, die tagesaktuell ist, sowohl im Hörfunk, wie im Fernsehen - Lokalzeitungen: Ganz extrem, ich glaube, bei allen guten Einzelmöglichkeiten, haben recherchierende Journalisten es schwer, sie müssen es im Grund aus eigenem Engagement machen und können nicht damit rechnen, dass es bezahlt wird."

    Diese Analyse ist, wie gesagt, vier Jahre alt. Seitdem kämpft der Verband "Netzwerk Recherche" um bessere Arbeitsbedingungen für Journalisten, die mehr machen wollen, als nur "more of the same" - Artikel und Beiträge, die man dutzendfach auch woanders lesen kann.

    Aber wie ist die Lage heute? Hat sich die Situation gebessert oder verschlechtert? Thomas Leif:

    "Was neu ist, was wir vielleicht auch ein bisschen mit angestoßen haben, sind Spezialredaktionen, die mit Erfolg arbeiten, und da sieht man auch schon den Nukleus. Wenn man wie zum Beispiel beim SWR "Reporter und Reportagen" eine eigene Abteilung auflegt, ein erfahrener Rechercheur diese Abteilung leitet, dann werden beachtliche Ergebnisse beschafft. Was kann man daraus lernen? Offenbar ist das Fachprinzip ganz wichtig, also nicht der Journalist, der alle Themen jeden Tag macht, sondern der sich etwa für Terror und innere Sicherheit interessiert, der kriegt auf kurz oder lang bessere Informationen."

    Ein Problem, das von vielen Brancheninsidern regelmäßig thematisiert wird, ist die Ausbildung von Journalisten. Sie folgt von jeher keinem festgelegten Raster. "Journalist" kann sich jeder nennen.

    Dennoch gibt es aber so etwas wie einen "typischen" Lebenslauf eines durchschnittlichen deutschen Journalisten: Laut einer 2003 veröffentlichten Studie ist er demnach in der Regel männlich, Mitte vierzig und hat nach einem geisteswissenschaftlichen Studium ein Volontariat bei einer Zeitung oder einem Rundfunksender gemacht. Er ist meist fest angestellt, oder als freier Mitarbeiter beschäftigt. Daneben gibt es natürlich noch viele andere Berufsbiografien, etwa von Quereinsteigern, die während ihres Studiums noch gar nicht wussten, dass sie später einmal Journalist werden sollten.

    Siegfried Weischenberg, Professor für Journalistik an der Universität Hamburg meint, dass die Möglichkeit eines Quereinstiegs in den Beruf auch künftig gegeben sein wird:

    "Es ist kein Vorteil, aber es ist alternativlos, aber deswegen müssen wir auch in Kauf nehmen, das wir ein hohes Risiko eingehen, dass viele sich in dem Beruf tummeln, die überhaupt keine Ausbildung haben und da eigentlich auch nicht reingehören."

    Eine der vielen Möglichkeiten, Journalist zu werden, ist die mehrjährige Ausbildung an einer der rund ein Dutzend Journalistenschulen in Deutschland: Sie vermitteln - so ist man sich in der Branche einig - am besten das berufliche Rüstzeug, um in den Journalismus zu gehen.

    Am bekanntesten und renommiertesten sind die Henri-Nannen-Schule in Hamburg, die Axel Springer Akademie in Berlin und die Münchener Journalistenschule mit ihrer Außenstelle in Berlin. Die einem Verlag oder Rundfunkunternehmen angeschlossenen Schulen bieten meist eine Ausbildung an, die sich sehr stark an den Interessen und Bedürfnissen des jeweiligen Hauses orientiert - das ist nicht immer von Vorteil meint Siegfried Weischenberg:

    "Wir müssen das in Kauf nehmen, ich bin da aber nicht glücklich drüber. Ich halte die Ausbildungssituation in den USA noch immer für vorbildlich, wo inzwischen doch mehr als Hälfte der Journalistinnen und Journalisten über Journalism-Schools, also nicht betriebliche Einrichtungen in den Beruf kommen, das hat glaube ich zur Qualität des amerikanischen Journalismus beigetragen, und die ja doch zunehmende Privatisierung der Journalistenausbildung in Deutschland ist sicherlich problematisch. Sie führt dann auch dazu, dass die Leute relativ eingleisig auf ein bestimmtes Unternehmen hingeführt werden, ich wünsche mir eigentlich schon, dass diese Ausbildung, das ist ein großes Wort, unter gesellschaftlicher Kontrolle stattfindet, denn Journalismus ist ein Beruf mit großer gesellschaftlicher Verantwortung."

    An der Münchener Journalistenschule, und ihrer Tochter, der Berliner Journalistenschule, bemüht man sich genau darum: Eine möglichst breitgefächerte Ausbildung anzubieten. Die Schüler durchlaufen alle Mediengattungen, also Zeitung, Online, Radio und Fernsehen.

    Hier, im Pressehaus am Berliner Alexanderplatz, werden in einem jeweils fünfzehn-monatigen Lehrgang zwölf junge Journalisten ausgebildet, meist sind sie im Alter zwischen 25 und 27. Gänzlich unerfahren kommt hier keiner an die Schule, im Gegenteil: Meist haben die Bewerber schon ausführliche Erfahrungen gesammelt bei der Zeitung, im Radio oder Fernsehen.

    Was bewegt junge Menschen, den Beruf des Journalisten zu ergreifen? Die zwei Journalistenschüler Oda Tischewski und Kai Kupferschmidt erzählen:

    "An dem Beruf fasziniert mich: Ich möchte schreiben können, das hat mich eigentlich immer schon interessiert, ich habe auch während des Studiums schon geschrieben. Mein Schwerpunkt wäre dann Kultur/Feuilleton, so etwas. Ich glaube, für mich ist eigentlich die spannendste Sache am Journalismus das Abwechslungsreiche, dass man sich letztendlich jedes Mal wieder auf neue Themen einstellen kann, neue Themen recherchieren kann."

    Kai und Oda gehören zur 23. sogenannten "Lehrredaktion" der Berliner Journalistenschule, die 1989 ihre Arbeit aufnahm. Der Leiter der Schule, Manfred Volkmar sagt, dass die Ausbildung an der Journalistenschule eine Art "Aufbaustudiengang" ist, der einem Volontariat durchaus ebenbürtig ist. Und: Das Thema Recherche nimmt einen ganz wichtigen Platz ein, zwei Wochen lang lernen die Journalistenschüler nichts anderes als gründliche Recherche, per Telefon, Archiv, Internet, Art der Gesprächsführung und so weiter.

    Das Ergebnis einer Studie der Uni Leipzig, nach der das wichtigste Recherchemittel von Journalisten oft die Suchmaschine "Google" ist, kann Manfred Volkmar bestätigen: Viele Journalistenschüler verlassen sich seines Erachtens zu sehr auf die Recherche am Computer:

    "Da ist es in der Tat ein großes Aha-Erlebnis, wenn sie erleben, dass Google auch nur eine Suchmaschine ist, die ihre Vorzüge, aber auch ihre Risiken und Nebenwirkungen hat, das versuchen wir hier zu vermitteln, und in der Tat, da gibt es auch bei Leuten, die schon einen professionellen Hintergrund haben, ein hohes Maß an Unkenntnis. Zweitens ist mir aufgefallen: Der erste Weg morgens führt an den Rechner und nicht ans Regal, wo die Tageszeitungen liegen, das ist ja auch gut so, das wird man auch nicht ändern können, ich ertappe mich aber gelegentlich dabei, wie ich die Studenten von den Rechnern wegscheuchen muss und sie animieren muss, ihre Recherche mal vor Ort zu veranstalten. Ich karikiere das ein bisschen, ich sage dann immer: Ihr müsst nicht über eine Webcam oder übers Internet gucken, was auf dem Alexanderplatz los ist, oder in Berlin los ist - schaltet mal den Rechner aus, und redet mit den Leuten."

    Die beiden Journalistenschüler Kai Kupferschmidt und Oda Tischewski wirken aber nicht so, als würden sie nicht auf Leute zugehen können, sondern eher selbstbewusst und zielstrebig. Nach einem Jahr Ausbildung seien sie aber auch nicht mehr ganz so gutgläubig und sehen auch, dass Suchmaschinen wie "Google" dazu verführen, am Computer kleben zu bleiben:

    "Es ist ein Einstieg auf jeden Fall, wenn man sich jetzt völlig neu an ein Thema herantastet, dann ist es, gerade weil man auch viele Pressartikel über Google finden kann ein guter Start, das würde ich jetzt auch nicht so verteufeln wollen, aber es ist natürlich nicht der Schluss der Recherche, sondern der grobe Anfang. Ich glaube, es ist ein sinnvoller Anfangspunkt heutzutage, weil man unglaublich breit gefächert da auch Informationen kriegt, aber natürlich muss es weitergehen. Und gerade diese Hemmung abzubauen, um zum Telefon zu greifen, das ist natürlich eine der wichtigsten Sachen, die man lernt an der Journalistenschule, weil man einfach alles noch einmal überprüfen muss."

    Wie schwierig die Recherche manchmal im Alltag ist, davon können viele Journalisten erzählen, die schon einige Jahre im Beruf sind. All jene Geschichten, die eben nicht von heute auf morgen geschrieben sind, die einen höheren Rechercheaufwand haben, haben es schwer, auf die Seiten und in die Sender zu gelangen - auch wenn es natürlich nach wie vor Zeitungen und Zeitschriften, Radio- und Fernsehprogramme gibt, die lange Artikel über komplexe Themen drucken oder lange Sendeplätze zur Verfügung stellen. Bei den Zeitschriften sind dies vor allem die Hamburger Titel "Spiegel", "Zeit" und "Stern".

    Im Berliner Büro des "Stern", direkt am Ufer der Spree in Blickrichtung auf den Berliner Dom, arbeitet die fest angestelle Reporterin Frauke Hunfeld. Hunfeld hat sich seit einigen Jahren auf das Thema "Armut und Gewalt gegen Kinder" spezialisiert - ein Bereich, für das es viel Fingerspitzengefühl braucht, und auch Zeit, um den jeweiligen Fall gründlich zu recherchieren.

    Seit zehn Jahren beschäftigt sich Frauke Hunfeld nun schon damit, neben einer Reihe von Reportagen hat sie auch ein Buch über Armut und Gewalt in sozial schwachen Familien geschrieben. Für ihre Beharrlichkeit hat sie vor einigen Wochen sogar den Journalistenpreis "Der lange Atem" des Berliner Journalistenvereins bekommen.

    Das Genre, in dem Frauke Hunfeld arbeitet, die sogenannte "Sozialreportage", ist keines, für das man von allen Journalistenkollegen gelobt oder beneidet wird, im Gegenteil: Sie muss manchmal um Anerkennung für dieses Thema kämpfen:

    "Ich weiß, dass die sogenannte "Sozialkacke" nicht angesehen ist, auch bei Kollegen nicht angesehen ist, weil sie sich mit Menschen beschäftigt, die nicht aus dem Umfeld vieler Journalisten stammen, und sich manche Kollegen sich lieber mit intellektuelleren, angeseheneren Politikern, Professoren, Ärzten umgeben, und das ist auch völlig in Ordnung so, denn die Leute brauchen wir genauso, um Einblicke zu kriegen, aber wir müssen uns auch mit den anderen beschäftigen und brauchen auch die anderen. Und dafür bin ich dann zuständig."

    Um diese "Einblicke" zu bekommen, sagt Frauke Hunfeld, bedarf es einer gewissen Hartnäckigkeit, denn nur selten trifft sie bei ihren Recherchen auf offene, gesprächsbereite Interviewpartner:

    "Man hat mit Menschen zu tun, die etwas gemacht haben, was sie nicht tun dürfen, was man als falsch empfindet, also Totschlag von Kindern, oder Misshandlung von Kindern, und natürlich reden diese Leute nicht gerne darüber. Es geht ja auch oft darum, in Jugendämtern zu recherchieren, auch die reden ungern darüber, bei der Polizei, die dürfen zum Teil nicht darüber reden, und eben bis hin zur Prozessverfolgung. Man versucht natürlich das Umfeld der Opfer, das Umfeld der Täter, falls man das einteilen kann, das kommt auf die Geschichte an, zu recherchieren, aber das dauert eben."

    Beim "Stern" kann Frauke Hunfeld sich, je nach Geschichte, durchaus Zeit lassen - wenn es keine ganz aktuelle Story ist, die nächste Woche ins Heft muss, kommt es auch schon mal vor, dass die Recherche Monate benötigt, bevor der Artikel erscheint. Derartig luxuriöse Arbeitsbedingungen sind selten geworden in deutschen Redaktionen, der "Stern" leistet sie sich - noch.

    Aber: Auch der "Stern" muss Geld verdienen, das Heft muss sich verkaufen, die Geschichten müssen ansprechend sein. Gerade beim Thema Gewalt gegen Kinder läge es nahe, aus einem tragischen Fall einen reißerischen Artikel zu machen. Einige Schlagzeilen der Texte über misshandelte Kinder lauteten beispielsweise:

    "Von den Eltern misshandelt - Verprügelt, verbrüht, verwahrlost, verdurstet"

    oder:

    "Von aller Welt verlassen - Vier Kinder hausten monatelang in einer zugemüllten Berliner Wohnung"

    Das könne man reißerisch nennen, meint Frauke Hunfeld, jedoch sei es manchmal nötig, dies so deutlich zu schreiben, um den Lesern das ganze Ausmaß des Themas nahe zu bringen.

    "Reißerisch ist ein weiter Begriff, und klar ist, dass wir keine Intellektuellen-Debatten führen, auch nicht über solche Themen, sondern wir wollen Erwin und Lieschen Müller erreichen. Und deswegen ist es wichtig, dass man eine Geschichte so erzählt, dass man die Leute dort abholt, wo sie sind, wir wollen mit den Menschen reden. Deswegen sind wir auch manchmal gezwungen, den Menschen die Geschichten so zu erzählen, dass sie nicht nur intellektuell, sondern auch emotional berührt werden, und das ihnen klar ist, dass so etwas nicht nur verboten ist, sondern dass ihnen klar ist, was nicht heißt, dass man diese Geschichten eindimensional macht, diese ganzen "Die Horrormutter" und "Der Rabenvater", diese ganzen Geschichten, das ist der erste Anschein und dann muss man fragen, woher kommt so etwas."

    Um einzutauchen in die wirkliche Welt, die nicht immer das normale Umfeld von Journalisten ist, gehen manche Journalisten in ihrer Recherche noch weiter - sie betreiben die "Undercover-Recherche" - das sich Verkleiden, das Schlüpfen in eine neue Person, die Erfahrung am eigenen Leib spüren, um hinterher darüber zu schreiben.

    Der, wenn man so will, Begründer dieser Art der Recherche ist Günter Wallraff. Mittlerweile ist Wallraff 66 Jahre alt - aber immer noch aktiv. In den nächsten Monaten wird es gleich mehrere neue Reportagen von ihm geben, und im Sommer 2009 sogar einen Kinofilm. Was weniger bekannt ist, ist die Tatsache, dass er eigentlich durch einen Zufall in die Rolle des "Inkognito"- Rechercheurs geschlüpft ist:

    "Ursprünglich konnte ich ja noch unter meiner Identität, meinem richtigen Namen in Fabriken arbeiten, in Obdachlosenasylen leben, bis ich dann zu bekannt wurde, und die Veröffentlichungen in Gewerkschaftszeitschriften der IG Metall, über eine Million Auflage, da gab es von Unternehmerseite einige Beunruhigung, und man ging dazu über, in Form von Steckbriefen davon abzuraten, mich weiter einzustellen. Und das lag dann in Personalbüros, gerade von Großkonzernen aus, und fortan musste ich mir schon mal eine andere Identität ausleihen, andere Arbeitspapiere, und auch mein Aussehen entsprechend verändern. So hat das begonnen, also eigentlich war das ursprünglich gar nicht die Absicht, ein anderer zu werden, sondern Notwehr, würde ich sagen."

    Wallraffs Reportagen und Bücher füllen seit nunmehr 40 Jahren ganze Regale - er war "Ali" bei der Thyssen AG, arbeitete inkognito bei McDonald's, war Polizeireporter "Hans Esser" bei der "Bild"-Zeitung, reiste in den 70er Jahren während der Militärdiktatur nach Griechenland - und machte in letzter Zeit durch Reportagen über Call-Center und in einer Backfabrik, die für die Discounterkette Lidl produziert, auf Probleme in der Arbeitswelt aufmerksam. Diese zum Teil sehr anstrengenden Recherchen verlangen einem viel ab, sagt Wallraff, und der erste Schritt sei, erst einmal zu vergessen, dass man Journalist ist:

    "Man muss zu dem werden, man muss einer von denen werden, mit deren Augen auch das sehen, und auch so empfinden. Da brauch man viel Zeit zu, und, das ist auch beschwerlich, aber es entschädigt auch. Man bekommt eine neue Zugehörigkeit, man lernt Menschen kennen, denen man sich sehr nah fühlt, man gewinnt später Freunde. Also: Ich würde sagen, es bedarf Empathie, manchmal auch sich selbst vergessen, und auch sich Entäußern. Das ist auch ein Lernprozess: Ich komme aus jeder Rolle gestärkt hervor, ich lern die Welt neu sehen, wie ein Kind kann ich mir auch jede Frage erlauben, ansonsten sind das in den Niederungen der Gesellschaft auch Entbehrungen, und gerade wenn man es über längere Zeit macht."

    Wallraffs Erfahrung ist: Ein Recherche dieser Art darf nicht zu kurz und nicht zu lang sein - wenn man zu lange eine solche Rolle spiele, werde man "betriebsblind", wie er sagt. Ein Nachteil fast aller Veröffentlichungen von Wallraff seien die anschließenden Prozesse, das sei immer die "Begleitmusik" zu seiner Arbeit gewesen. Heute reagierten viele Unternehmen, die öffentlich kritisiert werden, professioneller.

    Ein nicht zu unterschätzendes Hindernis für Recherchen dieser Art sind die Verhältnisse in den Medien, meint Wallraff:

    "Ich würde mal sagen in den Medien ist immer weniger Spielraum, immer weniger Sendezeit, in den Zeitungen ist immer weniger Platz. Aber die Bereitschaft bei jungen Journalisten erleb ich doch recht häufig. Ich bekomme ständig Zuschriften, Besuche von Jüngeren, die das gerne machen möchten, zum Teil auch von mir Tipps holen, sich beraten lassen. Ich erlebe sehr viele, die es gerne machen möchten, aber in ihren Medien die Möglichkeit nicht finden."

    Einer derjenigen, der sich Günter Wallraff zum Vorbild nahm, und schon ausführliche Erfahrungen mit Undercover-Reportagen sammeln konnte, ist Markus Breitscheidel.

    Breitscheidel, 41 Jahre alt, deckte bereits vor acht Jahren die zum Teil skandalösen Zustände in deutschen Altenheimen auf. Sein damaliges Buch hieß "Abgezockt und totgepflegt". Es war wochenlang auf den Bestsellerlisten. Seine jüngste Recherche führte ihn anderthalb Jahre lang in die Welt der Leiharbeiter, auch diese Recherche verarbeitete Breitscheidel zu einem Buch, diesmal mit dem Titel "Arm durch Arbeit". Breitscheidel hat für dieses Buch inkognito als Leiharbeiter in verschiedensten Jobs gearbeitet, etwa beim Autohersteller Opel und bei Bayer/Schering.

    Breitscheidels Beobachtungen unter Realbedingungen bestätigen, was Gewerkschaften seit Jahren behaupten: Mit sieben EUR Bruttolohn kommt man kaum über den Monat, und manche Arbeitsbedingungen gleichen moderner Sklavenarbeit. Vor einigen Wochen lief in der ARD auch eine Reportage über seine Erfahrungen als Leiharbeiter bei den Firmen Opel und Bayer. Für die Reportage in der ARD hatte Breitscheidel eine versteckte Kamera mitlaufen lassen, die er jedoch nicht immer mitnehmen konnte. Nach Feierabend sprach Breitscheidel seine Eindrücke in die laufende Videokamera:

    "Im stetigen Wechsel zwischen Spät-, Nacht- und Frühschicht habe ich gearbeitet, und heute kam die erste Abrechnung, und das ist unvorstellbar. Im ersten Monat 529 EUR und 31 Cent netto bar auf die Hand. Das reicht gerade für die Fahrkarte und das reicht gerade, um die Miete zu bezahlen."

    Und was ist mit dem Abstand, den man als Journalist wahren muss, jenem "Sich-nicht-gemein-machen" mit einer Sache, wie es der TV-Journalist Hanns-Joachim Friedrichs ausdrückte? Wie viel Distanz ist nötig und wie viel möglich bei einer solchen Recherche? Markus Breitscheidel:

    "Also diese Ratschläge, immer diesen Abstand zu wahren, ist für das tagtägliche Geschäft natürlich nützlich und genau die richtige Methode. Nur: Hier sprechen wir ja eben von einer Langzeitrecherche, also, durch die Länge dieser Recherche ist es eben nicht mehr möglich diesen Abstand zu halten, und ich möchte den auch nicht."

    Doch nicht jeder kann sich so lange an ein Thema setzen - "undercover" zu recherchieren, ist nicht zuletzt auch eine Zeit- und Geldfrage. Insofern gibt Markus Breitscheidel jungen Nachwuchsjournalisten, die sich ebenfalls "undercover" mit einem Thema beschäftigen wollen, folgenden Rat mit auf den Weg:

    "Ich habe bei beiden Themen, die ich angegangen habe, immer im Vorhinein Abweisungen bekommen, und hab gesagt bekommen: Das lässt sich nicht verkaufen, und mittlerweile ist das für mich ein Indiz, genau diesem Thema nachzugehen, und vielleicht kann man den Tipp weitergeben."

    Um "Undercover"-Reportagen dieser Art auch künftig zu ermöglichen, wird Günter Wallraff eine Stiftung gründen - die Gespräche mit Gewerkschaften und weiteren Geldgebern laufen derzeit. Denkbar wäre auch, sagt Wallraff, ein Preis für die beste "Undercover"-Reportage, der regelmäßig vergeben werden könnte.

    Doch auch um die "normale", nicht verdeckt ablaufende Recherche steht es nicht gut. Die derzeitige "Medienkrise", die etliche Verlage von der WAZ bis zur Süddeutschen Zeitung Kürzungsmaßnahmen und Sparrunden auflegen lässt, sei ein weiteres Indiz dafür, dass der investigativen Recherche zumindest keine besseren Zeiten bevorstehen, meint der Hamburger Journalistik-Professor Siegfried Weischenberg:

    "Man muss da eine grundsätzliche Bemerkung machen, und die lautet: Das Jahrhundert des Journalismus ist vorbei. Das heißt: Die Zeit, als sich Qualitätsjournalismus, auch Recherchejournalismus über den Markt, über Anzeigen, problemlos refinanzieren ließ, ist wahrscheinlich unwiederbringlich vorbei. Das heißt nicht, dass es das Ende des Journalismus gibt, aber eine bestimmte Art der Refinanzierung wird immer schwieriger, und deswegen vertrete ich schon seit längerem die Auffassung, dass wir uns in dieser Gesellschaft ernsthaft Gedanken machen, wie wir jenseits des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, also insbesondere für den Printbereich, Qualitätsjournalismus sicherstellen können, und da fällt mir eigentlich nur ein, dass wir über Formen natürlich staatsferner Subvention, über Stiftungen usw. nachdenken müssen, und das wäre dann auch die Aufgabe dieser Stiftungen den Recherche-Journalismus zu retten."